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Tot- und Fehlgeburten sind in Deutschland noch immer ein Tabuthema.

© Foto: dpa/David Ebener

Kein Mutterschutz nach Fehlgeburt : Betroffene Frauen klagen vor Bundesverfassungsgericht

Wenn eine Schwangerschaft vor der 24. Woche endet, besteht kein Anspruch auf Mutterschutz. Betroffene Frauen haben sich nun an Karlsruhe gewandt.

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Eine Fehlgeburt in der 21. Woche. Ein Kaiserschnitt, Milcheinschuss, der medikamentös unterbunden werden muss, Wochenfluss, Wochenbett. All das hat Anna, die nicht mit vollem Namen genannt werden möchte erlebt. „Nur weil mein Kind danach nicht mit mir nach Hause gekommen ist, bleibt es dennoch eine Geburt“, sagt sie. Nach aktueller Rechtslage in Deutschland hätte sie dennoch direkt am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen müssen.

Wer sein Kind bis zum Ende der 23. Woche der Schwangerschaft verliert, hat keinen Anspruch auf Mutterschutz. Eine schwangere Frau, die dieselbe Diagnose nur einen Tag später, zu Beginn der 24. Schwangerschaftswoche erhält, hat dagegen ein Anrecht auf 18 Wochen Mutterschutz. Der Anspruch hängt bisweilen also auch vom Zufall ab, von einem Arztbesuch am Freitag oder am Montag.

So makaber es klingen mag: Entscheidend ist bei der Bestimmung des Mutterschutzes außerdem das Gewicht des Kindes. Nach der Geburt wird es gewogen, wenn das tote Baby 500 Gramm oder mehr wiegt, erhält die Mutter auch schon vor der 24. Schwangerschaftswoche Mutterschutz.

70.000
Menschen haben bisher eine Petition für gestaffelten Mutterschutz unterschrieben.

Anderenfalls liegt im rechtlichen Sinne keine Tot-, sondern eine Fehlgeburt vor, die keinen nachgeburtlichen Mutterschutz auslöst. Die Ampel hat das Thema auf der Agenda. Im Koalitionsvertrag steht, dass der Anspruch auf Mutterschutz nach einer Fehlgeburt auf die 20. Woche vorgezogen werden soll.

Viele betroffene Frauen halten weder die aktuelle noch die geplante Regelung für medizinisch oder ethisch begründbar. Dass sie nach ihrer Fehlgeburt etliche Ärzt:innen habe abklappern müssen, bis sie schließlich krankgeschrieben worden sei, sei eine Zumutung gewesen, sagt Natascha Sagorski. „Eine Krankschreibung brauchen sie ja nicht, morgen können sie wieder arbeiten, sagte die Ärztin nach der Ausschabung zu mir.“

Zunächst habe sie gedacht, sie habe bloß eine unsensible Ärztin erwischt. „Dann habe ich angefangen zu recherchieren und gemerkt, dass das ein strukturelles Problem ist.“ Sagorski gründete den Verein Feministische Innenpolitik und rief eine Petition für gestaffelten Mutterschutz ins Leben, die bereits mehr als 70.000 Menschen unterschrieben haben.

Die aktuelle Regelung ist eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen Frauen, die nach der 23. Schwangerschaftswoche ein totes Kind zur Welt bringen.

Remo Klinger, Verfassungsrechtler

Jetzt lässt sie prüfen, ob der Status quo eine Diskriminierung von Müttern totgeborener Kinder darstellt und verfassungswidrig ist. Insgesamt vier Frauen, eine von ihnen Anna, haben, mit Unterstützung des Vereins Verfassungsbeschwerde vor dem in Karlsruhe erhoben.

Der Verfassungsrechtler Remo Klinger, dessen Berliner Kanzlei Prozessbevollmächtigte in dem Verfahren ist, ist von der Verfassungswidrigkeit der aktuellen Rechtslage überzeugt. Zunächst habe er gedacht, die Mutterschutzgesetze seien ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, als es noch hieß, „jetzt hab dich nicht so“.

Die Berliner Kanzlei des Verfassungsrechtlers Remo Klinger ist Prozessbevollmächtigte in dem Verfahren.

© Foto: Imago Images/Reiner Zensen

Aber der Gesetzgeber sei sich des Problems bewusst, das Gesetz stammt aus dem Jahr 2017. Obwohl der Gesetzgeber anerkannt habe, dass ein Kündigungsschutz bereits ab der zwölften Schwangerschaftswoche wegen der besonderen Situation der Frauen erforderlich und angemessen sei, gewähre er ihnen keinen Mutterschutz. „Das ist widersprüchlich“, sagt Klinger.

Viele betroffene Frauen geraten in einen arbeitsrechtlichen Loyalitätskonflikt

Im Ergebnis trete die Situation ein, dass den Frauen zwar nicht gekündigt werden könne, wenn sie am Tag der Fehlgeburt nicht zur Arbeit gingen, sie sich aber gleichwohl arbeitsrechtswidrig verhielten. Das brächte viele Frauen in einen arbeitsrechtlichen Loyalitätskonflikt. „Die aktuelle Regelung ist eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen Frauen, die nach der 23. Schwangerschaftswoche ein totes Kind zur Welt bringen.“

Denn die besonderen Belastungen, die mit der Schwangerschaft und dem Tod des Kindes zusammenhängen, träten weit vor der 24. Woche ein. Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft, heißt es in Artikel 6 Absatz IV des Grundgesetzes. Diesen Grundsatz sieht Klinger verletzt.

Für eine Änderung der Rechtslage plädiert auch Mandy Mangler, Chefärztin der Klinik für Gynäkologie am Vivantes Klinikum Neukölln. „Medizinisch ist eine kleine Geburt auch eine Geburt und hat körperliche Implikationen“, sagte sie dem Tagesspiegel. „Man hat die körperlichen Veränderungen, kein Baby, Trauer, Beziehungskraft, die notwendig ist.“ Frauen die das erlebt haben, sollten auf jeden Fall einen Mutterschutz bekommen, vielleicht gestaffelt, meint Mangler.

Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft, heißt es im Grundgesetz

Natascha Sagorskis Ziel sei es, ein Angebot für die Frau zu schaffen, nicht die Verpflichtung, zuhause zu bleiben. „Ob eine Frau sich in der Lage sieht sofort wieder zu arbeiten, soll sie selbst entscheiden dürfen, statt der Willkür und der subjektiven Einschätzung von Ärzt:innen ausgeliefert zu sein.“

Es gehe ihr nicht darum, vor Gericht Recht zu bekommen. „Noch besser wäre es, wenn die Politik vorher aktiv werden würde.“ Ist das realistisch?

Ob es über die aktuell geplanten Änderungen hinaus einer Staffelung bedürfe, darüber würden Gespräche geführt, sagte Leni Breymaier, Sprecherin der Arbeitsgruppe Familie, Senioren, Frauen und Jugend der SPD im Bundestag, im Gespräch mit dem Tagesspiegel.

„Da kommt nicht morgen der Entwurf. Das ist eine komplexe Angelegenheit, die auch arbeits-, sozial, gesundheits- und medizinpolitische Komponenten enthält.“ Sie sei sich jedoch bewusst, dass Fehlgeburten auch vor der 24. Schwangerschaftswoche oft mit Traumatisierungserfahrungen und körperlichen Beeinträchtigungen einhergingen.

„Jede dritte Frau erleidet eine Fehlgeburt. Es ist sehr wichtig, das Thema an die Öffentlichkeit und mehr in den Fokus der Gesellschaft zu stellen.“ Ob der gestaffelte Mutterschutz komme, werde sich zeigen. „Dass Initiativen sich intensiv mit diesem sensiblen Thema auseinandersetzen, ist in jedem Fall richtig.“

Nina Stahr, Sprecherin für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung sowie Mitglied im Ausschuss für Familie, Senior:innen, Frauen und Jugend der Grünen begrüßt die Klage der Frauen vor dem Bundesverfassungsgericht. „Momentan sind Frauen in dieser vulnerablen Situation bei weitem nicht ausreichend geschützt - wenn der Mutterschutz noch nicht greift, müssen viele um eine Krankschreibung kämpfen“, sagte sie dem Tagesspiegel. „Es ist in der Verantwortung des Staats, Frauen ausreichend zu schützen und dafür auch zu prüfen, ob der Status Quo ausreichend ist.“

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