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Menschen gehen im Stadteil Podil aus und genießen Getränke.

© Andreas Stein/dpa

Eine Stadt der Kontraste: Kiew versucht, den Krieg in diesem Sommer zu vergessen

Tagsüber sitzen die Kiewer wieder in Cafés und Eisdielen, gieren nach Normalität. Mit Einbruch der Dunkelheit kommen die Sorgen zurück. Ein Ortsbesuch.

Die Dame an der Hotelrezeption legt als Erstes eine Verpflichtungserklärung vor, die zu unterschreiben ist. Wenn man hier sterbe oder verletzt werde, „dann liegt das in der Verantwortung des Aggressor-Landes und nicht der Hotelleitung“. Dann erklärt sie, wo sich der Schutzraum befindet. Falls es Luftalarm gebe. Wie oft das derzeit vorkomme? „Nun, das hängt von Putin ab“, antwortet sie. „Unglücklicherweise.“

Willkommen in Kiew, in Zeiten des Krieges, in einer Stadt der Kontraste. Die U-Bahnen sind voll. Die amerikanische Fast-Food-Kette KFC hat wieder geöffnet, McDonald’s ist noch dicht. Cafés öffnen auch wieder, Eisdielen, ein Dudelsackspieler erfreut die Menschen, die am Goldenen Tor von Kiew in der Sonne sitzen.

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Ein Geschäft hat das Sortiment auf Solidarität mit den Kriegshelden umgestellt, den eigenen natürlich. Es gibt zum Beispiel T-Shirts mit Traktoren, die russische Panzer abschleppen, „proudly made in Ukraine“. Die Kiew Food Plaza hat wieder geöffnet, sie erinnert an schicke Berliner Markthallen mit gutem Essen, großem Weinangebot und Craft-Bier. Am Abend gut gefüllt. In der Oper werden wieder die ersten Konzerte gegeben.

Tagsüber versucht Kiew den Krieg zu vergessen, bei Luftalarm gehen viele gar nicht mehr in die Bunker und Schutzräume. Zugleich sind wichtige Regierungsgebäude hermetisch abgeriegelt. Sandsäcke vor den Fenstern, Betonsperren, schwer bewaffnete Soldaten patrouillieren.

Eine neue Militärattraktion

Am Michaelplatz, im Schatten des berühmten Klosters mit den goldenen Kuppeltürmen, sind zerstörte, erbeutete russische Panzer und Raketenwerfer aufgestellt. Hinweistafeln erklären, wo die jeweilige Waffe erobert wurde, etwa eine 152-mm-MSTA-S-Haubitze, die in der Region Sumy im Juni zerstört worden sei, mehr als 50 dieser Geräte hätten die Russen seit Kriegsbeginn schon verloren.

[Lesen Sie auch: Interview mit Selenskyjs Berater: „Wenn Russland gewinnt, dann werden sie nicht bei der Ukraine stoppen“ (T+)]

Der Kriegsschrott soll die Bürger motivieren, er soll belegen, dass der Krieg gegen Russland zu gewinnen ist. Die Ausstellung, eine Idee des Verteidigungsministeriums, hat sich zu einer Attraktion entwickelt. Kinder klettern darauf herum, Väter und Mütter machen Fotos.

1200 Dollar Sold für neue Soldaten

Daneben sind Sandsäcke zu einem Turm aufgestapelt, in roter Schrift ist zu lesen: „World help us.“ Es ist ein Mahnmal. Zettel sind daran angebracht, auf Englisch und Ukrainisch wird dringend um neue Soldaten geworben, „jeden Alters und Geschlechts“. 1200 Dollar im Monat beträgt der angebotene Sold.

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Überall wird zudem den Kämpfern im Azowstalwerk in Mariupol gedankt, die dort wochenlang ausharrten und sich am Ende doch ergeben mussten. Viele von ihnen wurden getötet. An der anderen Seite des Michaelplatzes hängen an einer Mauer auf Hunderten Metern Länge Bilder mit allen seit 2014 getöteten Ukrainern – die seit dem 24. Februar 2022 gestorbenen Soldaten sind da noch gar nicht dabei.

Die Regierung hat erbeutete und zerstörte russische Panzer in Kiew ausstellen lassen.
Die Regierung hat erbeutete und zerstörte russische Panzer in Kiew ausstellen lassen.

© Tagesspiegel/Georg Ismar

„Wir zeigen Putin: Nein“

„Du kannst nicht die ganze Zeit im Krieg leben, Du brauchst Deine Insel der Normalität“, sagt Roman Wybranowskyj, der in der Kiew Food Plaza abends ein Bier trinkt und für ein Verkehrsunternehmen arbeitet. „Das sagen alle Psychologen, alle Soldaten. Die Russen wollen uns mit ihrer Kriegsführung dazu zwingen, dass wir verzweifeln. Und wir zeigen Putin: Nein.“ Deshalb sei auch er vor Kurzem ganz bewusst mit seiner Frau aus dem sichereren Lwiw in der Westukraine nach Kiew zurückgekehrt.

Er zieht sein Smartphone aus der Tasche und zeigt ein Video davon, als in den ersten Kriegstagen der Fernsehturm in der Hauptstadt bombardiert wurde. Die Familie wohnt um die Ecke. Auf dem Video ist ein Feuerball zu sehen. Damals drohte der Verlust der Heimat – und Schlimmeres. „Jetzt machen dort wieder neue Cafés auf.“

Sandsäcke schützen wichtige Kulturgüter in Kiew.
Sandsäcke schützen wichtige Kulturgüter in Kiew.

© Tagesspiegel/Georg Ismar

Irpin - hier ist Normalität noch fern

Wie nah die Katastrophe war, zeigt sich keine 30 Kilometer entfernt, in Vororten wie Irpin, wo die Menschen an diesem Tag inmitten der Ruinen auf den Bus warten. Der Schutt wird nach und nach weggeräumt, es ist ein weiter Weg zurück hier zu einer gewissen Normalität. Erst Recht in Butscha.

Die russischen Angreifer kamen Kiew sehr nah, unterschätzten aber die Reaktionskraft und den Widerstand der ukrainischen Armee. Auch die von der ukrainischen Armee zerstörten Brücken, die halfen, den Vormarsch der Russen zu stoppen, sind zum Großteil wieder repariert, die Bahn kann die Vorortstädte wie Irpin wieder wie gewohnt anfahren.

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Kein Ort in Kiew ist symbolischer als der Maidan, der Platz der Unabhängigkeit. Bunte Blumen blühen in den Beeten und ein Meer aus blau-gelben Fahnen grüßt die vorbeiflanierenden Passanten. Doch auch hier hängen überall „Military Recruiting"-Aufrufe. Die Stimmung ist – wie selbst an den schönsten Ecken der Stadt – vor allem eins: ernst.

Ein Skateboardfahrer umkurvt mit hohem Tempo Barrikaden aus Sandsäcken, eine Rentnerin versucht mit dem Verkauf von blau-gelben Solidaritätsbändchen Geld zu verdienen.

Immer wieder wird man gefragt, ob die Unterstützung in Deutschland anhalten wird, es wird befürchtet, dass Putins Gaspolitik das Interesse am Krieg, die öffentliche Unterstützung für weitere Waffentransporte und westliche Sanktionen schwinden lassen könnte. Und dass Russland auf lange Sicht das Blatt zu seinen Gunsten wenden und dann auch wieder nach Kiew greifen und es bombardieren könnte.

Den Krieg vergessen: Zwei Frauenn sitzen mit einem Glas Wein am Strand und beobachten den Sonnenuntergang über dem Fluss Dnepr.
Den Krieg vergessen: Zwei Frauenn sitzen mit einem Glas Wein am Strand und beobachten den Sonnenuntergang über dem Fluss Dnepr.

© David Goldman/AP/dpa

Mit der Ausgangssperre ändert sich das Leben

Viele haben ihre Arbeit verloren, schlagen sich durch, ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl ist spürbar. Einige versuchen, Putin auf ihre Art die Stirn zu bieten. In einem Café, das Spezialitäten der Krimtartaren wie Tschebureki – frittierte Teigtaschen – anbietet, ist auf der Toilette in der Kloschüssel das Bild von Putin eingelassen worden. Ebenso auf den Stufen der Eingangstreppe, jeder Gast muss auf sein Gesicht treten, will er den Laden betreten.

Tagsüber lässt sich der Krieg etwas vergessen, mit Einbruch der Dunkelheit weniger. Dann wird Kiew zum Schutz vor Angriffen dunkel, ab 23 Uhr gilt eine Ausgangssperre. So ist es ein Sommer der Hoffnung und zugleich der Sorge. Ein Einwohner sagt: „Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben. Die Tschetschenen haben den Russen zunächst auch einen heroischen Kampf geliefert. Dann haben sie sich neu organisiert und umso härter zurückgeschlagen.“

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