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Vor allem die Unterbringung ist problematisch.

© REUTERS

Flüchtlingskrise: Kommen wirklich 1,5 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland?

Die Prognosen werden immer wieder korrigiert. Nun ist schon von 1,5 Millionen Flüchtlingen allein in diesem Jahr die Rede. Wie ist das zu bewältigen?

Eine Zahl hat Deutschland aufgeschreckt. Eine neue Zahl zur möglichen Entwicklung in der Flüchtlingskrise. 1,5 Millionen Menschen, so heißt es nun, könnten in diesem Jahr in Deutschland Schutz suchen. Allein in den kommenden drei Monaten sollen demnach mehr als 900.000 Flüchtlinge kommen, weitere Millionen in den kommenden Jahren durch den Nachzug ihrer Familienangehörigen. Das würde alle bisherigen Erwartungen weit übertreffen.

Wie kommt es zu der neuen Prognose der Flüchtlingszahlen?

Die Zahl von 1,5 Millionen Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland kommen könnten, stammt angeblich aus einem geheimen deutschen Behördenbericht, über den die „Bild“-Zeitung am Montag berichtete. In dem Papier werde vor einem möglichen „Zusammenbruch der Versorgung“ gewarnt, heißt es. Denn bereits jetzt seien dringende Hilfsmittel wie Wohncontainer und sanitäre Einrichtungen in ausreichender Zahl kaum noch zu beschaffen. Auch der Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns, Lorenz Caffier (CDU), erwartet in diesem Jahr insgesamt 1,2 bis 1,5 Millionen Flüchtlinge in Deutschland, wie er der „Welt am Sonntag“ sagte.

Das Bundesinnenministerium bestätigte die neue Zahl am Montag indes nicht. Es gelte die letzte offizielle Prognose, die von rund 800 000 Asylbewerbern für das laufende Jahr ausgehe, sagte ein Sprecher. Eine neue Prognose sei derzeit nicht geplant. Damit schloss er allerdings nicht ausdrücklich aus, dass die Zahlen vor Jahresfrist doch noch korrigiert werden könnten. Auffallend ist zudem, dass das Innenministerium die Zahlen der im September registrierten Flüchtlinge zurückhält. Sie sollen „in dieser Woche“ veröffentlicht werden, teilte das Ministerium mit. Im August waren die Zahlen bereits am 31. des Monats auf Anfrage herausgegeben worden. Schätzungen zufolge kamen im September zwischen 200.000 und 300.000 Flüchtlinge.

Wie realistisch ist die neue Zahl von 1,5 Millionen Flüchtlingen?

Grundlage für die Prognose ist die Annahme, dass in den letzten drei Monaten des laufenden Jahres rund 920.000 Flüchtlinge die deutschen Grenzen passieren. Dass würde bedeuten, dass die Zahlen im Vergleich zum September noch einmal ansteigen. Tatsächlich sind diese in den vergangenen Jahren zum Winter hin allerdings meist eingebrochen – vor allem weil die Wetterbedingungen Überfahrten in der Ägäis oder über das westliche Mittelmeer dann viel seltener zulassen. Noch ist ein Umschwung aber nicht zu beobachten. Der Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) sagte am vergangenen Freitag, die Zahl der Flüchtlinge, die von der Türkei aus nach Griechenland übersetzten, sei „unverändert hoch“.

Rund 5000 Menschen kämen täglich mit Booten auf griechischen Inseln an. Bereits im September habe es allerdings einige Tage gegeben, an denen aufgrund widriger Wetterbedingungen nur 1500 bis 2200 Flüchtlinge die Überfahrt gewagt hätten. Von Griechenland aus machen sich die Flüchtlinge dann über Mazedonien und Serbien auf in Richtung EU. Die meisten kämen nach nur wenigen Tagen in Serbien an, sagte eine UNHCR-Sprecherin in Belgrad dem Tagesspiegel. „Noch sind es zwischen 4500 und 5000 Menschen täglich.“

Doch nicht nur das Wetter beeinflusst die Zahl der Flüchtlinge. Auch bei schweren Kämpfen in Syrien gehen die Flüchtlingszahlen immer wieder nach oben. So kamen im vergangenen Jahr binnen weniger Wochen rund 200 000 Kurden aus der Stadt Kobane in die Türkei, als ihre Heimat vom „Islamischen Staat“ (IS) belagert wurde. Ein noch größerer Ansturm wird für den Fall erwartet, dass die nur 60 Kilometer südlich der türkischen Grenze gelegene Wirtschaftsmetropole Aleppo an den IS fallen sollte. Vor Ausbruch des Krieges in Syrien im Jahr 2011 war Aleppo mit mehr als zwei Millionen Bewohnern die größte Stadt Syriens. Insgesamt sitzen nach Einschätzung von Experten in Syrien mehrere Millionen Menschen auf gepackten Koffern und sind zur Flucht bereit.

Das alles macht es schwierig, eine realistische Prognose der Flüchtlingszahlen aufzustellen. Es zeigt aber auch, dass die nun genannte Zahl von 1,5 Millionen Flüchtlingen nicht auszuschließen ist.

Wie viele Menschen werden über den Familiennachzug hierherkommen?

In dem zitierten geheimen Papier heißt es laut „Bild“, „aufgrund der familiären Strukturen in den Herkunftsstaaten des Nahen Ostens“ müsse mit einem Familienfaktor von „vier bis acht“ gerechnet werden. Mit anderen Worten: Jeder anerkannte Flüchtling aus Syrien oder dem Irak könnte im Durchschnitt vier bis acht Angehörige nachziehen lassen. Insgesamt würde die Zahl der Flüchtlinge so auf weit mehr als sieben Millionen Menschen ansteigen. Experten stellen diese Hochrechnung allerdings infrage. „Viele Flüchtlinge kommen schon jetzt im Familienverbund, und bei den Alleinreisenden handelt es sich oft um sehr junge Männer, die noch gar keine Familie haben“, sagte eine Mitarbeiterin von Pro Asyl dem Tagesspiegel.

Die Nachzugregelung gilt außerdem nur für die sogenannte Kernfamilie, das heißt für minderjährige Kinder und Ehegatten. Eltern, erwachsene Geschwister oder andere Verwandte von Flüchtlingen können nicht nach Deutschland einreisen. Lediglich Syrer, die schon länger in der Bundesrepublik leben und wirtschaftlich selbstständig sind, können über eine Kontingentregelung weitere Angehörige aus dem Krisengebiet nachholen – für die sie dann aber selbst sorgen müssen.

Ähnlich wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), das mit der Bearbeitung der Asylanträge in Deutschland nicht nachkommt, haben aber auch die deutschen Botschaften in Krisenländern wie Syrien derzeit erhebliche Schwierigkeiten, Visaanträge von Angehörigen in Deutschland lebender Flüchtlinge zu bewältigen. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte am Montag in Berlin, obwohl das Personal dafür aufgestockt worden sei, gebe es lange Wartezeiten.

Könnte Deutschland nochmals 900 000 Menschen zusätzlich unterbringen?

Angesichts der vielen überfüllten Erstaufnahmeeinrichtungen scheint es schwer vorstellbar, dass sich die Zahl der Flüchtlinge in den kommenden drei Monaten mehr als verdoppeln könnte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schiebt zudem einen Stau von 250.000 Asylanträgen vor sich her. Schon jetzt werden viele Flüchtlinge in Messehallen, Turnhallen und sogar in Zeltstädten untergebracht. Endlos erweitern lassen sich diese Provisorien nicht. Zelte kommen im Winter als Quartier ohnehin nicht mehr infrage; und sollten Turnhallen dauerhaft ihrer Bestimmung entzogen werden, droht massiver Bürgerprotest.

Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, warnte in der „Passauer Neuen Presse“: „Wenn der Zustrom weiter so anhält wie jetzt, werden die Kommunen in Deutschland mit Versorgung, Unterbringung und Integration der Flüchtlinge überfordert sein.“ Auch das Deutsche Rote Kreuz sieht sich bereits jetzt an der Belastungsgrenze. Noch mehr Ehrenamtliche seien im Land nicht mehr zu aktivieren, sagte der baden-württembergische DRK-Präsident, Lorenz Menz, am Montag in Stuttgart.

Doch es gibt auch andere Stimmen. Der Vizepräsident des Deutschen Städtetages und Nürnberger Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD) glaubt, dass Deutschland durchaus 1,5 Millionen Flüchtlinge aufnehmen kann. „Ich denke, dass die Zahl der Menschen, die heuer zu uns kommen, verkraftbar ist, aber dass es sicher nicht geht, dass man noch zehn Jahre Menschen in dieser Größenordnung aufnimmt“, sagte Maly im RBB. (mit sei)

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