zum Hauptinhalt

Politik: Kosovo: Was vom Kriege übrig bleibt

Den Tag, als Milot B. sich bei ihr vorstellte, hat die Therapeutin Gisela Endel gut in Erinnerung.

Von Caroline Fetscher

Den Tag, als Milot B. sich bei ihr vorstellte, hat die Therapeutin Gisela Endel gut in Erinnerung. Acht Monate ist das her. Milot meldete sich für einen Job als Fahrer. Lässig, in Jeans und mit Sonnenbrille, hing er im Sessel des Büros der Hilfsorganisation "Medica Mondiale" in Gjakova, einer der am meisten zerstörten Städte im Kosovo. Ärztinnen und Therapeutinnen arbeiten hier in einem Wohnhaus im Zentrum, Juristinnen, Lehrerinnen, Hebammen, Übersetzerinnen. 35 sind es, einige stammen aus Deutschland, 30 von ihnen aus der Region. Sie helfen Frauen, die nach dem Krieg mit den Trümmern allein blieben, auch mit der seelischen Trümmerlandschaft, die der Krieg hinterließ.

Medica Mondiale unterhält eine Ambulanz. Mit Spenden in Höhe von 500 000 Mark haben Tagesspiegel-Leser das Projekt unterstützt. Täglich fahren die Medica-Mitarbeiterinnen die staubigen Serpentinen entlang in entlegene Bergdörfer, Orte, um die sich im "Aufbau" kaum jemand kümmert. Keines der weiblichen Teams fährt allein. Ein Mann, ein Fahrer, ist immer dabei.

Milot also. Gisela Endel, schmal und weißhaarig, arbeitete in Deutschland, in der Schweiz und bei einem Medica-Projekt in Bosnien. "Milot saß mir gegenüber", sagt sie "und ich erzählte ihm, wie uns der Fahrstil im Kosovo ängstigt." Fahrstil ist ein schönes Wort für das drängelnde, hupende Rasen ohne Gurt. Milot hörte sich diese Sorgen an, die Beine von sich gestreckt, und kommentierte seelenruhig: "Life is sweet." Gisela Endel lacht. "Ich habe ihn sofort angeheuert." Milot wurde der umsichtigste Fahrer. Die Geschichte mit Milot erklärt, warum sich bei "Medica" so viele ausgezeichnete Leute finden: Weil es hier ungewöhnliche viele Verantwortliche gibt, die Erfahrung in der Opferarbeit mit Umsicht vereinen.

Life is not sweet in Kosovo. Es ist meist bitter, immer noch. Oberflächlich sieht es zwischen Gjakovas Ruinen besser aus, als vor einem Jahr. In Gjakova fand man bis jetzt 1000 Tote, 1500 Menschen werden vermisst, 800 leben als Waisen oder Halbwaisen. Jeder in der 60 000 Einwohner zählenden Stadt hat seine Kriegsgeschichte. Im alten Kern, der im April und Mai 1999 unter dem Beschuss serbischer Mörsergranaten ausbrannte, lärmen zwischen schwarzen Mauern, gähnenden Läden ohne Dach und Türen, jetzt Cafés und Werkstätten. Auch nachts wälzen die Zementmischmaschinen ihre graue Bausuppe um, und es wird bei gelblichem Licht weiter gesägt und gehämmert.

"Gott sieht alles"

Aber alle wissen, dass es grässliche Wunden gibt, die nur nach und nach ans Licht kommen. Der OSZE-Bericht zu Menschenrechtsverletzungen im Kosovo zitiert als Verbrechen an Frauen: Folterungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Ermordungen von Mädchen und Frauen, besonders Schwangeren durch Volksarmee, Polizei, Paramilitärs und Zivilisten - aus Hass auf den "albanischen Kinderreichtum". Es konnte jeder passieren, den Bäuerinnen in der Jahrhunderte alten Tracht oder den Städterinnen in Kleidern, die auch bei uns hip wären, den Jungen und den Älteren. Mit ihrem Leid sind die Familien heute allein.

Jede Woche fährt ein Medica-Team zum nahe der albanischen Grenze gelegenen Bergdorf Planeje. Inmitten mediterraner Vegetation liegen hier Trümmerfelder des Krieges, als sei er eben erst vorbei. Nur dass auf Brandmauern und geborstenem Beton der Mohn blüht. Die Familie von Sali Vorfaj flüchtete im April 1999 von hier, nachdem Paramilitärs die Höfe abgebrannt und in einem ausgesparten Dachstuhl ein Quartier errichtet hatten. Von diesem Unterstand der Serben erfuhr die Nato. Sie bombardierte, was vom Dorf übrig war. Im Keller einer Ruine weist die Mutter, Remijze Vorfaj, auf Parolen in kyrillischer Schrift, mit Ruß an die Wand geschmiert. "Von den Serben", sagt sie. "Gott sieht alles", lautet ein Spruch.

Jetzt leben die Zurückgekehrten in einem Zelt des Flühtlingshilfswerks UNHCR neben ihrem zerschmetterten Gehöft. "25 Kühe hatten wir", sagt Sali Vorvaj, der Patriarch, und rückt seine Filzkappe zurecht, um würdevoller zu wirken. Wie viele Kühe übrig sind, darauf kann er nicht antworten. Er weint. Keine einzige ist übrig. Ab und zu gelangt ein Sack Reis oder Nudeln von einem Hilfswerk in die Berge, davon leben sie. Die Vorfajs wünschen sich eine Baumsäge. Eine Kuh. Ein Radio. Die Kinder der Vorfajs gehen nicht zur Schule. Fatmire, 14, würde gern singen lernen und Popsängerin werden. Remizje, ihre Mutter, lacht: "Ach, du!" Mädchen sollen Hühner hüten, dann heiraten und Kinder bekommen, die Hühner hüten. Der Krieg hat das Festklammern an Traditionen noch verstärkt.

Aferdita Vorfaj, 27, erwartet das dritte Kind. Mit verhaltener Scheu begegnet sie den Medica-Besuchern, die dafür sorgen wollen, dass es eine gute Geburt wird, ohne Komplikationen. "Das ist im Moment das wichtigste", sagt die Ärztin Kornelia Schönfeld, 45, die im Auftrag von Medica als Gynäkologin arbeitet. Aferdita freut sich, als die Ärztin ihr mit Hilfe der jungen Übersetzerin Anita Bokshi Rat gibt. Diese sagt später, das Dorf mache sie traurig. Sie war lange im Exil, jetzt erst begreift sie, was hier geschah. Auf der Weiterfahrt schweigt sie.

Als die schwere Ambulanz des Medica-Teams im kleinen Ort Madanaj nordwestlich von Gjakova vor dem Schulgebäude anhält, schlendert eine Elfjährige herbei, schüchtern, allein. Sie habe Halsweh, schützt sie vor. Im Gespräch mit dem verstörten Mädchen horcht die Beraterin Fehmije Luzha auf. Zögernd erzählt Mimoza G., dass sie schlecht schläft. Dass ihr Vater im Krieg "verschwunden" ist. Dass sie Albträume hat und ins Bett macht. Sie hat Angst. "Auch vor den Kühen?" fragt Fehmije Luzha, "denn vor denen habe ich Angst, ich komme aus der Stadt." Nee, da wird sie großspurig: "Vor Kühen nicht!" Sie verabreden, dass Mimoza der Städterin die Kühe zeigt, dann fühlt sie sich stärker. "Ich werde mit ihrer Mutter reden", beschließt Fehmije Luzha, als Mimoza davonzieht. Die Beraterinnen wissen, dass es noch keinen wahren Trost gibt, für Mädchen wie Mimoza. "Stabilisieren" ist das Ziel.

Mehr als 300 Besucherinnen pro Woche betreut das Medica-Zentrum in Gjakova. "Trauma" ist das Hauptwort, die Helferinnen brauchen ihrerseits Helfer, um die Dichte des Leids zu ertragen. "Viele Leute hier haben Flashbacks, plötzliche Erinnerung an Kriegserlebnisse", sagt Gisela Endel. "Die Kinder spielen Schusswechsel." Alltag ist: Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, teilnahmloses Dösen, Depressionen und Selbstmordgedanken. Viele haben Angst vor den Exhumierungen Ermordeter. Oder: Ein Mädchen, das eine Mine angefasst hat, braucht eine Armprothese. Zuständig wäre die Organisation "Handicap International". Margrit Spindeler, Office-Managerin bei Medica recherchiert: "Handicap macht das nicht, die sagen, sie machen nur Beine. Grotesk!" Gerne würden das Team von Medica seine Hilfe auch Serbinnen geben, die noch hier leben. Roma-Mädchen haben sie schon behandelt. Aber sich Serben zuzuwenden ist lebensgefährlich, man erhält sofort Drohungen.

Ein Jahr nach dem Krieg hat der Kosovo immer noch kein Rechtssystem, das funktioniert. Kosovo ist ein Synonym für ein gigantisches Provisorium. 460 Organisationen von Helfern sind beim Hilfswerk UNHCR registriert. UNHCR: diesen Schriftzug sieht man überall, auf den hellblauen Plastikplanen, die das Land überspannen, wie ein Verbandsstoff. Sie beschirmen Dachsparren, Kioskblenden, sie schützen Stapel von Fruchtkartons und Zementsäcken, sie füllen leere Fensterhöhlen.

Unter dem UNO-Verbandspflaster sollen sich die Wunden schließen. Aber nicht alle heilen von allein, am wenigsten die psychischen Traumata. Kornelia Schönfeld schult die kosovarischen Kolleginnen von Medica: "Unser Ziel ist, dass alle Frauen hier selbstständig arbeiten." Die Medizinerin, die an der Uniklinik in Essen und an der Wuppertaler Landesfrauenklinik 1500 Geburten begleitet hat, nennt sich eine "Grundoptimistin", sie strahlt Festigkeit aus und Kompetenz. Ihr Spezialgebiet, die Behandlung traumatisierter Frauen, war ihr am Anfang des Berufslebens fremd: "Ich wusste von Gewalt gegen Frauen erst, als ich die Spuren in der Praxis sah."

Der Nachbar als Täter

Im Kosovo ist die Dunkelziffer der Vergewaltigungen hoch, und "ich kann nie wissen, was eine Patientin erlebt hat", erklärt die Medizinerin. "Alles, was ich mache, spreche ich mit der Patientin ab, jedes Eingreifen und Berühren. Gespräche führe ich nur, wenn die Frau bekleidet ist." Hier, wo alles Intime tabu ist, muss man behutsam sein. Man braucht die Gegenbewegung zum hiesigen Fahrstil, kein Drängeln, Hupen, Rasen. Nach einer Vergewaltigung gibt es eine Phase, in der Fachsprache "Cry-Out" genannt, erklärt Schönfeld. Das geschah in den Flüchtlingslagern. Da sprachen viele aus, was geschehen war. In späteren Phasen, in denen die Frauen schweigen wollen, muss man diesen Wunsch unbedingt respektieren.

Oberstes Gebot bei Medica Mondiale ist es, die "Fälle " zu schützen. Vor Boulevardblättern und Kameras, vor Beschämung und Preisgabe. Fälle wie den der schmächtigen, siebzehnjährigen L., deren Vater sie aus dem Haus werfen wollte, weil sie im Krieg von einem Vergewaltiger schwanger wurde. L. bekam ihren Sohn im Schutz eines Medica-Haushaltes. Das Kind ist gesund und lebt inzwischen in einem Heim, L. konnte zurück zu den Eltern. J., eine andere Frau, zeigte ihren Vergewaltiger an, die Anwältinnen Lorida Maloku und Flutura Zajmi geben ihr Rechtshilfe. Aus der absoluten Diskretion der Mitarbeiterinnen von Medica speist sich das Vertrauen der Frauen hier. Das spricht sich herum. Ganz leise.

Das laute Stadtgespräch in Gjakova gilt seit Tagen dem Theater. Es wagt eine Inszenierung mit Kriegszenen, die den ganzen Saal unter Schock setzen. Das Stück des Albaners Fadil Kraja, der sein Material in Camps für Flüchtlinge sammelte, heißt "Dosma e trojeve tona" (Hochzeit mit Tränen). Im Flutlicht von vier Wachtürmen zeigt es maskierte Nachbarn als Täter, Kinder als Augenzeugen von Gewalt, Flüchtende, die nicht vergessen. "Hunderte weinen", klagt die elegante Shpresa Byci, Buchhalterin bei "Medica". "Es ist zu viel und zu früh." Solche Gefahr sieht die Schauspielerin Myrvete Kurtishi, die vor Jahren einmal eine Antigone gab, nicht. Für sie ist es eine Art kollektive Traumatherapie. "Das Stück löst die Gefühle! Manche sehen es mehrmals." Ein 14-Jähriger, Fisnik Binaku, spielt hier mit, der am 3. April 1999 miterleben musste, wie man seinen Vater erschoss. "Jetzt bin ich frei", sagte der Junge nach der Premiere zu Myrvete Kurtishi. Als sie das erzählt, sieht sie glücklich aus.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false