zum Hauptinhalt
Bundesfinanzminister Christian Lindner und sein mächtiger Haushalts-Staatssekretär Werner Gatzer.

© Kay Nietfeld/dpa

Christian Lindner und die Zinswende: Kreative Haushaltspolitik im Bundesfinanzministerium

Der Bund plant 2023 mit 32 Milliarden Euro Zinsausgaben. Doch weder geht die Summe allein auf die Zinswende zurück - noch müsste sie so hoch sein. Eine Analyse

Stand:

Die Zinswende ist da. Die EZB hat am Donnerstag den Leitzins nach elf Jahren deutlich auf 0,5 Prozent erhöht. Die lange Niedrigzinsphase geht damit erst einmal zu Ende. Für Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) sind höhere Zinsen eine seiner größten Herausforderungen. Schon vor der EZB-Entscheidung hat er darauf verwiesen, dass die Zinsausgaben des Bundes wieder deutlich steigen werden.

Will heißen: Spielräume für andere Ausgaben sinken damit. Auf knapp 32 Milliarden Euro werden sich die Ausgaben für Zinsen 2023 belaufen, so Lindners Planung. In diesem Jahr sollen noch gut 18 Milliarden reichen. Für 2021 steht eine Nettosumme von knapp vier Milliarden Euro im Haushaltsabschluss.

Schaut man in den vom Kabinett vor zwei Wochen beschlossenen Etatentwurf für 2023, dann könnte man sich allerdings verwundert die Augen reiben. Die Zinsausgaben für Bundesanleihen sinken nämlich leicht auf 12,2 Milliarden Euro. Bundesanleihen machen den Großteil der Zinspapiere des Bundes aus. Die Zinskosten anderer üblicher Finanzinstrumente verschwinden dahinter.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können]

Wie aber kommt Lindner dann auf mehr als 30 Milliarden Euro an Zinsausgaben insgesamt? Fündig wird man ein paar Zeilen weiter unten im Einzelplan 32 des Etatentwurfs. Dort ist von Zinsen im Zusammenhang mit einem Schlusszahlungsfinanzierungsgesetz die Rede (7,6 Milliarden Euro) und von „Disagio“ auf Anleihen und Obligationen (8,5 Milliarden). Mit weiteren kleineren Zinspöstchen ergibt sich dann die Gesamtsumme von knapp 32 Milliarden.

Ein bisschen Tricksen

Was passiert da? Die Antwort, zugespitzt: Man hat es mit einer Mischung aus kreativer Haushaltsführung und den Folgen von Entscheidungen zu tun, die zurückgehen bis in die Amtszeit von Finanzminister Peer Steinbrück – die Lindner aber jetzt zu nutzen weiß. Sein Ziel ist offenbar, einerseits die Zinswende nach außen als große Belastung darzustellen, andererseits aber deren Folgen für die Etatplanung möglichst einzuhegen. Daher ist ein bisschen Tricksen und bisschen Täuschen angesagt im Bundesfinanzministerium.

Nicht zuletzt gilt das bei dem Posten namens „Disagio“. Hinter dem Begriff verbergen sich Preisabschläge, die entstehen, wenn bei der Auktion von Anleihen durch die Finanzagentur des Bundes nicht der volle Preis erreicht werden kann – oder soll. Üblicherweise liegt der Nennwert von Bundespapieren bei 100 Euro je Stück. Das Gegenteil – der Preisaufschlag – nennt sich „Agio“, und damit haben die Finanzminister vor Lindner jahrelang gute Geschäfte gemacht.

Aufschläge und Abschläge

Um das Prozedere zu verstehen, muss man sich ein wenig in die komplexe Welt des Anleihengeschäfts vertiefen. Zu der gehört, dass der Staat neue Kredite nicht allein durch die Neuausgabe von Anleihen aufnimmt, sondern auch durch das Aufstocken von Anleihen, die schon mehr oder weniger lang im Umlauf sind. In der Phase sehr niedriger Zinsen bot der Bund immer wieder an, alte Anleihen mit einem relativ hohen Zinskupon aufzustocken. Damit konnten Käufer Papiere mit relativ hohem Zins auf Jahre hinaus erwerben, und dafür akzeptierten sie einen höheren Kaufpreis als den Nennwert. Die Rendite stimmte trotzdem.

Diesen Preisaufschlag vereinnahmten die früheren Finanzminister Wolfgang Schäuble und Olaf Scholz sofort und stellten die Gesamtsumme in den jeweiligen Jahresetat ein. 2020 kamen dadurch immerhin zwölf Milliarden Euro zusammen, 2021 waren es gut zehn Milliarden. Das war ein gutes Zubrot, mit dem sich auch die Schuldenbremse leichter einhalten ließ. Buchungstechnisch möglich wäre auch eine Verteilung dieser Einnahmen über die Restlaufzeit der aufgestockten Anleihen gewesen, so wie auch die die Zinslast aus diesen Aufstockungen auf spätere Etats verteilt wird. Aber das wurde nicht gemacht. Der schnelle Gewinn war wichtiger.

Aufstocken statt Neuausgabe

Mittlerweile überwiegen wegen der Zinswende aber Preisabschläge. Dabei ist es offenkundig die Linie von Lindner und seinem zuständigen Staatssekretär Werner Gatzer, über das Aufstocken von Anleihen mit einem Niedrig- oder Nullzins die Phase billiger Verschuldung für den Bund zu verlängern. Dass die Finanzagentur des Bundes, formal eine unabhängige GmbH, dieses Aufstocken seit langem umfangreich betreibt, um Bundesanleihen liquide zu halten und damit deren „Benchmark-Status“ – sozusagen die Pole-Position im Anleihengeschäft – zu stützen, kommt dieser Politik entgegen.

Ein aktuelles Beispiel: Am 13. Juli wurde eine erstmals 2021 ausgegebene Nullzinslanleihe aufgestockt, die eine Laufzeit von 30 Jahren hat. Die an der Auktion beteiligten Finanzinstitute griffen zu, allerdings mit einem erheblichen Preisabschlag – der Durchschnittskurs lag bei nur knapp 66 Euro (bei einem Nominalwert von 100). Lindner verzichtet somit auf Einnahmen. Es ist eine Abwägungsfrage: Der Bund nimmt zwar weniger ein, zahlt aber auf Jahre hinaus keine Zinsen. Grundsätzlich gilt die Disagio-Lösung im Vergleich zu einer Neuemission mit höherem Zins allerdings nicht als vorteilhafter. Im Etatentwurf für 2022 ist die Wende bereits abzulesen: Nur noch etwa 670 Millionen an Agio-Einnahmen sind dort eingestellt.

Das Risiko des Disagios

2023 setzt sich diese Entwicklung dann massiv durch. Im Etatentwurf sind nun die erwähnten 8,5 Milliarden Euro Disagio vorgesehen. Mit dem Verlängern von Nullzinspapieren über Aufstockungen erklärt sich zum Teil, warum die tatsächlichen Zinsausgaben für Bundesanleihen in der Haushaltsplanung nicht steigen, sondern leicht auf die geplanten 12,2 Milliarden Euro sinken. Zudem laufen ältere Anleihen aus Zeiten mit hohen Zinsen aus und werden durch Papiere mit niedrigeren Zinskupons ersetzt – was wiederum das Agio-Geschäft deutlich verringert. Bei der Neuemission von Anleihen muss der Bund schon jetzt einen deutlich höheren Zins bieten – zuletzt waren es am 6. Juli bei einer zehnjährigen Anleihe 1,7 Prozent.

Die Preisabschläge aus den Disagio-Aktionen werden als Ausgaben in den Etat eingestellt. Mit diesen höheren Kosten kann der Finanzminister Ausgabenwünsche anderer Ressorts drücken. Tatsächlich handelt es sich beim Disagio allerdings um eine Mindereinnahme. Wie das Agio wird im Etat auch das Disagio auf einen Schlag verbucht. Lindner müsste das nicht tun, aber weil die Einmalbuchung die herkömmliche Praxis des Ministeriums ist, wird es bei den Abschlägen fortgesetzt.

"Jetzt ist der Bumerang da"

Der Düsseldorfer Finanzanalyst Peter Barkow hat die Trendwende vom Agio zum Disagio kommen sehen. „Jetzt ist der Bumerang da“, sagte er dem Tagesspiegel. „Die Bundesregierung wurde auf dem falschen Fuß erwischt, aber da ist sie in guter Gesellschaft.“ Nach seinen Berechnungen haben sich bis Mitte Juni schon Abschlags-Mindereinnahmen in Höhe von 2,7 Milliarden Euro angehäuft – also schon deutlich mehr als die von Lindner geplante Summe von 670 Millionen.

Unter der Lupe: Das Anleihengeschäft des Bundes ist eine komplexe Sache.

© imago/Schöning

An der Buchungspraxis des Finanzministeriums bei Agio und Disagio gibt es schon länger Kritik – nicht zuletzt aus der Bundesbank, vom Wissenschaftlichen Beirat des Finanzministeriums und vom Bundesrechnungshof. Die Bedenken galten schon Schäuble und Scholz, die nicht darauf reagierten – wie nun auch Lindner. Die Bundesbank rügte zuletzt im Juni 2021 die Verbuchung der kompletten Agio-Einnahmen auf einen Schlag. Damit würden „kurzfristig die Grenzen der Schuldenbremse zulasten künftiger Haushalte“ gelockert. Die „Umstellung auf eine periodengerechte Verteilung der Zinsausgaben“ wäre laut Bundesbank „ökonomisch sachgerechter“. Ein Fazit lautete: „Die tatsächliche Haushaltslage ließe sich damit leichter erkennen.“ Die Kritik des Rechnungshofs geht zurück bis 2017.

Kritik der Berater

Ähnlich sah es im April 2021 der Wissenschaftliche Beirat des Finanzministeriums, eine Gruppe von 35 Professoren, zu denen auch Lindners enger Berater Lars Feld gehört. In einem 30-Seiten-Papier zum Thema „Schuldenmanagement des Bundes“ wird die sofortige Verbuchung von Agio und Disagio scharf kritisiert – auch mit Blick darauf, dass es zu einer Zinswende kommen könnte.

Höhere Disagien seien „keine Mehrausgaben“, heißt es in dem Papier. „Sie stellen lediglich eine zeitliche Verschiebung zukünftiger Zinsausgaben in den aktuellen Haushalt dar.“

Der Beirat warnte deutlich vor den „buchhalterischen Belastungen“, sollten die Zinsen steigen. Die Empfehlung: Eine Verteilung der Preisabschläge auf einen längeren Zeitraum. Damit gäbe es mehr Planungssicherheit, weil die effektive Zinsbelastung besser im Etat ausgewiesen werde, so der Tenor des Papiers.

Klumpenrisiko schlägt durch

Was aber hat es mit dem anderen Posten und den dort aufgeführten 7,6 Milliarden Euro an Zinsausgaben auf sich? Hinter dem Schlusszahlungsfinanzierungsgesetz aus dem Jahr 2009 (dem letzten Amtsjahr Steinbrücks) steckt ein Sondervermögen, also ein Nebenhaushalt, in dem eine Rücklage angesammelt wird. Und zwar für die Rückzahlung von Bundesanleihen, die an die Inflation gebunden sind. Diese Anleihen werden jährlich sehr niedrig verzinst, doch wird jedes Jahr zusätzliche eine an die Teuerung gebundene zusätzliche Verzinsung geboten, die allerdings erst zum Ende der Laufzeit der Anleihe kumuliert ausgezahlt wird. Die Inflationsanleihen des Bundes haben Laufzeiten zwischen zehn und 30 Jahren.

Um dieses „Klumpenrisiko“ hoher Einmalzahlungen zu entzerren, wurde das Ansparen der Rücklage eingeführt – wobei damals wohl niemand daran dachte, dass man damit ein neues Klumpenrisiko schafft, sollte es wieder Jahre mit sehr hoher Inflation geben. Die gibt es nun, weshalb Lindner 2022 und 2023 sehr hohe Summen in die Rücklage schieben muss. Mit Zinswende hat das allerdings allenfalls indirekt zu tun. Die zusammen 12,2 Milliarden Euro in diesem und im kommenden Jahr sind eine gesetzliche Pflicht, die Lindner von seinem Vorgänger Peer Steinbrück geerbt hat und die nun – je nach Entwicklung der Inflation – den Bundesetat deutlich belasten.

Dabei machen Inflationsanleihen nur einen geringen Anteil an den umlaufenden Bundeswertpapieren aus. Laut Finanzagentur sind es derzeit überhaupt nur fünf Anleihen, der Anteil am Gesamtvolumen beträgt etwas weniger als fünf Prozent. Aber ihr Anteil an den Zinsausgaben 2023 beträgt mehr als ein Viertel.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })