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Betreuung eines Covid-19-Patienten auf einer Intensivstation.

© Jens Büttner/dpa

Leben retten versus Lebensstil: Nicht die Politik verhindert den harten Lockdown, sondern unser Egoismus

Ein härterer Lockdown ist nötig, aber die politischen Entscheider trauen sich (noch) nicht. Das hängt auch mit jedem einzelnen von uns zusammen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Nüsse

Die Todeszahlen steigen. Fast 500 Menschen sterben täglich in Deutschland an und mit Covid-19.

Erste Krankenhäuser kommen an ihre Belastungsgrenzen.

Seit dem Wochenende ist nun auch Schleswig-Holstein Risikogebiet – und damit die gesamte Bundesrepublik.

Seit Tagen ist klar: Mit dem Lockdown „light“ wird die zweite Corona-Welle nicht gebrochen.

Es stellt sich also die Frage: Weiter so und in der Salami-Taktik hier und da noch eine kleine Kontakteinschränkung nachschieben, bis nach den Feiertagen mit seinen Sonderfreiheiten gar nichts mehr geht – oder zieht man jetzt die Bremse und verordnet einen echten Lockdown?

Mit dem Ziel, möglichst viele Leben zu retten. Das Lebenretten war zu Beginn der Pandemie, im Frühjahr,  immerhin mal eine Zeit lang der gesamtgesellschaftliche Ansatz. Doch jetzt wirkt es, als wolle man einzig das Weihnachtsfest retten.

Bayern prescht vor - noch immer mit einem Lockdown "light"

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat jetzt seine Antwort gegeben: Verschärfte Regeln und Ausgangsbestimmungen – die allerdings immer noch recht „light“ daherkommen, wenn der Einkauf von Weihnachtsgeschenken zu den „triftigen Gründen“ zählt, das Haus zu verlassen.  

Eine nächtliche Ausgangssperre in Hotspots und Alkoholverbot im Freien schmecken schon eher nach wirklicher Einschränkung. Aber letztlich wird das nicht reichen, um die Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern und die Zahl der täglichen Corona-Toten zu senken. Das erkennt auch die Politik langsam, Experten wie die der Leopoldina fordern es ohnehin.

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Und so stellt sich ganz brutal wieder die Frage: Was wollen wir als Gesellschaft? Oder vielmehr: Denken wir überhaupt noch in dieser Kategorie?

Man kann lange auf den Ministerpräsidentinnen herumhacken, die nicht mehr durchschaubaren Regelungen kritisieren. Aber wenn die politischen Entscheider sich nicht trauen, den Bürgern drastischere Einschränkungen zuzumuten, dann sagt das viel über dieses Land.

Natürlich geht es bei den Abwägungen um die Rettung wirtschaftlicher Existenzen und möglichst viel Normalität für Kinder. Doch die Scheu vor harten Maßnahmen hat eben auch damit zu tun, dass diese schwer vermittelbar scheinen in einer Gesellschaft, in der sich die Idee des Individualismus verselbstständigt hat.

Die hehre Idee des Individualismus rechtfertigt heute Rücksichtslosigkeit

Diese Grundlage westlicher Gesellschaften und ihrer Demokratien, ihre DNA sozusagen, auf die der Westen zu Recht stolz ist, – sie verkommt heute immer öfter dazu, Rücksichtslosigkeit gegenüber Anderen und sogar Angriffe auf den Staat zu rechtfertigen.

Und es müssen sich nicht nur Corona-Leugner und Maskenverweigerer à la AfD an die Nase fassen: Wenn Deutschland diskutiert, ob Böllern an Silvester ein Menschenrecht ist oder es „triftige“ Gründe für das Skifahren gibt, dann sind das die Probleme einer Ich-bezogenen Wohlstandsgesellschaft.

Anders in Asien, wo einige Demokratien auch deshalb besser durch die Krise kommen, weil die Einzelnen bereit sind, mehr zum Wohlergehen anderer beizutragen.

Nun haben die Deutschen genug Erfahrungen mit überhöhtem Gemeinschaftsdenken – dahin will niemand zurück. Aber es muss doch etwas dazwischen geben. Freiheit ist größtmöglich, aber nicht grenzenlos. Daran muss die Politik erinnern. Und Regeln vorgeben, denn niemand schränkt sich mehr ein, als er muss.

Dabei wissen die Menschen in Deutschland bisher gar nicht, was ein harter Lockdown ist – wenn beispielsweise das Spazierengehen unter Strafe verboten ist und landesweite nächtliche Ausgangssperren herrschen, wie dies in Frankreich oder Italien der Fall war.

Damit es hier nicht so kommt, könnten alle die ach so besinnliche Weihnachtszeit nutzen, darüber nachzudenken, was sie für die Gesellschaft tun. Nicht was die Gesellschaft für sie tut.

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