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Diese Aufnahme aus dem April 2020 zeigt Feuerwehrleute am Flughafen Wuhan, die zur Desinfektion eingesetzt sind.

© Getty Images

Lehren aus Corona: Nach der Gleichgültigkeit ist vor der Pandemie

Wir brauchen einen "Freedom Day“, aber einen ganz anderen. Es geht darum, uns aus der Unfähigkeit zur Pandemiebekämpfung zu befreien. Ein Gastbeitrag.

Und Geschichte wiederholt sich doch. Zumindest im Umgang mit Pandemien. Denn schaue man sich das vergangenen Jahrhundert und seine Pandemie-Alarme an, meint der britische Medizinhistoriker Mark Honigsbaum, dann finde man immer das Gleiche: "Es gab stets einen Zyklus von Panik und Gleichgültigkeit." Sobald die Notfälle vorüber sind, rutschen wir zurück in alte Muster. Und machen einfach weiter wie zuvor. Und lernen nichts.

Befinden wir uns auch jetzt auf dem Weg zurück ins Weiter-wie-zuvor? Es hat den Anschein. Kassenärztechef Gassen steht nicht mehr alleine da, so wie im Herbst letzten Jahres, als er zu Beginn der vierten Welle einen "Freedom day" forderte. Damals Außenseiter, müssen wir ihn nun fast als Avantgardisten ansehen. Justizminister Marco Buschmann hat seine schon im Herbst während der Koalitionsverhandlungen gemachte Ankündigung eingehalten, zum 20. März 2022 alle Corona-Schutzmaßnahmen abzuschaffen. Zumindest fast.

Allein die Tatsache, dass hier ein Monate vorher angekündigtes Vorhaben gegen den Rat aller Experten und den Willen aller (!) Bundesländer taggenau umgesetzt wurde, zeigt ja schon, dass hier nicht wissenschaftsbasiert und auf eine volatile Welt bezugnehmend Politik gemacht, sondern einfach wertegetrieben (oder besser: ideologiegetrieben) ein Wunsch auf den Punkt umgesetzt wurde.

Es haben die Schnittmeister übernommen. Sie wünschen sich, die zwei Jahre Corona aus der Zeitleiste auszuschneiden und dann Post-Corona locker an Prä-Corona anzudocken – so als sei die Pandemie eine blöde Szene in einem ansonsten ganz guten Film, die man jetzt ausschneidet.

Dass die ganze Welt schockiert und fassungslos auf Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine schaut, kommt den Schnittmeistern aufmerksamkeitsökonomisch zu gute. Dafür können sie natürlich nichts, aber es ist einfach so: Die Pandemie ist im Moment kein großes Thema mehr.

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Schnittmeister fordern eine andere Haltung gegenüber Corona – wir sollen uns jetzt mal locker machen. Omikron erlaube mehr Freiheiten. Das stimmt natürlich, aber die Gefahr der Schnittmeisterei besteht darin, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Die aufwendigste aller Behandlungen: eine Pflegerin auf der Intensivstation des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe.
Die aufwendigste aller Behandlungen: eine Pflegerin auf der Intensivstation des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe.

© Christoph Soeder/dpa

Dabei ist die Forderung nach einer anderen Haltung völlig berechtigt, wenn man sie grundsätzlicher versteht. Wenn wir uns fragen, wie nicht nur das Virus, sondern die Pandemie an sich uns zwingt, unsere Haltung zu ändern. Die Frage lautet dann nämlich: Welche Haltung müssen wir zu Pandemien einnehmen, um Honigsbaums ewigen pandemischen Teufelskreis zwischen Panik und Gleichgültigkeit zu überwinden?

Wenn wir dafür unbedingt den ideologischen Ausdruck "Freedom Day" benutzen wollen, dann doch eher analog seiner vormals gebräuchlichsten Verwendung. Dies ist das Gedenken an den Tag, an dem Abraham Lincoln eine Resolution unterzeichnete, die zur Abschaffung der Sklaverei führte.

[Lesen Sie mehr bei Tagesspiegel Plus: Der Freedom Day der Anderen - Vorerkrankte fürchten das Ende der Maskenpflicht]

Was wir brauchen, ist ein "Freedom Day", der natürlich Pandemien nicht abschafft, aber an dem wir unsere Haltung zu Pandemien so ändern, dass wir uns aus unserer selbst verursachten Unmündigkeit und Unfähigkeit zur Verhinderung und Bekämpfung von Pandemien befreien. Der "Freedom Day" wäre dann der Tag, an dem wir beginnen, aus der Corona-Pandemie zu lernen und Honigsbaums Teufelskreis zu entkommen.

Was aber können wir lernen? Es sind sechs sehr unterschiedliche Lehren, die wir aus der Pandemie ziehen können. Einige betreffen unsere Haltung und Einsicht, andere die Weise, wie wir leben. Beginnen wir mit einer Einsicht. 

1. Wir sollten verstehen, dass Pandemien keine Naturkatastrophen sind

Pandemien sind kein Schicksal; sie kommen nicht wie ein Erdbeben einfach über uns. Anders als Naturkatastrophen entstehen sie zumeist im Kontakt von Mensch und Tier. Ihr Ursprung ist die zoonotische Infektion, der Übersprung eines Keimes vom Tier zum Menschen. Die vier direkten Ursachen, durch die Zoonosen auftreten oder sich häufen, sind: (a) Nassmärkte (wet markets, auf denen Wild- oder Zuchttiere lebend verkauft oder bei Kauf geschlachtet werden), (b) Orte industrieller Nutztierhaltung, (c) Ökosystemveränderungen (Vordringen in unbesiedelte Räume und Entwaldung), (d) Klimawandel.

Das erste, das wir uns klarmachen sollten, ist, dass wir auf die Ursachen von Pandemien Einfluss haben  - sie widerfahren uns nicht einfach. Das Unangenehme an dieser Einsicht: Es fällt schwerer, guten Gewissens und schicksalsergeben die Hände in den Schoß legen und zu schnittmeistern. Und das Gute: Wir sind handlungsfähig (auch wenn wir natürlich nicht alle Zoonosen werden verhindern können).

2. Wir sollten diejenigen Ursachen von Pandemien bekämpfen, auf die wir direkten Einfluss haben

Auf einige der gerade genannten direkten Ursachen haben wir in Deutschland gar keinen Einfluss (es gibt bei uns keine Nassmärkte), auf andere, wie die Rodung tropischer Regenwälder, nur sehr mittelbar. Der Kampf gegen den Klimawandel steht (zumindest offiziell) sowieso ganz oben auf der politischen Agenda; Pandemien sind hier lediglich ein weiterer Grund (und angesichts der Tragweite des Klimawandels sogar ein nachrangiger).

Bleibt die vierte direkte Ursache: die industrielle Massentierhaltung. Schweigen wir über diese Ursache vielleicht am liebsten, weil wir hier einen großen, direkten Einfluss und damit Handlungsmöglichkeiten haben? Deutschland hat sich in den letzten zwanzig Jahren von einem Importeur von Schweinefleisch zum weltweit drittgrößten Exporteur entwickelt; in diesem Zeitraum hat sich die Anzahl der Tiere pro Betrieb etwa verzehnfacht. Großschlachter konnten sich ohne jede Ironie in der Pandemie "systemrelevant" nennen.

Ein Nassmarkt in Quezon City, Philippinen. Die Aufnahme stammt aus dem August 2020.
Ein Nassmarkt in Quezon City, Philippinen. Die Aufnahme stammt aus dem August 2020.

© Getty Images

Dabei kann man der industriellen Massentierhaltung nur für eines eine gewisse Systemrelevanz nicht absprechen: nämliche eine bedeutende Quelle von Zoonosen zu sein. Besonders Schweine und Hühner dienen oft – aus biologischen und industriellen Gründe - als Zwischenwirte. Die schlimmste Pandemie des 20. Jahrhunderts, die Spanische Grippe, wurden so verursacht. Eine neue, gefährliche Influenza-Variante namens G4 treibt gerade in chinesischen Schweinemastbetrieben ihr Unwesen. Deutsche Forscher stellen fest, dass sich die Anzahl von Schweineviren in Europa von ehemals zwölf auf mehr als dreißig erhöht hat. Durch den internationalen Schweinehandel in Europa drohen hier neu "verrückte Mischungen" von Viren.

Die Tiefenursache der Massentierhaltung ist ein kultureller Brauch, der Karnismus (Fleischesserkultur). Wir essen sehr gerne sehr viel sehr billiges Fleisch. Hier liegt das Tabu. Dieses Tabu müssen wir brechen.

3. Wir sollten unser Risikobewusstsein schulen

Hier müssen wir uns selbst überlisten. Immer wieder konnten wir in der Pandemie erleben, dass wir zwei aus der Kognitionspsychologie wohlbekannten Verzerrungen unterliegen: der Normalitätsverzerrung (normalcy bias) und der Optimismusverzerrung (optimism bias). Es fällt uns zum einen wirklich schwer, uns vorzustellen, dass unsere Alltagswelt, unsere gewohnte Normalität ganz anders aussehen könnte (auch wenn wir das gerade erlebt haben). Und zum anderen wollen wir gerne glauben, dass die Sache für uns schon gut ausgehen wird. Beides zusammen hat einen fatalen Einfluss auf unsere Fähigkeit und Bereitschaft zu lernen und uns für Veränderungen zu öffnen.

Und einige Dinge fallen uns einfach schwer zu verstehen: Zum Beispiel, dass, wenn wir auf das erste Feld eines Schachbretts ein Reiskorn legen und dann die Anzahl der Reiskörner auf jedem weiteren Feld verdoppeln, wir am Ende die tausendfache Menge der jährlichen Weltproduktion an Reis auf unserem unvorstellbar großen Brett liegen haben werden. Mit dem Virus verhält es sich wie mit dem Reiskorn, aber wir haben kein Gefühl für Exponentialität - wir sind "exponentiell kurzsichtig" (Tim Harford).

[Lesen Sie dazu hier einen weiteren Essay des Autors: Die Psychologie der Corona-Bekämpfung - Warum wir immer wieder die gleichen Fehler machen]

Ähnlich ist es mit dem Präventionsparadox: Wir verstehen nur schwer, dass etwas nicht passiert ist, weil vorbeugend gehandelt worden ist, und schließen dann fälschlich, dass das vorbeugende Handeln doch ganz überflüssig gewesen sei.

Diese Schwächen in Verbindung mit den Normalitäts- und Optimismusverzerrungen führen zu einer systematischen Fehleinschätzung von Risiken. Genau das haben wir in der Corona-Pandemie immer wieder erlebt (leider auch bei vielen Entscheidungsträgern).

Wir sollten also im Umgang mit Pandemien unsere Intuitionen kritisch in Frage stellen, erst recht dann, wenn der wissenschaftliche Konsens ein anderer ist. Das gilt auch für Ärztefunktionäre. Und sogar für Weltärztechefs.

4. Wir sollten – ohne jede Hybris - über den Tellerrand schauen

Es gibt Länder (vor allem in Ostasien), die in der Pandemiebekämpfung erheblich mehr Erfahrung und Wissen haben als Deutschland. Von diesen Ländern können wir lernen. Als dort jeder Masken trug, hieß es, das sei in Deutschland kulturell nicht durchsetzbar. Als dort Eliminationsstrategien verfolgt wurden, hieß es, dies würde in Deutschland nicht funktionieren. Als dort ankommende Reisende aus China systematisch medizinisch untersucht wurden, hieß es, das wäre nicht nötig, es gäbe keine Direktflüge aus Wuhan nach Deutschland.

Passant:innen auf einem Bahnhof in Tokio. Die Aufnahme stammt aus dem April 2020.
Passant:innen auf einem Bahnhof in Tokio. Die Aufnahme stammt aus dem April 2020.

© Getty Images

Es herrschte keine Mangel an Wissen, sondern an Aufmerksamkeit und Offenheit für die Best Practices anderer. Mehr Offenheit, weniger Hybris haben andere Länder ohne ausgeprägte Pandemieerfahrung gezeigt - wie Finnland, Norwegen, Dänemark, Island, Australien, Neuseeland. Sie waren erfolgreicher als wir.

5. Wir sollten die Staatsresilienz erhöhen

Die israelische Soziologin Eva Illouz hat bemerkt, dass der implizite Vertrag zwischen modernen Staaten und ihren Bürgern auf dem Vermögen der Staaten beruhe, die physische Sicherheit und Gesundheit der Bürgerinnen zu schützen. Dieser Vertrag ist vor allem in den ersten Wellen der Pandemie gebrochen worden. Und das sollte nicht noch einmal passieren.

[Corona-Updates aus den zwölf Berliner Bezirken in den bezirklichen Newslettern vom Tagesspiegel, ganz unkompliziert und kostenlos bestellen unter leute.tagesspiegel.de]

Wir brauchen einen widerstandsfähigeren, protektiven Staat. Denn die extreme Vernetzung und Beschleunigung der Welt durch die Globalisierung bleibt ein großer potenzieller Treiber von Pandemien. Wir sollten daher die Vorratshaltung verbessern, die Lieferketten für kritische Produkte verkürzen und der Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung Einhalt gebieten.

Die öffentliche Gesundheitsversorgung sollten wir personell und technologisch (Digitalisierung!) aufrüsten, und das Robert Koch Institut zur zentralen Seuchenbekämpfungsbehörde mit umfassenden Kompetenzen weiterentwickeln. Dafür müsste es finanziell und personell besser ausgestattet werden, zudem sollten die Wissenschaftlerinnen dort weitgehend unabhängig von den behördlichen Strukturen und damit frei von politischer Einflussnahme arbeiten können. 

6. Wir sollten eine Föderalismusdebatte führen

Und schließlich: Wir sollten dringend eine Föderalismusdebatte führen. In den letzten zwei Jahren haben wir beinahe täglich dysfunktionale Verantwortungsdiffusion und -delegation zwischen Bund, Ländern und Kommunen erleben müssen  - der Höhepunkt waren vermutlich die immer absurderen "Ministerpräsidentenkonferenzen". Das Ergebnis: keine umfassende, rahmensetzende Strategie (die dann regional taktisch adaptiert und umgesetzt wird), ein unabgestimmter Flickenteppich von Maßnahmen, unklare Kommunikation. Verantwortlichkeiten, Prozesse und Entscheidungskompetenzen müssen klar sein, um in einer Krise angemessen agieren zu können.

Ähnlich wie im Fall militärischer Auseinandersetzungen sollte auch bei Gesundheitskrisen von der Größe einer Pandemie die dezentrale föderalistische Struktur auf Zeit eingeschränkt, die Exekutive gestärkt und Zuständigkeiten auf der Bundesebene zentralisiert werden. Dies ist sogar in der noch wesentlich föderalistischeren Schweiz mit der "Besonderen Lage" und der "Außerordentlichen Lage" nach dem Schweizer Epidemiengesetz möglich.

Dabei sollte aber den Ländern die Möglichkeit gelassen werden, strengere Maßnahmen als auf Bundesebene zu beschließen, wenn sie dies für angemessen halten. Diese Option ist als Schutz gegen ideologiegetriebene Politik der Zentralregierung, wie wir sie gerade erleben, notwendig.

[Lesen Sie mehr bei Tagesspiegel Plus: Die Lehren aus der vergessenen Pandemie von 1889 - Schon damals hatten viele Infizierte Langzeitsymptome]

Lassen sich mit diesen sechs Maßnahmen Pandemien eliminieren? Leider nein. Auf viele Ursachen und Tiefenursachen von Pandemien haben wir keinen Einfluss. Weder können und wollen wir uns de-industrialisieren noch haben wir bedeutenden Einfluss auf Megatrends wie das weltweite Bevölkerungswachstum oder die Urbanisierung.

Aber wir können erkennen, dass uns unsere Intuitionen bei Pandemien immer wieder ein Schnippchen schlagen, und wenn wir das wissen, können wir realistischer auf Risiken schauen. Und wir können uns klarmachen, dass wir sehr wohl Einfluss haben: auf die Massentierhaltung und den ihr zugrundeliegenden Fleischkonsum, auf den Klimawandel. Und wir können unseren Staat so weiterentwickeln, dass er die Bürgerinnen besser schützen kann und im Falle einer Krise handlungs- und entscheidungsfähig bleibt. Damit schaffen wir die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit.

Tun wir das nicht, ergeben wir uns unserer Pandemiemüdigkeit, machen den Schnittmeister und wünschen uns einfach in die Zeit vor der Pandemie zurück, dann wird Mark Honigsbaum wohl leider recht behalten: Nach der Gleichgültigkeit ist vor der Panik in der nächsten Pandemie.

Georg Vielmetter

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