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Im Temporausch. Lucas Jakubczyk schafft es dank seiner Technik und seines Trainings bis auf 41 km/h.

© Mike Wolff

Leichtathletik-EM in Berlin: Wie Sprinter ihren eigenen Körper austricksen

Bei der Leichtathletik-EM in Berlin will Lucas Jakubczyk ins 100-Meter-Finale. Dafür trainiert er – ohne Stoppuhr. Aber mit einer besonderen List. Eine Reportage.

Erst kommt die Stille, dann der Knall und darauf folgen die zehn vielleicht intensivsten Sekunden des Sports. Lucas Jakubczyk wird im Startblock knien, den Blick nach unten, in sich versunken, um nach dem Startschuss von 0 auf 100 explosionsartig loszurennen, seine Füße über die blaue Bahn des Berliner Olympiastadions fliegen zu lassen. Die Arbeit von Monaten konzentriert sich auf einer kurzen, geraden Strecke. Und in einem Moment, der so schnell vergeht wie zwei tiefe Atemzüge.

Lucas Jakubczyk hat deshalb keine Zeit zu verlieren. In seinem Training hat er aufs Tempo gedrückt. Die Qualifikation über 100 Meter bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in seiner Stadt Berlin hat er beinahe im Vorbeigehen geschafft. An diesem Dienstagabend steht das Halbfinale an. Wenn er da auch noch durchrauscht, darf er am selben Abend im Finale starten. Im Wettbewerb um den flinksten Mann Europas.

Rennen ist auf den ersten Blick das Natürlichste der Welt. Wenn Kinder laufen können, soll es gleich schnell gehen. Sie flitzen los, dann kommt Fangenspielen dazu und Wettrennen, bei den Bundesjugendspielen meist zum ersten Mal auf einer Bahn mit Ziellinie, Stoppuhr, Urkunde. Alltäglich bleibt der Sprint etwa zum Bus, der noch mit offener Tür an der Haltestelle steht.

Doch Rennen liegt längst unterm Mikroskop. Hunderte von Trainern, Biomechanikern und anderen Wissenschaftlern sind den Sprintern auf den Fersen, verfolgen Schritt und Tritt. Es wird gestoppt, gemessen, ausgewertet, verglichen. Weil Hundertstelsekunden über das Gewinnen einer Medaille bei Weltereignissen wie Olympischen Spielen entscheiden können, lohnt selbst der Blick auf die kleinste Kleinigkeit. Alle Geheimnisse sollen entschlüsselt werden.

Bolt rollte wie Roadrunner

Jakubczyk hat schon eine Menge enträtselt. Sonst hätte er es nicht bei der EM vor vier Jahren in Zürich auf Platz fünf geschafft, die Bronzemedaille verpasste er um drei Hundertstel. „Schon als Kind wollte ich schneller sein als andere. Es ist ein tolles Gefühl, wenn man sich aus einem Pulk von mehreren löst und als Erster durchs Ziel rauscht.“ Ein Moment so direkt und unmittelbar, dass er ihn immer wieder erleben will. Früher hatte sich Jakubczyk auf den Weitsprung spezialisiert. „Da bin ich aus der Grube gekommen und musste erst mal warten, bis ich wusste, wie gut ich war.“

Jetzt gehört er der prominentesten Disziplin an, dem größten und so leicht verständlichen Spektakel der Leichtathletik. An der Startlinie posieren manche Sprinter wie Bodybuilder, schleudern dem Publikum Selbstbewusstsein entgegen. Sie gelten als schwierig und egozentrisch, Jakubczyk behauptete daher noch eine Weile, Weitspringer zu sein.

Der Sprint hat jedoch einige der größten Legenden des Sports hervorgebracht, Jesse Owens ist die vielleicht größte. Die jüngere Vergangenheit füllte Usain Bolt bestens aus. Die Kurzstrecke verwandelte Bolt in eine Show mit Faxen und Tänzchen und Späßchen, das Hauptprogramm war jedoch immer sein Laufen, so dynamisch und elegant. Seine Beine trugen ihn über die Bahn, als würde er rollen wie Roadrunner, die Comicfigur.

Bolts Bewegungsstil nährte sogar die Hoffnung, dass es allein Training und sein Jahrhunderttalent sein könnte, was ihn so rasant macht. Dass er das alles ohne verbotene Hilfe geschafft haben könnte. Denn der Ruhm und auch die Gagen der besten Sprinter sind so hoch, dass die Versuchung zum Betrug mitrennt. Reihenweise sind die Rekordläufer des Dopings überführt worden. Für ein Rennen bekam Bolt schon mal 300 000 Euro, nur damit er sich an die Startlinie stellte.

Jakubczyk muss sich sein Einkommen aus vielen Teilen zusammenbasteln, aus Sporthilfe und Berliner Sportförderung, Preisgeld, Sponsoreneinnahmen und Honoraren dafür, dass er Jugendlichen in seinem Verein SC Charlottenburg das Sprinten beibringt. Es ist ein überschaubarer Kreis von Läufern, die in Deutschland vom Sprinten leben, aber für später wenig zurücklegen können, kaum einmal zehn. Nur 30 Läufer sind in diesem Jahr schneller gelaufen als 10,50 Sekunden.

Drahtig und trotzdem schnell

Von Jakubczyks Temperament lässt nicht auf seine Sportart schließen. Überlegt und geduldig wirkt er, bei Wettkämpfen trommelt er sich nicht wie andere an der Startlinie auf die Brust, sondern fährt sich durch seine Bartstoppeln und winkt freundlich ins Publikum. Heißt denn von Bolt lernen sprinten lernen? Jakubczyk wiegt seinen Kopf hin und her. „Bolt trifft es technisch am besten“, sagt er, „aber es geht darum, sein eigenes Laufbild zu entwickeln und individuelle Lösungen zu finden.“ Bolt sieht anders aus als die muskelbepackten Sprinter vor ihm, die bulldozerhaft über die Bahn donnerten, Ben Johnson etwa oder Linford Christie, athletischer, geschmeidiger. Mit seinen 1,95 Meter überragt er sie auch noch.

An Jakubczyk fallen die langen Unterschenkel auf und seine O-Beine. Die habe er vererbt bekommen, jahrelanges Fußballspielen hätten sie noch ein bisschen mehr auseinandergebracht. Drahtig sieht Jakubczyk aus mit seinen 1,83 Meter und eigentlich gar nicht wie ein Sprinter. Dennoch liegt die Bestzeit des 33-Jährigen bei 10,07 Sekunden. Nur drei Deutsche sind jemals schneller gelaufen. Aus Muskeln allein kann seine Geschwindigkeit nicht kommen.

Was also macht Menschen schnell? Einige Wahrheiten müssten auf dem Trainingsplatz zu finden sein, bei Jakubczyk im Mommsenstadion in Charlottenburg. Nur zwei S-Bahn-Stationen entfernt von dem Ort, an dem er eine Woche später um einen EM-Erfolg rennt. Dabei hilft ihm einer, der das Hochgeschwindigkeitslaufen zum Beruf gemacht hat. Seit etwa 35 Jahren führt Ralph Mouchbahani diese Mission um die ganze Welt. Er war Trainer im Senegal, in Katar, Singapur, Neuseeland, er hat im Auftrag des Auswärtigen Amts und des Deutschen Olympischen Sportbunds das schnelle Laufen im Libanon weitervermittelt, wo er früher selbst zehn Jahre zur Schule ging. Er hat den Schweizer 800-Meter-Läufer André Bucher zum Weltmeistertitel geführt, einen Athleten in Sambia trainiert, der inzwischen die 100 Meter in 9,88 Sekunden rennt. Dabei war Sambia vorher noch nie oben in den Bestenlisten aufgetaucht.

Mit seiner Brille und seinen hinter dem Rücken verschränkten Armen sieht der 60-Jährige aus wie ein fröhlicher Gelehrter des Laufens. „Es gibt nichts Schöneres als eine dynamische Bewegung ohne Fehler“, sagt Mouchbahani. Für Jakubczyk ist es ein Glücksfall, seit Oktober mit ihm zusammenzuarbeiten. Mit seinem alten Trainer ging es nicht mehr weiter, als gäbe es ein Tempolimit. Dass Mouchbahani wieder nach Berlin gezogen war, sieht wie eine Fügung aus. „Das, was ich fühle und was Ralph sieht, deckt sich zu 90 Prozent“, sagt Jakubczyk. Beide verbindet eine Überzeugung: Das Gefühl entscheidet. Nicht die Stoppuhr. Mouchbahani sagt: „Der Lucas muss der Lucas bleiben.“

Eine starke Leistung Jakubczyks bei der EM wäre ein Beleg dafür, dass ihr Weg der richtige ist. Der natürliche. Der, auf sich selbst zu hören und nicht anderen hinterherzurennen. Kein einziges Mal haben sie in den vergangenen Monaten im Training die Zeit gemessen, um Mouchbahanis Hals baumelt keine Stoppuhr. Wenn Jakubczyk sich Ziele setzt, dann ohnehin keine in Sekunden. Sondern in Erfolgen. Bei der EM möchte er eine Medaille gewinnen. In der Staffel wäre es schon seine vierte.

Auf der Suche nach dem perfekten Schritt

Start! Sieben Schritte braucht Jakubczyk für die ersten zehn Meter, 44 für sein gesamtes Rennen.
Start! Sieben Schritte braucht Jakubczyk für die ersten zehn Meter, 44 für sein gesamtes Rennen.

© Mike Wolff

Jetzt also zum Training. Was Jakubczyk übt, hängt vom Rennabschnitt ab. Denn so kurz die 100 Meter sind, sie lassen sich noch zerlegen. Weil sich im Laufe des Rennens die Bewegungen verändern. Drei Phasen haben die 100 Meter. Die Start- und Beschleunigungsphase. Die fliegende Phase mit maximaler Geschwindigkeit. Und die Schlussphase, in der es gilt, so viel wie möglich vom erreichten Tempo zu halten. Die erste Phase dauert etwa vier Sekunden, die zweite und dritte dauern jeweils drei. 100 Meter rennt Jakubczyk im Training nur selten. „Die Intensität eines 100-Meter-Laufs ist so hoch, dass ich sie gar nicht im Training realisieren kann.“ Sein Körper bräuchte dann ein paar Tage, um sich wieder zu erholen, wenn er vorher das Maximale aus ihm herausgeholt hat. Doch diese Zeit benötigt Jakubczyk, um weiter zu trainieren. Außerdem riskiere er beim Training am Limit Verletzungen.

Auch sonst läuft er nicht viel. „Im längsten Fall 21 Sekunden über 200 Meter, im besten 10 über 100. Am Ende bin ich ein hundertprozentig ausgebildeter Fachidiot.“ Joggen sei gar nichts für ihn. „Wenn ich joggen gehen würde, wäre das megaanstrengend.“ Weil es ein anderes Laufen ist. Der Fuß bleibt lange auf dem Boden und er rollt ab, beim Sprinten tippt er nur kurz auf. „Allein die Vorstellung macht mir keine Freude.“

Die Pause ist so wichtig wie die Belastung

In der intensivsten Zeit kommt Jakubczyk mit seinem Training auf eine 20-Stunden-Woche. Die Einheiten im Kraftraum schon eingerechnet. Kann man mit so einem Halbtagsjob Weltklasse laufen? „Es ist ein Missverständnis, dass man Training mit Umfang gleichsetzt. Schnelligkeit hat in erster Hinsicht mit Intensität zu tun“, sagt Mouchbahani und die Pause sei im Hochleistungssport genauso wichtig wie die Belastung. Das erklärt auch, warum es Jakubczyk im Training nicht immer eilig hat. Er schlendert oft lässig über die Bahn. Damit das, was danach kommt, umso mehr Qualität hat.

„Die Frage ist doch: Trainiere ich, um mich zu belasten oder um mir Fertigkeiten anzueignen?“, sagt Jakubczyk. Wann er das letzte Mal nach einem Training fix und fertig war, weiß er gar nicht mehr. Er hat nur für sich herausgefunden: Als er größere Umfänge trainiert habe, habe er sich nach 100 Metern gefühlt wie nach einem Marathon. „Jetzt komme ich ins Ziel und denke, es war eine runde, entspannte Sache.“

Phase eins beginnt, Start- und Beschleunigung. Was jetzt passiert, bestimmt das ganze Rennen. Viel Zeit zum Aufholen bleibt bei 100 Metern nicht. Jakubczyk kniet sich in den Startblock. Ein kurzer Moment Regungslosigkeit. Auf die Bahn vor sich hat er rote Gummibänder in genau abgemessenen Abständen gelegt. Sie sollen ihm helfen, die richtige Schrittlänge zu finden. Es geht um die ersten zehn Meter. Sieben Schritte braucht er dafür. Etwa 44 fürs gesamte Rennen. „Starttraining ist Rhythmustraining“, sagt Jakubczyk, „wie der Rhythmus eines Musikstücks, das man immer wieder abrufen möchte in der gleichen Qualität. Das System muss im Training so programmiert werden, dass es angeschaltet wird und funktioniert.“ Sein Körper streckt sich, dann jagt er los, sein Trainer nickt zufrieden.

Ein guter Start allein bringt den Sprinter noch nicht auf Hochtouren. Er muss jetzt weiter beschleunigen und um das zu trainieren, stellt sich Jakubczyk an die Linie und rennt aus dem Stand los. Zehn, zwanzig, dreißig Meter. Dann schlendert er zurück. Noch einmal läuft Jakubczyk los und das Lächeln im Gesicht seines Trainers wird immer breiter. „Jaaaa, sehr gut!“, ruft Mouchbahani. Diesmal kommt Jakubczyk erst viel später zum Stehen. „Er wollte bestimmt nicht 50 bis 60 Meter laufen, er konnte aber eben nicht bremsen, weil er so gut beschleunigt hat.“

Start und Beschleunigung ist eigentlich nicht Jakubczyks stärkste Phase. Dazu müsste er mehr dicke Muskeln haben. Wie beim Anschieben eines Autos muss die Masse erst einmal in Bewegung gebracht werden, und dafür braucht es Maximalkraft, vor allem aus dem Gesäßmuskel. Erst im weiteren Streckenverlauf geht es um die Schnellkraft. Jakubczyks große Stärke ist der fliegende Bereich, wenn der Körper volles Tempo läuft. Auf was achtet er dabei? „Dass ich mich treffe“, sagt Jakubczyk, und dieser Satz wird bei den Trainingseinheiten so häufig fallen, dass er vielleicht der Schlüsselsatz ist. Sich treffen, damit meint Jakubczyk: den perfekten Schritt setzen. Und das perfekte Rennen läuft er, wenn jeder Schritt ein Treffer ist.

Unterwegs mit 41 km/h

Getroffen hat Jakubczyk, wenn sein Fuß am richtigen Punkt aufkommt: unterhalb des Körperschwerpunkts. Wenn der Fuß dagegen vor dem Körper landet, wirkt er wie eine Bremse. Rückmeldung bekommt Jakubczyk beim Rennen vom Boden. „Ein schneller Schritt hat einen kurzen Bodenkontakt“, sagt Mouchbahani. „Der Bodenkontakt ist Fluch und Segen, weil er einerseits bremst, aber er ist die einzige Möglichkeit, um zu beschleunigen. In der Luft können wir das nicht.“

Gerade in Phase zwei, beim Rennen in Höchstgeschwindigkeit, hilft die pure Kraft nicht mehr, dann ist die Technik besonders wichtig. Für seine schnellsten zehn Meter in dieser Phase brauchte Jakubczyk einmal nur 0,87 Sekunden, war also mit 41 km/h unterwegs. Dass er gerade im fliegenden Bereich so stark ist, zeigt eines seiner größten Talente. „Motorisch gesehen habe ich ein gutes Potenzial. Ich kann viele Dinge sehr schnell lernen.“ Im Grunde entschied er sich erst 2012, ganz auf den Sprint zu setzen, mit 27 Jahren. Zwei Jahre später stand er im EM-Finale.

Phase drei. Der menschliche Körper schafft es etwa acht Sekunden lang, Höchstleistung zu bringen. Dann ist das Energiesystem erst mal leer, der Körper schaltet auf andere Aggregate um, das Nervensystem wird nicht mehr wie bisher gefüttert, der Körper ermüdet. Jetzt geht es darum, den Geschwindigkeitsabfall zu kontrollieren. Den Bodenkontakt möglichst kurz zu halten. Auch das ist eine Frage der Technik. Das Training für Phase drei ergibt sich aus Phase zwei. Die Technik muss so stabil sein, dass sie auch die Erschöpfung aushält. Weil Jakubczyk nur selten die 100 Meter im Training durchläuft, ergibt sich die Simulation weniger über die Länge als über die Wiederholung. Dreimal 80 Meter können ihn auch bis an die Grenze führen.

Wenn die Nerven den Befehl erhalten: jetzt feuern!

Supramaximal. Ralph Mouchbahani zieht Lucas Jakubczyk mit einer Art Flaschenzugsystem.
Supramaximal. Ralph Mouchbahani zieht Lucas Jakubczyk mit einer Art Flaschenzugsystem.

© Friedhard Teuffel

Die EM rückt näher. Zeit für eine Überprüfung. Nicht der Sekunden, sondern der Technik. Jakubczyk schaut sich seine Startphase als Video an. „Rechts bin ich mit der Beinführung etwas abwartend und suchend, das wirkt sich auf das Schrittmuster aus.“ Mouchbahani findet, dass er den Unterschenkel zu früh öffne. Der Kniewinkel muss spitz sein, sonst landet der Fuß zu weit vorne und der Körper richtet sich zu früh auf. Wenn der Winkel stimmt, geht es automatisch voran. Noch einmal rennt Jakubczyk los. Auf die bewegten Bilder muss er jetzt nicht mehr schauen. „Ich habe gemerkt, wie es mich beschleunigt, wie ich nach vorne komme.“ Jetzt läuft es wie von selbst.

Es gibt Tricks, die beim Schnellerwerden helfen. Abwärts zu laufen. Oder sich ziehen zu lassen. Und jeweils geht es darum, den Körper auszutricksen, ihm vorzugaukeln, dass er noch schneller kann. Um sich selbst zu überholen, lässt sich Jakubczyk manchmal ziehen. Am Rand der Bahn liegt ein dünnes gelbes Seil, ein Ende wird bei Jakubczyk in einen Brustgurt eingeklinkt, das andere Ende zieht Mouchbahani wie über einen Flaschenzug. Mouchbahani reicht als Begleiter ein Dauerlauf, Jakubczyk aber, der inzwischen seine Laufschuhe gegen Spikes getauscht hat, rennt voll durch.

Bis zu fünf Prozent mehr Geschwindigkeit bekommt er durch das Zugsystem. Nach dem dritten Lauf ist Jakubczyk zufrieden. „Der war sehr leicht, sehr frei.“ „Willst du noch mal?“ fragt ihn sein Trainer, aber Jakubczyk lehnt ab. Mehr will er seinem Körper heute nicht zumuten. Das wären 10,35 bis 10,40 Sekunden gewesen, schätzt Mouchbahani, extrem flott für einen Trainingslauf.

Laufen außer Kontrolle - supramaximal

Mehr Intensität als bei solchen Zugläufen geht kaum. Supramaximal werden sie genannt. Höchstens alle ein bis zwei Wochen wählt Jakubczyk diese Trainingsform und nie mehr als vier, fünf Wiederholungen. Im Sportforum Hohenschönhausen gibt es eine Seilwinde, von der sich Sprinter ziehen lassen können. Einmal versagte die Bremse, die Winde zog einen Läufer an die Wand, er brach sich mehrere Knochen. Wenn man zu schnell gezogen werde, gehe die Kontrolle verloren, sagt Jakubczyk, man gerate in ein schräges Laufbild, in dem die Schritte zu lang werden und der Fuß den Körper ausbremst.

Vor den supramaximalen Läufen hätten manche auch Angst und würden sie wenig oder gar nicht einsetzen. „Die Verletzungsgefahr ist sehr hoch, das Nervensystem wird sehr stark belastet, die Regenerationszeit ist sehr lang. Man braucht drei Tage Abstand, damit man es nicht überreizt.“ Unmittelbar vor einem Wettkampf würde er so etwas nie machen. Für Jakubczyk sind diese Läufe ein kostbares und sparsam benutztes Mittel. Sie setzen im Körper ungewöhnliche Reize. „Diese Reize muss das System verarbeiten und wenn es solchen Reizen öfter ausgesetzt wird, lernt es, sich darauf einzustellen.“ Das Tempo wird gespeichert.

Was der Kopf beeinflusst

Sprinten ist Nervensache. Es gilt, Befehle an die Muskeln zu geben, sich anzuspannen und zu entspannen. Jakubczyk fasst seinen Auftrag so zusammen: „Ich signalisiere meinem Nervensystem: Du musst jetzt feuern.“ Und Mouchbahani sagt: „Wenn man weiß, wie man das Nervensystem aktivieren kann, hat man schon das meiste geschafft.“ Doch wenn die Belastung zu hoch ist, gelingt es nicht mehr, die nötige Spannung aufzubauen. Und Mouchbahani kann verfolgen, wie die Koordination seines Athleten in sich zusammenfällt.

Aber schafft es Jakubczyk überhaupt zur EM? Zwei Wochen vorher liegen mehrere deutsche Sprinter eng beisammen, nur drei können im Einzel starten. Die deutschen Meisterschaften in Nürnberg müssen die Entscheidung bringen. Jakubczyk fühlt sich nicht gut, er hat Schmerzen im unteren Rücken und weiß nicht, was sein Körper dazu sagt, wenn er ihn gleich voll beschleunigt. Doch da gibt es noch etwas anderes. Seine mentale Stärke. Wenn schnellere Läufer neben ihm stehen, mache ihm das keine Angst. Er freue sich drauf. Mit ungewöhnlichen Situationen komme er gut zurecht. Bei seinem 5. Platz bei der EM in Zürich herrschten ungemütliche 14 Grad, der Wind kam von vorn, zwischenzeitlich musste das Stadion wegen eines Orkans geräumt werden. Egal.

In Nürnberg kommt Jakubczyk als Dritter ins Ziel. Er wird für die EM nominiert. „Für mich stand fest, dass ich mit einer Medaille aus Nürnberg nach Hause komme. Ich bin mental gut klargekommen“, sagt er, und aus ihm spricht mehr Realismus als Selbstbewusstsein. Im Frühling ist er Vater einer Tochter geworden, das entspanne ihn zusätzlich und bringe ihn auf andere, wichtige Gedanken. Er fühlt sich gut vorbereitet. Er trifft mit seinen Schritten. Er freut sich auf die EM. Das sind eigentlich genügend Tempomacher. Jetzt kann es schleunigst losgehen.

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