Politik: Letzte Fragen
Quer durch alle Parteien finden viele im Bundestag, dass es wohl keine überzeugende Lösung geben kann
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Es gibt viele Sorten Debatten im Deutschen Bundestag, laute und lahme, langweilige und larmoyante. Für die dreieinhalb Stunden an diesem Donnerstagvormittag aber über das Thema „Patientenverfügung“ haben die Beteiligten extra ein neues Wort erfunden, so ungewöhnlich ist der Vorgang: „Orientierungsdebatte“. Der Bundestag, soll das heißen, weiß selbst noch nicht so genau. In der Plenarsaal-Arena, sonst ein Ort der sauber nach Parteibuch geschiedenen Gewissheiten, zählen die leisen Worte, die tastenden Gedanken, die persönlichen Bekenntnisse. Denn es geht ausnahmsweise mal nicht um anonyme „Bürger draußen im Land“ mit Sorgen, die Abgeordnete meist nur vom Hörensagen kennen. Es geht um letzte Fragen.
Man spürt diese persönliche Betroffenheit häufig durch. Wenn Brigitte Zypries zum Beispiel erzählt, wie sie eine Patientenverfügung für sich selbst verfasst hat, die Broschüre ihres Justizministeriums als Anleitung dabei. „Ich hab’ zwei Stunden gebraucht“, gesteht Zypries. Oder wenn einer wie Olaf Scholz plötzlich für sich selbst spricht, wenn er davor warnt, Patientenverfügungen auf Fälle unheilbarer Krankheit einzuschränken: Das gehe doch nicht, ihm den freien Willen beschneiden zu wollen, „weil andere, insbesondere der Deutsche Bundestag, es besser wissen als wir“. In Scholz’ Politikerempörung schwingt ganz leise etwas mit, was da sonst selten ist: Angst.
Tatsächlich dreht sich die Debatte immer wieder um eine Kernfrage: Kennt der Mensch sich selber gut genug, um heute festlegen zu können, ob er morgen lieber sterben als im Rollstuhl, mit Schmerzen, künstlich ernährt trotzdem weiter leben will? Ja, sagen die Befürworter einer uneingeschränkten Patientenverfügung und verweisen auf das Selbstbestimmungsrecht. Das Grundgesetz, sagt der SPD-Mann Joachim Stünker, kenne das Recht auf Leben, aber keine „Pflicht zum Leben“.
Nein, sagen hingegen die Anhänger des zweiten Gruppenantrags, der Patientenverfügungen auf Krankheiten beschränken will, die sicher zum Tode führen. Der CDU-Mann Wolfgang Bosbach erzählt als Beispiel die Geschichte der alten Dame, die nach künstlicher Beatmung aufwachte und heilfroh war, dass niemand ihre Patientenverfügung gefunden hat, in der sie sich diese Rettung verbeten hatte. Jeder Mensch, ist Bosbachs Fazit, könne seine Meinung ändern – besser darum, ihm diese Chance auch gegen einen früher erklärten Willen zu geben. Aber, wendet Zypries ein, wenn der damals erklärte Wille auch der aktuelle des Patienten sei, werde der doch Opfer einer Zwangsbehandlung? Aber, sagen dagegen Anhänger des Bosbach-Antrags, wenn der aktuelle Wille des Schwerkranken eben nicht mehr der früher aufgeschriebene sei, bezahle er seinen Irrtum über sich selbst doch mit dem Leben?
Ein Abwägungsproblem, „für das es eine rundum überzeugende Lösung wahrscheinlich nicht gibt“, wie Norbert Lammert zwischendurch einwirft, was er vom Stuhl des Parlamentspräsidenten aus eigentlich nicht darf. Aber niemand moniert die Einmischung. Im Stillen geben wohl viele Lammert recht. Quer durch die Parteien erscheint einigen das Dilemma sogar so groß, dass sie davon abraten, es überhaupt regeln zu wollen. „Ich glaube, wir übernehmen uns da“, warnt der CDU-Mann Hubert Hüppe.
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