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Hohe Dunkelziffer: Die meisten Behandlungsfehler passieren bei Operationen.

© Georg Wendt/dpa

Experten verlangen besseren Patientenschutz: Meldepflicht bei Behandlungsfehlern gefordert

Patienten sind aus Expertensicht in Deutschland zu wenig vor Behandlungsfehlern geschützt. Nötig wäre etwa ein zentrales Meldesystem.

Für erkrankte Menschen und ihre Angehörigen war das Patientenrechtegesetz von 2013 ein Meilenstein. Denn erstmals wurden damit die aus medizinischen Behandlungsverhältnissen erwachsenden Rechte und Pflichten auf eine legale Grundlage gestellt und für alle transparent gemacht. Doch nach neun Jahren ist es aus der Sicht des Sozialverbands Deutschland (SoVD) an der Zeit, dieses Paragrafenwerk nachzuschärfen. Nötig sei beispielsweise eine stärkere Berücksichtigung der Interessen von Patient:innen, chronisch Kranken, Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderung an den Entscheidungsprozessen im Gesundheitswesen, heißt es in einem Forderungspapier, das der Verband heute in Berlin vorlegte. Zudem müsse „die Patientensicherheit insgesamt verbessert werden, um einen wirklich wirksamen Schutz vor Behandlungsfehlern zu erreichen“.

Das Gesetz sei „in vielen Teilen ein zahnloser Tiger“, sagte SoVD-Präsident Rolf Bauer. Und auch vom AOK-Bundesverband ist zu hören, dass die Patientenrechte dringend weiterentwickelt werden müssten. Patient:innen, die einen Behandlungsfehler vermuteten, hätten „nach wie vor große Probleme, ihre Rechte durchzusetzen“, sagte Vorstandschefin Carola Reimann. „Vor allem die viel zu hohen Hürden bei der Beweisführung, die oft lange Verfahrensdauer und Probleme bei der Schadensregulierung sind aus unserer Sicht anzugehen.“ 

Tatsächlich ist die Frage, ob und wie viele Patient:innen in Krankenhäusern, Arztpraxen und Pflegeeinrichtungen Opfer von solchen Fehlern werden, nach wie vor nur sehr vage zu beantworten. Fakt ist: In rund jedem vierten gemeldeten Fall haben die Gutachter der Medizinischen Dienste im Jahr 2020 einen vermuteten Behandlungsfehler bestätigt. Und in jedem fünften Fall war der bestätigte Fehler ursächlich für den Gesundheitsschaden – was Voraussetzung für Schadensersatzansprüche der geschädigten Patienten ist. Doch die Dunkelziffer liegt weit höher, denn viel schief Gelaufenes wird ignoriert, verheimlicht, nicht gemeldet. Oder es ist, falls es doch auf den Tisch kommt, nur schwer nachweisbar. Viele Betroffene wüssten nicht, dass sie Opfer eines Behandlungsfehlers sind, resümiert der Verband. Und dies sei „nicht zuletzt auf das erhebliche Wissensgefälle um das Behandlungsgeschehen zum Nachteil der Patient:innen zurückzuführen“.

„Offenbarungspflicht“ für Mediziner

Dass weiterer Regelungsbedarf besteht, bestätigt ein rechtswissenschaftliches Gutachten aus der Feder des Medizinrechtlers Thomas Gutmann von der Universität Münster, das vom SoVD in Auftrag gegeben wurde und das dem Tagesspiegel Background vorliegt. Es listet insgesamt 16 Stellen im Bürgerlichen Gesetzbuch oder dem Sozialgesetzbuch V auf, die nachgebessert werden müssten. Das reicht von einer Pflicht des Behandelnden, den Patienten auch ohne Nachfrage „Tatsachen mitzuteilen, die das Vorliegen eines Behandlungsfehlers möglich oder naheliegend erscheinen lassen“ bis hin zur Forderung nach einem Härtefallfonds mit gedeckelten Ansprüchen, ergänzend zum bestehenden Haftungssystem.

Erforderlich ist aus der Sicht des SoVD zunächst einmal eine Stärkung der Patientenposition im Behandlungsverhältnis und bei Arzthaftungs-Prozessen. Dazu gehört beispielsweise eine „Beweismaßreduktion“. Für den Nachweis einer Kausalität zwischen Behandlungsfehler und eingetretenem Schaden müsse „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ genügen, so der Verband. Außerdem müssten Verstöße gegen die „Offenbarungspflicht“ bei Behandlungsfehlern ebenso zu einer Beweislastumkehr führen wie das Verweigern oder Verzögern einer umfassenden Einsichtnahme in die Patientenakte.

Mehr Unterstützung durch Krankenkassen  

Daneben dringt der Verband auf stärkere Unterstützung der Versicherten durch die Krankenkassen. Im SGB V findet sich dazu lediglich eine „Soll“-Vorschrift, nötig sei aber eine „zwingende Unterstützungspflicht“. Wenn den Kassen offensichtliche Anhaltspunkte für mögliche Behandlungs- oder Pflegefehler vorlägen, müssten sie ihre Versicherten darüber unterrichten. Und die Auswahl bestimmter Leistungen durch die Krankenkassen müsse auch sozialgerichtlich überprüfbar sein.

Im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dem höchsten Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung, dürfen Patientenvertreter:innen seit 2004 mitreden. Und seit 2012 sind ihre maßgeblichen Interessenverbände dort an Entscheidungsprozessen beteiligt. Doch auch hier gibt es aus der Sicht des SoVD Nachbesserungsbedarf. So seien Verfahrensrechte für die Patientenvertreter zu erweitern – etwa bei Tagesordnungen oder bei der Entscheidung zur Hinzuziehung von Sachverständigen. Außerdem müssten deren Organisationen für ihre „systemunterstützende Arbeit“ im G-BA personell und finanziell gestärkt werden.

Auch die WHO drängt

Zur Verbesserung der Patientensicherheit schließlich fordert der Sozialverband zweierlei. Erstens: ein „zentrales und unabhängiges Fehlermelderegister“, das Informationen über Behandlungs- und Pflegefehler anonym bündelt und Empfehlungen zur künftigen Fehlervermeidung abgibt. Und zweitens eine sanktionsbewehrte Meldepflicht für besonders folgenschwere Fälle, die sogenannten „Never Events“. Beispiele dafür sind etwa Dekubitus-Ereignisse bei Pflegebedürftigen, im Körper vergessene Gegenstände bei Operationen oder Operationen an falschen Körperteilen. Sie führen meist zu gravierenden Schäden und wären durch entsprechende Vorsichtsmaßnahmen leicht und verlässlich zu vermeiden. 

Seit Jahren, so beklagt der SoVD, sei die Zahl solcher „Never Events“ gleichbleibend, zudem sei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Zur Verbesserung der Patientensicherheit bedürfe es hier deutlich strengerer Vorgaben bei der Meldepflicht. Auch die WHO hat ihre Mitgliedstaaten bereits zur Einrichtung eines unabhängigen Untersuchungsmechanismus in Fällen von schwerwiegenden Schäden und „Never Events“ aufgefordert. Ziel der Weltgesundheitsorganisation ist es, dass 90 Prozent aller Mitgliedsstaaten bis zum Jahr 2030 über ein System zur Meldung von „Never Events“ verfügen.

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