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Was ist ein Freispruch wert?: Mord nach 40 Jahren wieder aufgerollt – wegen eines neuen Gesetzes
1981 wird die Schülerin Frederike von Möhlmann vergewaltigt und ermordet. Jetzt könnte die Tat gesühnt werden. Doch um welchen Preis?
Stand:
Was Hans von Möhlmann widerfahren ist, ist der Albtraum aller Eltern: Am Abend des 4. November 1981 steigt seine damals 17-jährige Tochter Frederike in Celle in ein fremdes Auto ein, um von der Chorprobe nach Hause zu kommen.
Die Schülerin will ins zwölf Kilometer entfernte Olde. Vier Tag später wird ihre Leiche gefunden. Der Täter hat sie vergewaltigt und ihr die Kehle durchgeschnitten. Und er hat Spuren am Tatort hinterlassen.
Schnell rückt der junge Mann Ismet H. in den Fokus der Ermittlungen. Er hat kein Alibi, Spuren an der Kleidung der toten Frederike lassen sich einem Teppich in seinem BMW zuordnen. 1982 wird er vom Landgericht in Lüneburg zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Doch schon kurz darauf wird das Urteil wegen eines Rechtsfehlers zurückgenommen, ein Jahr später wird der Täter überraschend freigesprochen.
2014 bringt die neue DNA-Technik die Wende in dem Fall: Ein Haar von Ismet H., das damals gesichert wurde, passt mit Spuren aus der Unterwäsche von Frederike zusammen.
Doch obwohl die Schuld von Ismet H. nun erwiesen ist, kann er nicht verurteilt werden. Denn in Artikel 103 Absatz III des Grundgesetzes steht, dass niemand aufgrund derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden darf. Es gilt der Grundsatz „ne bis in idem“, nicht zweimal in derselben Sache.
Mit diesem Gesetz soll dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Rechtsstaatsprinzip Rechnung getragen werden. „Es soll verhindert werden, dass man wegen derselben Tat immer wieder verfolgt wird“, erklärt die Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Hans von Möhlmann fordert Gerechtigkeit
„Das Gesetz bietet Schutz davor, dass jemand, der freigesprochen wird, immer und immer wieder vor Gericht gestellt werden kann. Irgendwann muss Schluss sein, das ist der Hintergrund.
Insbesondere mit Blick auf den Nationalsozialismus, wo man immer wieder an jedes Urteil rangehen konnte, egal, wir klagen einfach nochmal an. Dieser Willkür sollte ein Riegel vorgeschoben werden.“
Es gibt nur wenige Ausnahmen, in denen von dem Grundsatz abgewichen werden kann, etwa wenn der Freigesprochene außergerichtlich ein Geständnis der Tat ablegt oder sich Beweismittel als gefälscht herausstellen.
Nichts davon trifft auf Ismet H. zu, der Fall, dass neue Beweismittel auftauchen war nicht im Gesetz geregelt. Eine Grundlage, das Verfahren nochmal zu eröffnen, gab es nicht - für Hans von Möhlmann eine Katastrophe.
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Mit seinem Anwalt Wolfram Schädler strengt er einen Zivilprozess auf Schmerzensgeld an. Den verliert er zwar, weil die Ansprüche verjährt sind, doch das Oberlandesgericht Celle stellt fest: Ismet H. ist der Mörder von Frederike.
Hans von Möhlmann schöpft neue Hoffnung und startet 2016 eine Petition, um eine Gesetzesänderung zu erreichen. Mehr als 100.000 Menschen unterstützen seine Initiative und bewirken so, dass der Bundestag 2021 für eine Änderung des § 362 StPO stimmt. Der Paragraph bekommt den Annex Nr.5 der besagt, dass die Verurteilung eines Freigesprochenen dann möglich ist, wenn dieser eine besonders schwere Straftat begangen hat und neue Tatsachen oder Beweise vorliegen.
Begründet wird er damit, dass Hinterbliebenen der Opfer solch furchtbarer Verbrechen nicht zugemutet werden könne, bei Vorliegen neuer Beweismittel auf die Durchführung eines Strafverfahrens zu verzichten.
Er ist begrenzt auf wenige gravierende Straftaten wie den Mord und findet nun im Fall Ismet H. zum ersten Mal Anwendung. Das Landgericht Verden hat Haftbefehl gegen ihn erlassen, weil das Gericht Fluchtgefahr annimmt und befürchtet, dass der Beschuldigten in die Türkei absetzen könnte, sitzt er seit Februar 2022 in Untersuchungshaft.
In Verden könnte Rechtsgeschichte geschrieben werden
Mit einer Verurteilung könnte nun in Verden Rechtsgeschichte geschrieben werden. „Mein Mandant zieht daraus viel Trost, auch aus der großen Anteilnahme der Öffentlichkeit“, sagt Rechtsanwalt Wolfram Schädler dem Tagesspiegel.
Hans von Möhlmann ist gesundheitlich schwer angeschlagen, wegen seiner Diabetes ist ihm ein Bein amputiert worden. Daraus, dass sich nun etwas bewegt, schöpfe von Möhlmann Lebenskraft, meint Schädler.
„Wir blicken zuversichtlich in die Zukunft. Aber zufrieden sind wir erst, wenn Ismet H. rechtskräftig verurteilt ist.“ Mit der Gesetzesänderung habe sich der Gesetzgeber wieder auf die Seite der materiellen Gerechtigkeit gestellt, ist er sich sicher, wie schon bei der Aufhebung der Verjährung für Mord im Jahr 1979.
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Das sehen viele Menschen anders. Vor allem Verfassungsrechtler hatten massive verfassungsrechtliche Bedenken gegen einen solchen „Freispruch unter Vorbehalt“ geäußert, ebenso wie Strafrechtler und Anwaltsverbände und sogar der Bundesjustizminister.
„Meine Auffassung als Abgeordneter und als Rechtspolitiker ist, dass dieses Gesetz ein erhebliches Problem darstellt und man sich schon die Frage stellen muss, ob hier nicht sogar die Verfassung verletzt ist.
Ich persönlich halte es für richtig, dass wir uns die Frage noch mal vornehmen“; erklärte Marco Buschmann im Januar dieses Jahres und verwies darauf, dass das Ministerium auch unter der Leitung seiner Vorgängerin Bedenken geäußert habe.
Trotzdem sei das Vorhaben am Ende der Legislaturperiode quasi in letzter Minute durchgedrückt worden. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte das Gesetz im vergangenen Jahr nur mit Bauchschmerzen unterschrieben und gleichzeitig eine erneute Prüfung im Bundestag angeregt. Auch der Verfassungsrechtler Helmut Aust, der an der FU Berlin lehrt, sieht das neue Gesetz sehr kritisch.
Er fürchtet vor allem die Verlockung, die Argumentation auf andere Straftaten auszudehnen. Schwerstes Leid von Angehörigen lasse sich auch in anderen Fällen nicht wegdiskutieren.
„Der Fall Frederike von Möhlmann ist extrem. Ich kann nachvollziehen, dass man schier daran verzweifelt, wenn Gerechtigkeit aus der Perspektive von Einzelnen nicht hergestellt werden kann.
Aber das Rechtssystem muss auch darauf achten, dass Fälle abgeschlossen werden können und man nicht immer wieder damit rechnen muss, dass ein gerichtliches Urteil noch nicht das Ende eines Prozesses bedeutet.
Ein Freispruch muss ein Freispruch bleiben.“ Denn es gebe genug Gerichtsverfahren, in denen Menschen völlig zu Recht freigesprochen würden, diese müssten nun ihr Leben lang bangen, dass sie erneut vor Gericht gestellt werden.
Ist das besser als einen mutmaßlichen Mörder frei herumlaufen zu lassen? Ja, meint die Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven.
„Es geht hier um Gerechtigkeit und Wahrheitsfindung“
„Ich halte das Gesetz für richtig“, sagt sie. „Die Kritiker vernachlässigen, dass auf der anderen Seite der Waagschale sehr wichtige Dinge stehen. Es geht hier um schwerste Taten wie Mord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die die Rechtsgemeinschaft erschüttern.
Dass jemand, der sich einer solchen Tat schuldig gemacht hat, nicht verurteilt werden kann, ist der Öffentlichkeit kaum vermittelbar. Gerechtigkeit und Wahrheitsfindung darf in diesen Fällen Vorrang gegenüber dem Rechtsfrieden zukommen.“
Indes hat der Strafverteidiger von Ismet H. Beschwerde gegen die Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen seinen Mandanten gestellt, er rügt sie als verfassungswidrig.
„Die Kammer kennt die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, hat sie aber nicht für ausreichend erachtet“, sagte die Pressesprecherin des Landgerichts Verden Sara Teufel dem Tagesspiegel.
„Über die Beschwerde entscheidet nun die nächste Instanz, das Oberlandesgericht Celle. Sollte dieses von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes überzeugt sein, wird es das Gesetz dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vorlegen. Für die Vorlage zum Bundesverfassungsgericht muss man von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes überzeugt sein, bloße Zweifel genügen nicht und verpflichten den Richter, das Gesetz anzuwenden.“ In Karlsruhe könnte das Gesetz wieder einkassiert werden, Ismet H. dadurch wieder zu einem freien Mann werden.
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Einen Ausweg aus der Dilemma-Situation gibt es nicht. Fest steht bislang nur: Innerhalb eines halben Jahres muss verhandelt werden, denn länger lässt sich die Untersuchungshaft von Ismet H. nicht aufrechterhalten, auch seine Freiheitsrechte gilt es zu berücksichtigen.
Anfang Juni wird in Bayern die Frühjahrsministerkonferenz tagen, dort könnte die Erweiterung der StPO-Vorschrift noch einmal aufs Tableau kommen.
Insbesondere Hamburgs grüne Justizsenatorin Anna Gallina steht dieser kritisch gegenüber. „Diese Neuregelung ist das Ergebnis einer überstürzten Gesetzgebung. Sie wurde im Hauruckverfahren ohne ausreichende parlamentarische Beratung durchgepeitscht.“
Wolfram Schädler bleibt derweil gelassen. „Wir haben sehr gute Argumente. Ich blicke jeglichen Diskussionen in dieser Causa mit Ruhe entgegen.“
Lea Schulze
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