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Exklusiv

Offizielle Statistik: Zahl der Todesopfer rechter Gewalt offiziell nach oben korrigiert

Der Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Stahlknecht (CDU), stuft drei Morde aus den Neunzigerjahren nun offiziell als rechtsextremistisch motiviert ein. Anlass sind Recherchen des Tagesspiegels und zweier weiterer Zeitungen.

Von Frank Jansen

Mit Baseballkeulen drangen die rechten Skinheads am Abend des 24.April 1993 in die Disco im Kulturhaus von Obhausen ein, einer Gemeinde in Sachsen-Anhalt. Die 40 bis 50 Angreifer schlugen um sich, am Ende lag ein Besucher, der 23-jährige Matthias Lüders, mit einem Schädelbasisbruch am Boden. Zwei Tage später war er tot. Ein knappes Jahr danach verurteilte das Landgericht Halle den Skinhead, der Lüders geprügelt hatte, zu dreieinhalb Jahren Jugendstrafe. Ein Fall, wie er in Ostdeutschland mehrfach vorkam: ein mildes Urteil nach einem rechten Gewaltverbrechen, das zudem als unpolitisch eingeordnet wird. Aber wenigstens in diesem Punkt erfolgt nun, 19 Jahre später, eine Korrektur.

Der Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Stahlknecht (CDU), stuft den Fall jetzt nach gemeinsamer Prüfung mit dem Landesjustizministerium als rechts motiviertes Tötungsverbrechen ein – und noch zwei weitere Gewaltdelikte aus den 90er Jahren. Damit steigt die offizielle bundesweite Zahl der Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung auf 63. Stahlknecht wird an diesem Donnerstag dem Innenausschuss des Landtags dazu Bericht erstatten.

Anlass der monatelangen Sichtung von Polizei- und Justizakten war der enorme Kontrast zwischen den Angaben der Bundesregierung zu rechts motivierten Tötungsverbrechen und den Recherchen des Tagesspiegels und zweier weiterer Zeitungen seit dem Jahr 2000. In der Liste des Tagesspiegels werden aktuell 148 Todesopfer rechter Gewalt erwähnt.

Frank Jansen über die "braune Gefahr" in Deutschland:

Die Landeskriminalämter hatten vor Stahlknechts Initiative lediglich 60 Tote gemeldet. Der Christdemokrat, erst seit einem Jahr im Amt des Innenministers, sah Klärungsbedarf. Er bat vor mehreren Monaten den Tagesspiegel, alle offiziell nicht als rechts eingestuften Tötungsdelikte aus Sachsen-Anhalt zu nennen. Stahlknecht bekam neun Fälle aus der Todesopferliste der Zeitungen und initiierte die Prüfung. Dass er sich die Mühe machte, begründete der Minister jetzt mit seinem „Anspruch, transparente Politik zu betreiben“. Und es dürfe nicht der Eindruck entstehen, „Gewaltverbrechen würden wegen mangelnder Sorgfalt falsch bewertet“.

Bei den zwei weiteren Fällen, die Sachsen-Anhalt nachmeldet, handelt es sich um Verbrechen aus dem Jahr 1999. Im Oktober des Jahres quälten im Ort Löbejün ein Rechtsextremist und zwei Kumpane den geistig behinderten Hans-Werner Gärtner (37) zu Tode. Das Trio schlug auf Gärtner ein, sperrte ihn in einen Gully und fuhr mit dem Opfer zu einem Badesee, wo es beinahe ertränkt wurde. Die Täter karrten den Behinderten weiter herum und setzten die Prügelorgie fort. Gärtner starb noch in der Tatnacht. Das Landgericht Halle verurteilte die drei Schläger zu lebenslanger Haft.

Fall drei: Ende Dezember 1999 schlugen drei Männer, zumindest einer ein Rechtsextremist, in Halle auf den behinderten Jörg Danek (38) ein. Ein Täter trat mit Springerstiefeln dem Opfer gegen den Kopf. Danek erlag am nächsten Tag seinen schweren Verletzungen. Der Rechtsextremist wurde vom Landgericht Halle zu lebenslanger Haft verurteilt, auch die beiden anderen Täter erhielten mehrjährige Strafen.

Das Innenministerium, das die Polizei in die Prüfung der alten Fälle einbezog, achtete vor allem darauf, ob die seit 2001 geltende, bundesweite Definition zur Erfassung politisch motivierter Kriminalität anzuwenden war. In dem Regelwerk wird nicht nur die Gesinnung von Tätern genannt, sondern auch, ob Opfer in klassische rechtsextreme Feindbilder passen.

Nach Ansicht des Innenministeriums hätten sogar fünf Altfälle als rechts motiviert eingestuft werden können, doch das wäre womöglich dem Justizministerium zu weit gegangen. Stahlknecht hat jedoch noch ein Zeichen gesetzt. Am Mittwoch traf er sich mit der Witwe von Helmut Sackers (60), den im April 2000 ein Rechtsextremist in Halberstadt erstochen hatte. Der Fall konnte aber nicht rückwirkend als rechtsextremes Delikt gewertet werden, da das Landgericht Halle den Täter freigesprochen hatte – somit liegt juristisch kein Verbrechen vor.

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