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Das Bild soll zwei russische Soldaten im Osten der Ukraine zeigen.

© Russian Defense Ministry Press Service/AP/dpa

Russland zieht Reservisten zusammen: Experten rechnen mit Verschärfung der Angriffe in der Ukraine

Offenbar sollen zusätzliche Soldaten Russlands Angriffe forcieren. Allerdings mehren sich auch die Hinweise auf eine ukrainische Gegenoffensive im Süden.

Die russische Armee beordert 136 Tage nach Kriegsbeginn dem britischen Militärgeheimdienst zufolge Reservisten aus dem ganzen Land an die Grenze zur Ukraine. Es handele es sich bei den Verstärkungen um „Ad-hoc-Zusammenstellungen“, allerdings mit veraltetem oder ungeeigneten Gerät. So habe ein großer Teil der russischen Reserven, die aus dem ganzen Land zusammengezogen würden, lediglich Truppentransporter des sowjetischen Typs MT-LB zur Verfügung.

Diese Fahrzeuge seien deutlich schwächer gepanzert und bewaffnet als die Schützenpanzer BMP-2, die zu Kriegsbeginn eingesetzt wurden. Die frischen Kräfte sollen vermutlich dort für künftige Offensiven zur Verfügung stehen, heißt im auf Twitter veröffentlichten Update des Geheimdienstes zur Lage im Ukraine-Krieg.

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Auch führende Militärexperten in Deutschland rechnen mit einer Verschärfung der russischen Offensive in der Ukraine. „Der russische Präsident Wladimir Putin hat das strategische Ziel ausgegeben, die Ukraine zu ‚entnazifizieren‘ und zu ‚entwaffnen‘.“ Dieses Ziel werde er für die gesamte Ukraine nicht erreichen, sagte der ehemalige Bundeswehrgeneral Hans-Lothar Domröse den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.

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„Der Kremlchef hat jedoch die Eskalationsdominanz. Nur Russland kann jeden Tag mehr Artillerie, mehr Panzer, mehr Schiffe und mehr Flugzeuge schicken. Die ukrainische Armee hat nur die Option, zu verzögern, sich geschickt zu wehren“, so Domröse. Die Ukraine benötige noch ein paar Monate, um die westlichen Waffen und die entsprechende Ausbildung zu bekommen.

Wendepunkt im Herbst?

„Wenn es die Ukrainer schaffen, hier und da Nadelstiche in die russische Landbrücke im Süden zu setzen und die Versorgung der Russen im Bezirk Donezk zu stören, könnte es im Herbst zu einem Wendepunkt kommen“, sagte der General a.D. weiter. Wenn beide Präsidenten erkennen würden, dass sie ihre Maximalziele nicht erreichen, könnte dies der Beginn von Verhandlungen sein.

Ein „eingefrorener Konflikt“ läge vor, wenn Russland zwar Gebiete besetzen würde, das Territorium aber trotzdem Teil des ukrainischen Staates bliebe. Die Ukrainer würden dann dort Partisanenangriffe durchführen, so Domröse. „Eine ‚Eiszeit‘ zwischen der Ukraine und Russland sowie Europa und Russland würde eintreten, wenn Putin Gebiete aus der Ukraine abschneidet und zum Teil von Russland erklärt. Ich halte dies für das wahrscheinlichste Szenario.“

Putin hatte mit Blick auf die russische Offensive in der Ukraine am Donnerstag gesagt: „Jeder sollte wissen, dass wir im Großen und Ganzen noch nichts Ernsthaftes begonnen haben.“

CDU-Außenpolitiker Kiesewetter fordert Geduld

Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter sagte dazu am Samstag im Deutschlandfunk: „Für mich sind das leere Drohungen, weil Russland sich eine weitere Eskalation nicht leisten kann. Sie sind auf Gedeih und Verderb auf den militärischen Erfolg angewiesen. Wir müssen unserer Bevölkerung deutlich machen, dass wir etwas Durchhaltewillen brauchen.“ Die Sanktionen wirkten dramatisch, aber es brauche Zeit – „ein bis zwei Jahre“.

Kiesewetter argumentierte, dass die russischen Arsenale sich langsam erschöpften und russische Streitkräfte „ungeheure Verluste“ hätten. „Und dies wird mit einer Scheinstärke der Russen jetzt bei Verhandlungen Lawrows beispielsweise bei G20 oder auch mit Pseudodrohungen Putins, dass Russland noch gar nicht richtig losgelegt habe, kompensiert. Also Russland baut eine Chimäre auf.“

Experte von der Hochschule der Bundeswehr in München: Carlo Masala.
Experte von der Hochschule der Bundeswehr in München: Carlo Masala.

© Marijan Murat/dpa

Carlo Masala von der Hochschule der Bundeswehr in München geht davon aus, dass Putin unverändert vorhabe, die ukrainische Regierung zu stürzen. „Der Kreml hat gerade noch einmal deutlich gemacht, dass die strategischen Ziele ,Entnazifizierung´ und ,Demilitarisierung´ nicht vom Tisch sind. Es geht immer noch darum, die Regierung von Wolodymyr Selenskyj durch ein russlandfreundliches Satellitenregime zu ersetzen“, sagte Masala den Funke-Blättern.

Militärexperte Masala erwartet russische Besetzung des Donbass

In einer Videoanalyse bei T-online sagte Masala, dass vermutlich „in den nächsten Wochen der gesamte Donbass von den russischen Truppen mehr oder weniger kontrolliert wird“. Sollten die Russen irgendwann auch den Bezirk Donezk einnehmen, rechne er damit, dass Putin Friedensverhandlungen und einen Waffenstillstand anbietet, so der Politikwissenschaftler. „Es wäre ein taktischer Zug, um Zeit für die Regeneration der russischen Truppen zu bekommen“, erklärte er gegenüber Funke.

Putin werde möglicherweise Verhandlungen anbieten, „die die Ukrainer sicherlich ablehnen werden“, sagte er in der Videoanalyse weiter. Dies werde aber die Unterstützerstaaten der Ukraine „in ein massives Problem“ bringen werden. Putin würde dann die Bereitschaft zu Verhandlungen suggerieren und der Westen habe natürlich Interesse an einer diplomatischen Lösung. „Es ist aber schwierig und kollidiert natürlich mit der immer wieder bekundeten Auffassung, dass die Ukraine selbst entscheidet, wann dieser Krieg gewonnen oder verloren ist.“

Der russische Präsident: Wladimir Putin.
Der russische Präsident: Wladimir Putin.

© Mikhail Klimentyev/Sputnik/AFP

Den Zeitungen sagte Masala, er befürchte einen „heißen Herbst“, wenn Russland die Gas-Lieferungen weiter reduziert. Dann „werden die westlichen Gesellschaften ihre Politiker dazu drängen, die Unterstützung der Ukraine zurückzufahren. Es ist Putins Kalkül, Teile Westeuropas in die Knie zu zwingen“.

Auch Gustav Gressel von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations warnt vor einem weiteren russischen Vormarsch. „Das politische Ziel Russlands, die Ukraine als Ganzes zu vernichten und sich einzuverleiben, steht nach wie vor“, sagte er den Funke-Blättern. „Derzeit kann Russland seine Überlegenheit an Feuerkraft ausspielen. Waffenlieferungen aus dem Westen sind in der Qualität gut, aber in der Quantität noch ungenügend. Wenn das so weitergeht, wird es für Russland zwar weiterhin blutig, aber es ist ein langsamer, blutiger Weg zum Sieg.“

„So wie es jetzt läuft, wird sich der Krieg ins nächste Jahr erstrecken“

Allerdings sehe er die Kräfte Russlands schwinden, wenn es Putins Armee nicht gelinge, mehr Soldaten anzuwerben: „Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Russland derzeit eine operative Pause eingeht. So wie es jetzt läuft, wird sich der Krieg ins nächste Jahr erstrecken. Ich denke, die nächste Tauwetterperiode 2023 ist der früheste Zeitpunkt für ein mögliches Ermatten.“

Der ehemalige Bundeswehr-Brigadegeneral und militärpolitische Berater der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Erich Vad, rechnet hingegen nach der Besetzung des Gebiets Donezk durch Russland mit einer „operativen Pause“. Diese Pause könnte die „letzte Chance für diplomatische Verhandlungen“ sein, sagte Vad den Zeitungen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (r.) besuchte am Freitag Soldaten an der Front.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (r.) besuchte am Freitag Soldaten an der Front.

© Ukrainian Presidential Press Office/AP/dpa

„Ein Verhandlungskompromiss könnte so aussehen, dass Kiew den Gebieten Donezk und Luhansk weitestgehende Autonomie innerhalb des ukrainischen Staatsverbundes gewährt.“ Dafür behielte die Ukraine den für den Außenhandel wichtigen Schwarzmeer-Hafen Odessa. „Den Konflikt um die Krim müsste man wegen der strategischen Interessen Russlands einschließlich der Schwarzmeer-Flotte in die Zukunft vertagen“, so Vad.

[Alles Wichtige zum Krieg in der Ukraine lesen Sie hier in unserem Newsblog.]

Am Samstag sagte auch der Gouverneur der gerade von dem Russen eingenommenen Region Luhansk, Serhij Hajdaj, dass Putins Truppen nun von dort aus zunehmend die Region Donezk im Donbass ins Visier nehmen. Die Besatzer führten Angriffe von Lyssytschansk aus in Richtung Westen, sagte Hajdaj. „Wir geben uns Mühe, die bewaffneten Gruppierungen der Russen auf ganzer Linie aufzuhalten“, zitiert ihn die Nachrichtenagentur dpa.

Russische Truppen haben offenbar als nächstes Gebiet Donezk im Visier

Allerdings greifen die Russen Hajdaj zufolge von mehreren Seiten an und versuchen, tief in das benachbarte Gebiet vorzudringen. Sie erzeugen demnach eine „echte Hölle“ durch Raketenangriffe und Artilleriebeschuss. Die ukrainischen Streitkräfte leisteten allerdings tapfer Widerstand, sagte Hajdaj. Russland dürfte als nächstes im Gebiet Donezk die größeren Städte Slowjansk und Kramatorsk im Blick haben.

Militärexperte Masala sagte: „Interessant wird sein, ob die angekündigte Großoffensive der Ukrainer kommt, die nun auf den August verschoben wurde. Ich erwarte, dass sich diese Offensive auf den Süden konzentrieren wird.“ Die Ukrainer würden dann punktuell vorgehen und versuchen, die Front in die Länge zu ziehen. „Das würde ihnen wieder Möglichkeiten für Angriffe im Donbass eröffnen. Sollte den Ukrainern die Munition ausgehen oder die westlichen Waffenlieferungen stocken, werden sie auf eine Partisanentaktik umschalten.“

Mehr zum Ukraine-Krieg auf Tagesspiegel Plus:

Dass schon bald eine ukrainische Offensive im Süden bevorstehen könnte, legt ein Beitrag der „New York Times“ (NYT) nahe. Demnach verstärken die Truppen Kiews dort ihre Kampfeinsätze, besonders in der Region Cherson, die nach Kriegsbeginn am 24. Februar als erstes an die russischen Truppen fiel.

Die ukrainischen Artillerieeinheiten haben sich demnach besonders darauf konzentriert, russische Munitions- und Ausrüstungsdepots anzugreifen, attackieren aber russische Einheiten direkt. „Der Feind hat erhebliche Verluste“, teilte der Generalstab in Kiew am Samstag mit. Unabhängig überprüfen lassen sich solche Angaben nicht.

In der Region Donezk ist eine Rakete eingeschlagen.
In der Region Donezk ist eine Rakete eingeschlagen.

© Alexander Ermochenko/Reuters

Die ukrainische Vize-Regierungschefin Irina Wereschtschuk hatte zudem die Menschen in den besetzten Teilen der Region Saporischschja und im Gebiet Cherson aufgerufen, sich in Sicherheit zu bringen, selbst wenn dies bedeuten würde, vorübergehend nach Russland zu fliehen. „Sie müssen einen Weg finden, die Region zu verlassen, denn unsere Streitkräfte werden kommen, um sie zurückzuerobern“, sagte sie im ukrainischen Fernsehen. „Es wird einen massiven Kampf geben. Ich möchte Ihnen keine Angst einjagen, aber ich möchte, dass Sie es verstehen.“

Die ukrainische Regierung hatte angekündigt, sich besetzte Gebiete nach der Lieferung schwerer Waffen durch den Westen zurückholen zu wollen. Die ukrainischen Truppen hatten dann zuletzt vermehrt Haubitzen und Mehrfachraketenwerfer aus dem Westen bekommen, auch aus Deutschland. Die USA wollen die Ukraine zudem mit weiteren Waffenlieferungen im Wert von rund 400 Millionen US-Dollar unterstützen. Zu dem neuen Paket gehören vier Mehrfachraketenwerfer vom Typ Himars, 1000 hochpräzise 155-Millimeter-Artilleriegeschosse, Radargeräte zur Artillerieaufklärung und Ersatzteile, wie eine hochrangige Vertreterin des US-Verteidigungsministeriums am Freitag (Ortszeit) sagte.

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