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Knappe Erklärung in der Fraktionssitzung, keine Aussprache: Sahra Wagenknecht am Dienstag.

© Felix Zahn/ imago images/photothek

Linke ohne Frontfrau: Sahra Wagenknecht – die freie Radikale

Jahrelang stand sie im Dauerfeuer. Mit Sahra Wagenknechts angekündigten Rückzug endet eine Ära – nicht nur für sie. Ein Porträt.

Von Matthias Meisner

Es war dies womöglich der Tag, an dem Sahra Wagenknecht endgültig zwischen alle Fronten geriet: Anfang Oktober 2018 sitzt sie auf einer Bühne im Multiplex-Kino Cinemotion in Berlin-Hohenschönhausen. Und sagt einen Satz, der ihr um die Ohren fliegen wird. „Offene Grenzen für alle“, das sei „eine Forderung, die die meisten Menschen als irreal und völlig weltfremd empfinden und damit ja auch recht haben“.

Eine Übung für die komplizierte Doppelrolle, die sie nun hatte: Anführerin der Sammlungsbewegung „Aufstehen“, einer außerparlamentarischen Organisation, die auch Wutbürger erreichen will. Und nach wie vor Chefin der Bundestagsfraktion der Linkspartei, der sie sich doch eigentlich loyal verpflichtet fühlen sollte. Beides zusammen, das wird schwierig – Wagenknecht sollte das an diesem Abend schmerzhaft erfahren.

Denn das ist unstrittig einer der Gründe für den Rückzug von Wagenknecht aus der ersten Reihe, neben Gesundheitsproblemen: das Dauerfeuer, dem sie sich schon seit Jahren ausgesetzt sieht. Dabei geht es längst nicht allein um die Fehde mit Parteichefin Katja Kipping, mit der sie unter anderem in der Flüchtlingspolitik über Kreuz liegt. Insgesamt vertrauen viele in der Linken ihrer zuweilen eigenbrötlerischen und unnahbaren Frontfrau nicht mehr. Die Fraktion hat der am Montag per E-Mail angekündigte Verzicht Wagenknechts auf eine neue Kandidatur für den Fraktionsvorsitz überrascht. Einer der Abgeordneten sagt: „Wagenknecht steht über Jahre im Dauerkonflikt. Das verändert einen, das bleibt nicht spurlos. Fitter wird dabei niemand.“

Mobbing? Wagenknecht weist die Interpretation nicht zurück

Am Dienstagnachmittag kommt die 49-Jährige gemeinsam mit Dietmar Bartsch zum Pressestatement vor der Fraktionssitzung. Wurden Sie von Parteifreunden gemobbt, Frau Wagenknecht? „Ach, wissen Sie“, antwortet Wagenknecht, „die Dinge, die stattgefunden haben, sind alle öffentlich. Welchen Begriff man dafür findet, das kann jeder für sich entscheiden.“ Was durchaus heißt, dass die Machtkämpfe in der Partei zum „negativen Stress“ beigetragen haben, den sie seit längerer Zeit, wie sie sagt, verspürt. Erleichterung über den eigenen Rückzug, sollte es sie geben, lässt sie sich nicht anmerken. Sie tritt auf wie fast immer: kontrolliert.

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Dabei ist einiges außer Kontrolle geraten. Das betrifft auch die künftige inhaltliche Aufstellung. Spaßeshalber hat ein Abgeordneter Wagenknecht schon gefragt, ob sie ohne die Bürde des Spitzenamtes wieder zur freien Radikalen werde und sich noch häufiger als bisher gegen die Partei-Programmatik positioniere. Das könnte eine ernste Frage werden. Oder beerben andere Linkspopulisten Sahra Wagenknecht inhaltlich? Verspüren jene Aufwind, die die Partei mehr Richtung Mitte positionieren wollen? Noch ist das alles offen.

Wagenknechts Ko-Chef Dietmar Bartsch beteuert: „Es wird keine Neuausrichtung der Fraktion geben.“ Dass es künftig ohne Wagenknecht leichter werden könnte, rot-rot-grüne Bündnisse zu schmieden, wie die SPD orakelt hat, wird in Fraktionskreisen als „mangelhafte Analyse“ und „bizarre Einschätzung zurückgewiesen.

Streit um die große "Unteilbar"-Demo

Im Kino in Hohenschönhausen diskutierte mit Wagenknecht damals die dortige Wahlkreisabgeordnete Gesine Lötzsch. 2600 Euro aus der Fraktionskasse waren für das Event geflossen, obwohl es an diesem Abend eben vor allem um die einen Monat zuvor offiziell gegründete „Aufstehen“-Bewegung ging. Im grauen Kostüm, elegant wie immer, saß Wagenknecht auf der Bühne des vollbesetzten Kinosaals.

Lötzsch, von 2010 bis 2012 mal Linken-Parteivorsitzende gewesen, forderte „Offenheit und Kooperationsbereitschaft“ der Linkspartei.

Einer aus dem Publikum brachte das Gespräch auf die am Wochenende in Berlin bevorstehende große „Unteilbar“-Demonstration gegen Rechtsruck und Rassismus, der sich 240.000 Leute anschließen sollten. Auch die Linkspartei hatte dazu aufgerufen. Wagenknecht aber äußerte Vorbehalte: Es sei nicht gut, dass „Offene Grenzen für alle“ als „die bestimmende Position dargestellt wird“ – obwohl das im Aufruf zur Demonstration gar nicht stand. Und im übrigen würde dort in Berlin „ein bestimmtes Milieu“ demonstrieren. Sie jedenfalls nicht.

Machtvoller Protest - ohne Wagenknecht. "Unteilbar"-Demonstration Mitte Oktober 2018 in Berlin.
Machtvoller Protest - ohne Wagenknecht. "Unteilbar"-Demonstration Mitte Oktober 2018 in Berlin.

© Christoph Soeder/dpa

Intern sollte Wagenknecht ihre Äußerung später bedauern, aber selbst von engen Mitstreitern wurde sie ihr nach dem Erfolg der „Unteilbar“-Demonstration vorgehalten. Auch „Aufstehen“-Anhänger, unter anderem der Wagenknecht-Vertraute und Fraktionsvize Fabio de Masi, hatten sich ihrer Sicht auf „Unteilbar“ widersetzt. Viele warfen ihrer Galionsfigur vor, das linke Spektrum mal wieder zu spalten, obwohl das doch gerade gemeinsam etwas auf die Beine stellte.

Bartsch und Wagenknecht stützen sich gegenseitig

Der Vorfall zeigt beispielhaft, wie die Dinge in die Schieflage geraten sind, nachdem Wagenknecht im Oktober 2015 gemeinsam mit dem Reformer Bartsch als Nachfolger von Gregor Gysi an die Spitze der Linksfraktion gewählt wurde. Das Duo war Gysis Idee, ein Zweckbündnis für eine pluralistische Partei. Inhaltlich einte Bartsch und Wagenknecht relativ wenig. Trotzdem stützten sich beide gegenseitig, obwohl Bartsch in der Außenwirkung deutlich weniger davon hat. Weit mehr als er steht sie für volle Säle und viele Talkshow-Auftritte. Bis zur Bundestagswahl 2017 wurden die Konflikte weitgehend verschwiegen, danach brachen sie offen aus.

Im November vergangenen Jahres nahm der brandenburgische Linken-Bundestagsabgeordnete Thomas Nord, früher Schatzmeister der Partei, den Streit um „Unteilbar“ zum Anlass, in einer Fraktionssitzung mit seinem Austritt zu drohen. Wagenknecht war nicht da. Seine „politische Schmerzgrenze“ sei überschritten, gab Nord zu Protokoll, er könne sich „mit der Mehrheit der Fraktion und ihrer Vorsitzenden nicht mehr identifizieren“. Wie Nord dachten eine ganze Reihe von Abgeordneten, vor allem viele von denen, die im Herbst 2017 neu in den Bundestag gewählt wurden. Sie kamen mit dem rauen Klima in den eigenen Reihen nicht zurecht. Die Fraktion mache sie „wahnsinnig“, kommunizierte eine der jüngeren Parlamentarierinnen.

Bartsch gelang es in vielen Gesprächen, die Konflikte noch einmal zu schlichten. Im Gegenzug legte eine Gruppe von Abgeordneten einer Fraktionsklausur im Januar zwei Papiere vor. In ihnen wurde Solidarität mit „Unteilbar“ gefordert und zur „Aufstehen“-Bewegung bemerkt, die Initiative habe „der Linken – zurückhaltend formuliert – keinen Nutzen gebracht“. Der Aufstand gegen Wagenknecht wurde abgeblasen, vorerst.

Ohne Frau Wagenknecht als Frontfrau wird es die Linke schwerer haben. Sie ist in der Bevölkerung weitaus beliebter als viele in ihrer Partei und dies könnte sich bei den kommenden Landtagswahlen negativ bemerkbar machen.

schreibt NutzerIn margin_call

Mit der Sammlungsbewegung, ursprünglich eine Idee von Wagenknechts Gatten Oskar Lafontaine, lief es zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr gut. Zwar hatten sich in den ersten Wochen gut 100.000 Leute in eine Mailingliste eingetragen. Von prominenten Unterstützern der Initiative, etwa dem Schriftsteller Christoph Hein oder der Alt-Grünen Antje Vollmer, war öffentlich kaum etwas zu hören. Die Befürchtung, dass aus „Aufstehen“ eine Partei werden könnte, führte zu Zwietracht in der Linkspartei, die Dementis von Wagenknecht und anderen dazu waren halbherzig.

Kurz vor Weihnachten war Wagenknecht in gelber Weste vor dem Kanzleramt in Berlin aufgetreten. Auch Anhänger empfanden das als peinlich. Der Versuch, die französische Protestbewegung nach Deutschland zu tragen, misslang - parallel hatten ihn auch Rechtsradikale unter anderem von AfD und Pegida unternommen.

Zwei Monate krank

Mitte Januar meldete sich Wagenknecht dann krankheitsbedingt ab. Mit ihrer Gesundheit stimmte in den vergangenen Jahren häufig etwas nicht. Immer wieder fehlte sie für eine Weile, wichtige Termine mussten kurzfristig abgesagt werden. Aber so lange wie nun, zwei Monate nämlich, war sie noch nie weg.
Intern wuchs der Druck auf Bartsch, die Doppelspitze mit Wagenknecht, intern „Hufeisen-Bündnis“ genannt, aufzukündigen. Im Februar beteiligte sich – nicht zum ersten Mal – Wagenknechts Amtsvorgänger Gysi an den Intrigen: Wagenknecht sei zwar eine sehr bekannte Persönlichkeit der Partei, trete im Fernsehen gut auf, sagte er in einem Interview. „Man muss aber immer wissen, was man gut kann und was man nicht so gut kann. Ich glaube, Sahra muss ihre Rolle in der Partei für sich neu definieren.“ Das tat sie dann schneller als gedacht.

Dem am Wochenende angekündigten Rückzug aus der Spitze von „Aufstehen“ folgte am Montag der Verzicht auf den Fraktionsvorsitz. Sie kündigte ihn auf den Tag genau 20 Jahre nach dem Rücktritt Lafontaines vom Amt des SPD-Chefs und Bundesfinanzministers an. „Ein ziemlich blöder Zufall, der mir leider zu spät aufgefallen ist“, sagt sie dazu. Nun würden „völlig unsinnige Parallelen gezogen“. Sie wolle ihr Bundestagsmandat behalten. Und: „Ich werde jetzt kein unpolitischer Mensch. Ich möchte etwas bewegen.“

„Sie muss etwas öfter lächeln“, riet Gysi

Ein unpolitischer Mensch ist auch Lafontaine nicht geworden. Den Aufstieg von Wagenknecht in der Linkspartei hat er befördert, nachdem die beiden im November 2011 ihre Beziehung auf einem Landesparteitag der Linken in Saarbrücken publik gemacht hatten. Den Vorwurf, sie lasse sich von ihrem Mann instrumentalisieren, hat sie immer zurückgewiesen: „Die Unterstellung, dass Frauen als Instrument ihrer Männer funktionieren, ist schlicht eine Unverschämtheit.“

Linken-Reformer Dietmar Bartsch im Februar 2019 auf dem Europa-Parteitag in Bonn: Künftig allein an der Spitze?
Linken-Reformer Dietmar Bartsch im Februar 2019 auf dem Europa-Parteitag in Bonn: Künftig allein an der Spitze?

© Oliver Berg/dpa

Dem Bild der klassischen Politikerin, die auch den Kompromiss sucht, entsprach Wagenknecht nie. Sie hat ihre Agenda – und lässt sich dabei schwer beirren. Manche in ihrer Partei halten sie gar für autistisch. „Sie muss etwas öfter lächeln“, riet ihr Gysi. Was sie ebenso wenig beachtete wie den Ratschlag Lafontaines, Bündnisse zu schmieden, „auch mit Leuten reden, die du für Idioten hältst“. Ihr Netzwerk in der Fraktion ist klein, mit Diether Dehm, Sevim Dagdelen und Heike Hänsel hat sie radikale Linke um sich versammelt. Jetzt könnte ihr bisheriger Ko-Chef Bartsch profitieren. Er hat die Chance, die Fraktion von Spätsommer an allein zu führen.

Am Dienstag in der Fraktionssitzung legt Wagenknecht noch einmal die Gründe für ihren Rückzug dar. Im Kern geht es um Gesundheit, Überlastung und Dauerstress. Und dass alle bitte Verständnis haben mögen, dass sie ihre Entscheidung per E-Mail mitgeteilt hat. Es gibt Applaus für die scheidende Chefin, keine Aussprache. Nach circa drei Minuten ist der Tagesordnungspunkt abgehakt.

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