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Nicht nur auf die anderen zeigen, bitte! Die Politik kann nicht davon ausgehen, dass die Bürger richtiger handeln, als die Regeln sind (Archivfoto von Michael Müller).

© Odd Andersen/REUTERS

Schrille Corona-Appelle: Je lauter Müller schreit, desto mehr stumpfen die Berliner ab

Leben retten statt shoppen? Mit solchen Ausrufen erreicht die Politik nichts. Ihre eigenen Fehler darf sie nun nicht bei der Bevölkerung abladen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ariane Bemmer

Das Problem ist der Ton, das Schrille, das Übertriebene. Berlins Regierender Bürgermeister hat am Donnerstag zur Rechtfertigung seiner Pläne für einen härteren Lockdown im Abgeordnetenhaus gerufen: „Wie viele Tote ist uns denn ein Shopping-Erlebnis wert?“ Das mag ihm selbst einen Schauer über den Rücken jagen, aber wen gewinnt er damit für seine Sache?

Seit Monaten werden Corona-Schutzmaßnahmen zum Größten in Beziehung gesetzt, das der Mensch besitzt: zum Leben selbst. Nur ein Schuft würde sich nicht verpflichten lassen wollen, das zu schützen. Dennoch hat dieses dauernde Weichgeklopftwerden mit dem großen Lebensrettungshammer auch Hornhaut wachsen lassen. Und je eindringlicher politische Entscheidungsträger wie Bundeskanzlerin, Landesregenten und -innen oder ein Regierender Bürgermeister jetzt flehen, barmen, anklagen, desto stumpfer werden die Blicke der Adressierten. Motto: Wieso werden wir jetzt von Müller & Co. fürs Shoppen angemotzt, wenn doch Müller & Co. höchstselbst dafür gesorgt haben, dass die Läden geöffnet sind?

Und recht haben sie. Müllers Satz bedeutet letztlich: Er hat von den Bürgerinnen und Bürgern erwartet, dass sie von sich aus konsequenter handeln, als die Politik es ihnen vorgeben wollte. Er hat offenbar erwartet, dass die Bevölkerung sich nicht auf die Reglements der politisch Verantwortlichen verlässt, sondern nach eigenem Ermessen handelt. Das ist allerdings nicht die Verabredung. 

Politiker haben – anders als der Normalbürger – große Mitarbeiterstäbe und privilegierten Zugriff auf Experten und Informationen, sie haben die Zeit und die Aufgabe, das Pandemiegeschehen zu überblicken und angemessene Maßnahmen festzusetzen. Die Bürger haben ihre Arbeit, ihre Dinge zu tun. Sie haben nicht die Zeit, sich den ganzen Tag lang neueste Erkenntnisse zu besorgen, durchzulesen, abzugleichen. Sie können nicht ebenso im Bilde sein.

Es kann nicht wirklich das Ziel sein, dass die Politik irgendetwas beschließt in der Hoffnung, die Bürger wüssten schon selbst, dass diese Beschlüsse nichts taugen – und aus Eigenverantwortung richtiger handeln. Und falls doch, gilt das dann ab jetzt für alle Regeln? Und: Ist das noch Politik?

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Berlins Regierender echauffierte sich auch noch über Tote, die man offenbar für Restaurant- oder Kinobesuche in Kauf zu nehmen bereit sei. Da schwingt sehr viel Verachtung für die Adressierten mit. Dabei ist es doch letztlich er selbst, an den er diese Fragen richten muss.

Diese Probleme sind nicht vom Himmel gefallen, sie haben sich seit Wochen aufgebaut. In den Pflegeheimen herrscht Not, die Intensivbetten füllen sich, das medizinische Personal ist am Limit. Das ist mehrfach und laut bekundet worden, ohne dass Entscheidungen fielen.

Und so wird es, wenn demnächst die Sterbefallzahlen vermutlich deutlich ansteigen und sich dramatisch von den Vorjahreszahlen abheben, entweder die Folge der gemachten Politik sein – oder die Folge eines großen Missverständnisses: nämlich dass diese Politik so eigentlich nicht gemeint war. Beides nicht gut. Möglicherweise erklärt das auch den schrillen Ton.

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