zum Hauptinhalt

SPD-Politiker Hubertus Heil: "Der größte Zwang geht von Arbeitslosigkeit aus"

Der Bundesarbeitsminister verteidigt die Einführung von Hartz IV, fordert aber Reformen. Vom bedingungslosen Grundeinkommen hält er wenig. Ein Interview.


Beim Start von Rot-Grün 1998 war Hubertus Heil 25 Jahre alt, zählte zu den jüngsten Bundestagsneulingen. Damals kam Tony Blairs dritter Weg in Mode und Hubertus Heil gründete das reformorientierte „Netzwerk“ in der SPD.
Nach dem Ende von Rot-Grün diente er als Generalsekretär den SPD-Chefs Platzeck, Beck und Müntefering (kurzzeitig). Danach stagnierte die Karriere - mehr als Fraktionsvize war nicht drin.

Nach zähen Koalitionsverhandlungen kam Heil doch noch zum Zuge. Für viele unerwartet, wurde er im März dieses Jahres Chef des Arbeitsressorts.

Herr Heil, war Hartz IV ein großer Irrtum?

Nein. Als 2003 die Reformen auf den Weg gebracht wurden, herrschte Massenarbeitslosigkeit. Damals galt Deutschland als der kranke Mann Europas und die Arbeitsmarktreform war dringend notwendig. Der Arbeitsmarkt hat sich seitdem grundlegend positiv verändert. 15 Jahre später sieht die Welt ganz anders aus: Wir müssen nun den Sozialstaat für neue Herausforderungen weiterentwickeln. Es geht um die Zukunft der Arbeit im digitalen Wandel und um verlässliche soziale Sicherheit.

Was ist gut an einem System, das von Betroffenen als schikanös empfunden wird und in der Mittelschicht große Abstiegsängste auslöst?

Die Debatte um Hartz IV hat unsere Gesellschaft gespalten: die einen haben Langzeitarbeitslose als zu faul zum Arbeiten verunglimpft. Und die anderen halten jede Form von Mitwirkungspflicht für einen Angriff auf die Menschenwürde. Beides ist Unsinn. Wir müssen die Grundsicherung jetzt weiter entwickeln und endlich raus aus diesen Schützengräben!

Die Befürworter von Hartz IV sagen, dass Druck notwendig sei, damit die Betroffenen schnell wieder Arbeit aufnehmen. Genau deshalb sei die Zahl der Arbeitslosen gesunken. Stimmt das nicht?

Wir haben die Erfolge am Arbeitsmarkt nicht in erster Linie durch Druck auf Arbeitslose erzielt. Die gute wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen zehn Jahre war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Lage heute viel besser ist als 2003. Die Idee der Arbeitsmarktreform war, Chancen für Langzeitarbeitslose zu schaffen. Es hieß immer: Fordern und Fördern.

Was passiert, wenn von diesem Prinzip nur noch das Fördern übrig bleibt?

Das ist nicht mein Plan.

Aber offenbar der Ihrer Parteichefin Andrea Nahles, die für eine weitgehende Abschaffung der Sanktionen plädiert.

So habe ich Andrea Nahles nicht verstanden. Überflüssige und bürokratische Sanktionen, die als entwürdigend empfunden werden, gehören abgeschafft. Aber wir sind uns einig, dass es weiterhin Mitwirkungspflichten geben muss.

Sie sagt, die Sanktionen seien zum Symbol für das Misstrauen des Staates gegenüber Hartz-IV-Empfängern geworden.

Unwürdige Sanktionen gehören weg. Aber man muss auch wissen, dass nur in drei Prozent der Fälle überhaupt Sanktionen verhängt werden.

Das Problem wird aufgebauscht?

Es ist jedenfalls nicht das wichtigste Thema, wenn es um die Zukunft der Grundsicherung geht. Aber wir werden Sanktionen abschaffen, die wirkungslos sind und den Betroffenen Angst machen. Es ist unsinnig, dass 24-Jährige schärfer sanktioniert werden als 25-Jährige. Und es verunsichert Menschen unnötig, wenn die Kosten für Miete und Unterkunft gekürzt werden. Gerade in Ballungsräumen mit angespanntem Wohnungsmarkt ist das zu viel der Härte.

Aber?

Ich bin dagegen, jede Mitwirkungspflicht aufzuheben. Wenn jemand zum zehnten Mal nicht zu einem Termin beim Amt erscheint, sollte das Konsequenzen haben. Die Ansicht teilen übrigens auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern, mit denen ich mich regelmäßig austausche und die eine ausgezeichnete Arbeit machen.

Ist es ungerecht, wenn die einen staatliche Unterstützung ohne Gegenleistung bekommen, während andere für schlecht bezahlte Jobs jeden Tag aufstehen?

Arbeit muss immer einen Unterschied machen. Ich bin deshalb auch kein Anhänger des bedingungslosen Grundeinkommens. Ich kann verstehen, dass es Leute gibt, die das aus Idealismus gut finden. Aber sie unterschätzen, welche Bedeutung Erwerbsarbeit für den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Teilhabe jedes Einzelnen am gesellschaftlichen Leben hat. Gerade deswegen finde ich es absurd, wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen sich Gedanken darüber machen, wie Menschen in der Grundsicherung verwaltet werden können. So viele Menschen wie möglich in Arbeit zu bringen und zu halten – das ist mein Ziel.

Franz Müntefering hat einmal erklärt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

Ich finde, dass Anstrengung sich lohnen muss und wir Menschen helfen müssen, die sich nicht selbst helfen können. Der Sozialstaat garantiert jedem in diesem Land eine Grundsicherung und er muss stärker für Teilhabe sorgen. Für mich bemisst sich die Qualität des Sozialstaats nicht allein an der Höhe des sozialen Transfers, sondern an der Frage, ob man Menschen aus der Not rausbringt. Zudem müssen wir Menschen Abstiegsängste nehmen – gerade jetzt, weil sich die Arbeitswelt so radikal verändert.

Könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht sinnvoll sein, wenn künftig viele Jobs durch die Digitalisierung wegfallen?

Schon die These, dass uns die Arbeit ausgehen wird, stimmt nicht. Außerdem ist Arbeit für die allermeisten Menschen mehr als ein Broterwerb. Viele wollen etwas leisten und sich einbringen. Deshalb finde ich es auch falsch, wenn Grünen- Chef Robert Habeck davon spricht, dass es bei Hartz IV einen Zwang zur Arbeit gebe. Es ist doch genau umgekehrt: Der größte Zwang geht von Arbeitslosigkeit aus.

Wie machen Sie der Kassiererin Mut, deren Job wegen der Einführung automatisierter Bezahlsysteme wegfallen wird?

Ich sage ihr: Wir versuchen dir zu helfen, dass du den Anschluss nicht verlierst. Wir geben dir die Chance, dass du dich im Betrieb auf eine andere Stelle weiterbilden kannst oder dass du über eine Umschulung die Möglichkeit auf einen anderen Arbeitsplatz bekommst. Wir arbeiten daran, dass Weiterbildung und Qualifizierung Schlüssel sind, die dich im Erwerbsleben halten.

Wie wollen Sie das denn gewährleisten?

Wir müssen das soziale Netz enger knüpfen. Wer hart gearbeitet und lange eingezahlt hat, muss mehr von der Arbeitslosenversicherung haben. Wir sollten darüber nachdenken, in solchen Fällen länger als bisher Arbeitslosengeld zu zahlen, im Idealfall verknüpft mit einer Qualifizierung. Wir sollten aber nicht nur die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung stärken, sondern auch die Chancenfunktion. Ab dem 1. Januar 2019 können wir aus den Mitteln der Bundesagentur für Arbeit Qualifizierung für alle Beschäftigten im Strukturwandel finanziell unterstützen. Wir müssen Arbeitslosigkeit verhindern, bevor sie entsteht.

Klingt, als wollten Sie an den Hartz–IV-Regelungen nicht allzu viel ändern.

Es steht außer Frage, dass das System unbürokratischer werden, verlässlich sein und zu den unterschiedlichen Lebenslagen passen muss. Aber wir sollten keinesfalls vergessen, dass wir bereits mit dem Umbau des Sozialstaats begonnen haben. Der Bundestag hat gerade erst das Gesetz für einen sozialen Arbeitsmarkt beschlossen, der ordentliche und dauerhafte Arbeitsplätze mit Tariflohn schafft. Damit holen wir Menschen aus der Langzeitarbeitslosigkeit. Das ist ein Paradigmenwechsel, weil wir in Zukunft Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren.

Was verbirgt sich denn genau hinter dem von Andrea Nahles ins Gespräch gebrachte Bürgergeld, das Hartz IV ersetzen soll?

Wir werden konkrete Vorschläge zur Weiterentwicklung des Systems machen – mit Blick auf die soziale Lebenswirklichkeit von Menschen und die Veränderung der Arbeitsgesellschaft. Mir geht es dabei in erster Linie nicht um Begriffe, sondern um die Substanz. Das System muss insgesamt besser werden.

In welchem Umfang sollen Bezieher des Bürgergelds ihr Vermögen aufbrauchen müssen, bevor sie die Leistungen erhalten?

Wenn Leute mit einem großen Vermögen Steuergelder bekämen, hätte das keine gesellschaftliche Akzeptanz. Bei Menschen, die lange gearbeitet und eingezahlt haben, sollten wir großzügiger sein als bisher.

Die SPD hat für Hartz einen hohen Preis gezahlt. Lassen sich enttäuschte Wähler versöhnen, wenn man sich jetzt von der Arbeitsmarktreform verabschiedet?

Es geht hier nicht in erster Linie um Umfragen und Befindlichkeiten der SPD.

Wirklich nicht? Wir dachten, bei 14 Prozent in den Umfragen geht es um die Existenz als Volkspartei.

Ich führe die Debatte über die Zukunft des Sozialstaats nicht aus taktischen Gründen. Wir sind in der Verantwortung, das Leben der Menschen jeden Tag ein bisschen besser zu machen. Unsere Aufgabe ist nicht, uns von den Realitäten wegzuträumen. Die SPD ist die Partei der Arbeit, das unterscheidet uns von anderen. Wir sollten selbstbewusst über die Zukunft reden und nicht ängstlich über die Vergangenheit. Wenn wir bei Wahlen wieder erfolgreicher werden wollen, müssen wir in erster Linie mit Taten überzeugen. Wenn die SPD Dinge durchsetzt, die den Alltag Vieler verbessern.

Der Tagesspiegel kooperiert mit dem Umfrageinstitut Civey. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Mehr Informationen hier.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil

© AFP/Tobias SCHWARZ

Arbeitet die SPD sich zu sehr an Hartz ab?

Die SPD ist die Partei der Arbeit und sollte das nicht aus dem Blick verlieren. Wenn wir über die Zukunft des Sozialstaats reden, müssen wir darüber sprechen, wie sich die Arbeitsgesellschaft durch die Digitalisierung ändert. Mit dem sozialen Arbeitsmarkt wagen wir den Aufbruch in eine neue Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Und wir dürfen auch nicht den Eindruck erwecken, als befasse sich die SPD hauptsächlich und ausschließlich mit dem Problem, in welcher Höhe und unter welchen Bedingungen Menschen Unterstützung vom Staat erhalten, die keine Arbeit haben. Gerade in Zeiten des rasanten Strukturwandels müssen wir uns verstärkt um den Erhalt von Jobs und die Schaffung neuer Arbeitsplätze kümmern.

Im Zuge der Digitalisierung gehen nach Schätzungen Ihres Ressorts 1,3 Millionen Jobs bis 2025 verloren. Wen trifft das?

Gleichzeitig werden aber auch 2,1 Millionen neue Stellen entstehen. Bei Banken, Versicherungen, in Industrie und Handel wird die Automatisierung schnell vorangehen. Aber auch hier werden gleichzeitig auch neue Arbeitsplätze entstehen. Bei sozialen Berufen, etwa bei Pflege, Gesundheit und Bildung hingegen haben wir jetzt schon einen Fachkräftemangel und werden weiterhin eine wachsende Nachfrage nach Dienstleistungen von Menschen für Menschen erleben. Wichtig ist, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Digitalisierung nicht als Bedrohung wahrnehmen – sondern dass sie Chancen im Wandel nutzen können.

Der Strukturwandel im Bergbau und der Stahlindustrie war ein Klacks gegenüber dem, was uns jetzt bevorsteht?

Das stimmt. Früher hat Strukturwandel 30 bis 40 Jahre gedauert, heute sind es fünf bis zehn Jahre. Deshalb dürfen wir keine Zeit verlieren. Wir müssen enorm viel in Weiterbildung und Qualifizierung investieren, aber auch die Kultur in den Unternehmen muss sich ändern. Für viele Arbeitnehmer ist der Begriff vom lebenslangen Lernen keine Verheißung, sondern eine Drohung. Dabei ist Weiterbildung die Schicksalsfrage für unsere Arbeitswelt.

Es gibt einen harten Kern von Langzeitarbeitslosen, gleichzeitig klagen Betriebe über Fachkräftemangel. Kann das neue Einwanderungsgesetz Abhilfe schaffen?

Zunächst müssen wir uns auf die Potenziale im Inland konzentrieren. Aber zusätzlich brauchen wir eben auch Fachkräfteeinwanderung aus dem Ausland. 1,2 Millionen Stellen sind in Deutschland unbesetzt. Das Einwanderungsgesetz bietet da endlich große Chancen: Wir können nicht mehr nur Top-Akademiker ins Land holen, sondern brauchen auch Facharbeiter. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz räumt zudem Fachkräften aus Drittstaaten die Möglichkeit ein, zur Arbeitsplatzsuche für ein halbes Jahr nach Deutschland zu kommen. Das erleichtert Fachkräftezuwanderung erheblich, wir rechnen mit 22.000 Menschen im Jahr.

Die SPD hat den „Spurwechsel“ vom Asylsystem in die Arbeitsmigration nicht durchsetzen können. Wie erklären Sie Unternehmern, dass auch künftig gut integrierte Flüchtlinge abgeschoben werden können?

Das stimmt nicht. Wir wollen, dass nicht die Falschen abgeschoben werden. Für Geduldete, die am Arbeitsmarkt Fuß gefasst haben, deutsch können und gut integriert sind, schaffen wir erst mal für zwei Jahre einen Beschäftigungsstatus und anschließend eine dauerhafte Aufenthaltsberechtigung. Das ist genau das, was viele Unternehmer gefordert haben. Ich finde es einen riesigen Fortschritt, dass wir mit dem Innenminister eine pragmatische Lösung hinbekommen haben. Die Koalition arbeitet in der Sache besser als viele denken.

Das Interview führten Cordula Eubel und Stephan Haselberger.

Zur Startseite