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Die Pflege im Heim steht unter starkem Kostendruck.

© dpa/Sina Schuldt

„System am Kipppunkt“: Deutsche vertrauen Pflegeversicherung nicht mehr

Das Vertrauen ins Pflegesystem vergeht mehr und mehr. Zwei Drittel hadern mit der Versorgung, die Hälfte der Befragten fürchtet, dass es noch schlechter wird. Reformversprechen bleiben vage.

Stand:

Trau keinem über 30: Drei Jahrzehnte nach Einführung der Sozialen Pflegeversicherung schwindet das Vertrauen ins deutsche Pflegesystem offenbar drastisch.

Knapp zwei Drittel der Bevölkerung bewerten die Versorgung von Betroffenen derzeit als nicht oder als „gar nicht“ gut. 46 Prozent rechnen mit einer weiteren Verschlechterung in den nächsten zehn Jahren. Und fast 90 Prozent der Befragten fordern, dass die Pflege in Deutschland „für alle bezahlbar“ gemacht werden müsse.

Das sind zentrale Ergebnisse einer aktuellen Meinungsbefragung des Instituts für Demoskopie Allensbach, die am Dienstag – im Rahmen des aktuellen Pflegereports der DAK-Gesundheit – veröffentlicht wurden. Sie bestätigen, dass die sogenannte fünfte Säule der deutschen Sozialversicherung aufgrund fehlender Reformen merklich ins Wanken geraten ist. Interviewt wurden dafür mehr als 4400 Bürger:innen zwischen 16 und 75 Jahren.

Pflegesystem gils als „als schlecht, ungerecht und überfordernd“

Das Pflegesystem stehe „an einem Kipppunkt“, sagt DAK-Vorstandschef Andreas Storm. Viele Menschen nähmen es „als schlecht, ungerecht und überfordernd wahr“, ihr Vertrauen in diese Art der Absicherung drohe wegzubrechen. Storm fordert deshalb erneut eine nachhaltige Finanzierungsreform samt zukunftsfester Infrastruktur. Die Bürger erwarteten „eine funktionsfähige Pflegeversicherung, die sie ausreichend, verlässlich und bezahlbar absichert“.

Die Bürger erwarten eine funktionsfähige Pflegeversicherung, die sie ausreichend, verlässlich und bezahlbar absichert.

Andreas Storm, Chef der Krankenversicherung DAK

Die Politik ist allerdings noch unentschlossen. Sie wartet auf Vorschläge der eigens eingesetzten Bund-Länder-Kommission, die erst zum Jahresende liefern will. Vor drei Wochen hat sie lediglich Zwischenergebnisse präsentiert, die bislang nur sehr vage sind.

Demnach will man am bisherigen Teilleistungssystem ebenso festhalten wie an der Differenzierung durch fünf Pflegegrade. Im ersten Grad sollen sich die Leistungen aber stärker auf Prävention konzentrieren. Erarbeitet würden zudem „Optionen zur Begrenzung der Eigenanteile“. Und ein Fokus liege, wie es hieß, auf der konsequenten Finanzierung von versicherungsfremden Leistungen aus Steuermitteln.

Hohe Kosten als größtes Problem

Die aktuelle Befragung hingegen zeigt, dass die Bürger langsam ungeduldig werden. 62 Prozent sind nicht zufrieden mit der derzeitigen Versorgungssituation – und gerade mal 27 Prozent rechnen mit einer Verbesserung in den kommenden zehn Jahren.

Als größtes Problem nennen sie die hohen Kosten für Pflegebedürftige und ihre Familien bei der Unterbringung im Heim. An zweiter Stelle folgen Personalmangel und fehlende Pflegekräfte. Und auf Platz drei der Dringlichkeitsliste steht die ganz konkrete Sorge, im Fall von Pflegebedürftigkeit in der eigenen Region keine qualitativ gute Unterstützung zu erhalten.

Insgesamt empfinden es neun von zehn Befragten (87 Prozent) als prioritär, die Pflege für alle bezahlbar zu machen. 79 Prozent erhoffen sich eine langfristige Sicherung der Finanzierung. Für 73 Prozent wäre die Deckelung der Kosten im Pflegeheim wichtig, 71 Prozent wünschen sich eine Vereinfachung des Leistungssystems.

Konkret stimmten 83 Prozent der Aussage zu, dass es ungerecht sei, wenn man „sein Leben lang in die Pflegeversicherung einzahlt und man bei Pflegebedarf dann nicht ausreichend abgesichert ist“. Und genauso viele sind der Meinung, dass Pflege „für viele Menschen nicht mehr bezahlbar ist“. 74 Prozent der Befragten gaben zu Protokoll, nicht zu wissen, wie sie einmal das Geld für ihre eigene Pflegebedürftigkeit aufbringen sollten. Und 72 Prozent sprechen rundheraus von einem „Armutsrisiko“ für Pflegebedürftige und ihre Familien.

Jeder Zweite kennt Pflegebedürftige

Gleichzeitig macht die Studie deutlich, dass die Menschen nicht über ein theoretisches Thema herumspintisieren, sondern durchaus über Einblick ins Pflegesystem verfügen. Nach eigenen Angaben hat jede:r Zweite Angehörige, Freunde oder Nachbarn, die aktuell oder in den vergangenen zehn Jahren gepflegt wurden. Selber Pflege- oder Unterstützungsaufgaben übernommen haben nach eigenen Angaben im vergangenen Jahrzehnt oder aktuell 37 Prozent.

„Pflege ist für die Bevölkerung ein Nahthema“, sagt die Meinungsforscherin und Allensbach-Geschäftsführerin Renate Köcher. 16,6 Millionen Menschen kümmerten sich als Angehörige, Nachbarn und Freunde um Pflegebedürftige – und sie erbrächten „enorme Leistungen, ohne die der Staat mit der Herausforderung, Pflege zu leisten und Pflege abzusichern, havarieren würde“. Umso wichtiger sei es, „neben diesen privaten Strukturen intakte gesellschaftliche Strukturen zu haben und Pflegende zu unterstützen.“

Mehrheit findet: Pflegegeld reicht nicht

Dass dies nottäte, findet eine deutliche Mehrheit der Befragten. So meinen acht von zehn Befragten, dass viele Menschen mit der Pflege ihrer Angehörigen überfordert sind. 74 Prozent beklagten die Vielzahl der unterschiedlichen Regelungen und Leistungen, die einem den Überblick nehme. 54 Prozent meinten, dass es sehr schwer sei, einen Platz in der Kurzzeitpflege zu bekommen. Und 48 Prozent sahen das Problem darin, überhaupt einen Pflegedienst zu finden. Ebenso viele kritisierten übrigens auch, dass sich Krankenhäuser und Ärzte nicht gut mit der häuslichen Pflege abstimmen.

Interessant sind auch die Befragungsergebnisse zum Thema Pflegegeld. 71 Prozent finden diese Art der finanziellen Unterstützung von zu Hause Pflegenden in ihrer Höhe nicht ausreichend. Gleichzeitig sagten 69 Prozent, dass sie die Angehörigenpflege auch ohne pekuniäre Zuwendung übernommen hätten.

Einer kompletten Streichung des Pflegegelds würden lediglich vier Prozent zustimmen. Aktuell beträgt es im Pflegegrad 2 monatlich 347 Euro. Im Pflegegrad 3 sind es 599 Euro. Für den vierten Grad werden nach der Anhebung zum Jahresbeginn 800 und für den fünften 990 Euro bezahlt.

Wunsch nach mehr Pflegestützpunkten

Für Studienleiter Thomas Klie, der in Freiburg Sozialforschung betreibt, sind die Umfrage-Ergebnisse zur Pflegeversorgung jedenfalls ein klarer Handlungsauftrag an die Mitglieder der genannten Bund-Länder-Kommission. Laut Befragung wünschen sich beispielsweise 88 Prozent der Befragten mehr Pflegestützpunkte, in denen Beratung und fachpflegerische Begleitung angeboten werden.

87 Prozent sind der Meinung, dass examinierte Fachkräfte „eine zentrale eigenverantwortliche Rolle“ bei der Pflege übernehmen sollten. 81 Prozent würden sich über „mehr Polikliniken bzw. medizinische Versorgungszentren“ freuen, „in denen medizinische und pflegerische Versorgung gebündelt ist“. Einen stärkeren Einsatz von Pflegerobotern dagegen lehnen 63 Prozent ab. Und eine knappe Mehrheit will auch keinen verstärkten Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei Diagnose und Therapie.

Die pflegefachliche Begleitung sei „ein zentraler Reformbaustein“, der sowohl im „Zukunftspakt Pflege“ als auch in der Bevölkerung favorisiert werde, betont Klie. Qualifiziertes Personal spiele „eine Schlüsselrolle“ bei der Sicherung gesundheitlicher und pflegerischer Versorgung. Bei der Finanzierung der Pflege allerdings sei die Bevölkerung „ähnlich ratlos wie die Bundesregierung: am liebsten Vollversicherung, aber kosten darf es nicht mehr – auch nicht den nachfolgenden Generationen.“

Gegen Pflicht zur Zusatzversicherung

Um die Finanzierung der Pflege auf ein zukunftssicheres Fundament zu stellen, sieht die Mehrheit der Bürger übrigens den Staat in der Pflicht: 56 Prozent finden, es sollten staatliche Zuschüsse oder Steuermittel eingesetzt werden, um Pflegebedürftige abzusichern. Dass die Beiträge zur Pflegeversicherung bereits zu hoch sind, finden 55 Prozent der Befragten.

Allerdings meint auch knapp die Hälfte der Befragten, dass Einkommen und Vermögen für die Pflege stärker herangezogen werden sollten – entweder über höhere Beiträge für besser Betuchte (47 Prozent) oder über eine stärkere Beteiligung dieser Personengruppen an den Pflegekosten (46 Prozent). Hier machen die Befragten jedoch einen Unterschied zwischen der Art der Unterbringung. Dass sich Vermögende stärker an den Kosten der Heimpflege beteiligen müssten, fordern lediglich 27 Prozent.

Fast zwei Drittel sind auch dagegen, im Bedarfsfall für die Pflege das eigene Haus verkaufen zu müssen. Und ein noch deutlicheres Votum gibt es gegen die Überlegung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, eine verpflichtende Pflegezusatzversicherung einzuführen: Nur ein Fünftel der Befragten (21 Prozent) befürwortet dies. Eine stärkere Förderung für private Vorsorge dagegen halten immerhin 41 Prozent sinnvoll.

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