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Selbsternannte prorussische Separatisten in Luhansk.

© REUTERS / ALEXANDER ERMOCHENKO

Tag 202 der Ukraine-Invasion: Auf wen Kiews Truppen an der Front in Luhansk treffen

Kreml sieht weiterhin Bedrohung durch die Nato, von der Leyen ist vom Sieg des Westens überzeugt, Kritik an Putin. Der Überblick am Abend.

Rund zwei Wochen nach Beginn der ukrainischen Offensive im Osten hat sich die Geschwindigkeit von Kiews Truppen deutlich reduziert. Viele Teile der zurückeroberten Gebiete werden noch auf Überbleibsel russischer Truppen abgesucht. Eine neue Frontlinie scheint sich an der Grenze zur Region Luhansk zu bilden.

Zur Erinnerung: Die russischen Truppen hatten Luhansk erst im Juli nach sehr langen und verlustreichen Kämpfen erobert. Diese Verluste waren es jetzt auch, die den überfallartigen Vorstoß der Ukraine ermöglichten. Wie stark die russischen und prorussischen Truppen in Luhansk noch sind, ist unklar. Fakt ist: Viele der besten Truppen der regulären Armee hat Moskau nach Cherson in den Süden verlegt. Von dort haben sie aktuell quasi keine Chance, zurück in den Osten zu kommen.

Wahrscheinlich besteht der Hauptteil der Truppen in Luhansk aus prorussischen Verbänden selbsternannter Separatisten, Söldnern der Wagner Gruppe, Tschetschenen (siehe Bild unten) und Teilen der russischen Nationalgarde. Sehr wahrscheinlich sind alle schwer angeschlagen mit hohen Verlusten an Gerät. Außerdem ist fraglich, wie gut die Verteidigungslinien der Russen in Luhansk sind, weil sie nicht damit rechneten, das Gebiet noch einmal verteidigen zu müssen. Beobachter gehen andererseits davon aus, dass die Ukraine mit neu ausgebildeten Soldaten einige ganz neue Divisionen aufgestellt hat. Hinzu kommt das im Osten mittlerweile konzentrierte westliche Gerät.

Beides könnte bedeuten, dass die Ukrainer eine realistische Chance haben, auch in Luhansk in den nächsten Tagen und Wochen Fortschritte zu erzielen. Dass sich die russischen Truppen aber noch einmal so überrumpeln lassen wie in Cherson ist eher unwahrscheinlich. Die russischen Einheiten wissen nun, mit welch strategisch klugem Gegner sie es zu tun haben.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

  • Putin und der Ukraine-Krieg werden in Russland immer offener kritisiert – in Parlamenten, via Petition und nun sogar im TV. Neuestes Beispiel: eine Polit-Talkshow. Mehr hier. 
  • Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich offenbar trotz Zugeständnissen der Ukraine in der umstrittenen Frage eines Nato-Beitritts zu dem Angriff auf das Land entschieden. Nach Reuters-Informationen hatte ihm sein wichtigster Gesandter für die Ukraine mitgeteilt, dass er mit Kiew eine vorläufige Vereinbarung getroffen habe, die die russischen Bedenken ausräumen würde. Putin entschied sich dennoch zu dem Angriff und den Versuch einer Besetzung des Landes, sagten drei der russischen Führung nahestehende Personen. Mehr in unserem Liveblog. 
  • Das Präsidialamt in Moskau bekräftigt die Darstellung, dass sich Russland vom Streben der Ukraine in die Nato bedroht fühle. Der Kreml bezeichnet ein von der Ukraine vorgelegtes Konzept für Sicherheitsgarantien als Gefahr für Russland - und rechtfertigt vor diesem Hintergrund einmal mehr den Krieg gegen das Nachbarland. 
  • Die russische Regierung hat eine Stellungnahme zu Berichten abgelehnt, dass ein US-Gesandter zu Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch nach Moskau gereist sein soll. „Es hat keine Treffen im Kreml gegeben“, sagt Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow. Es gebe nichts zu dem Thema zu vermelden, fügt er mit Blick auf entsprechende Berichte hinzu. Demnach soll der ehemalige US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, Bill Richardson, in die russische Hauptstadt gereist sein, um über einen möglichen Austausch russischer und amerikanischer Häftlinge zu sprechen. 
  • Auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim hat ein Gericht Haftstrafen verhängt, weil auf einer Hochzeit ein ukrainisches Lied gespielt wurde. Das Gericht in der Stadt Bachtschissarai ordnete für sechs „Organisatoren und Teilnehmer der Hochzeit“ Haftstrafen zwischen 5 und 15 Tagen sowie Ordnungsstrafen von umgerechnet mehr als 800 Euro an, wie örtliche Medien am Mittwoch berichteten.
  • Kurz nach dem Rückzug russischer Truppen ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in den befreiten Teil der Ostukraine gereist. „Unsere blau-gelbe (Flagge) weht über dem befreiten Isjum“, teilte der Staatschef am Mittwoch in sozialen Netzwerken mit. Selenskyj kündigte dabei ein weiteres Vorrücken der ukrainischen Armee an. „Wir bewegen uns nur in eine Richtung - vorwärts und bis zum Sieg“, unterstrich der 44-Jährige. 
  • Nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft sind während des russischen Angriffskrieges mindestens 384 Kinder getötet worden. Den unbestätigten Daten zufolge wurden mindestens 749 Kinder körperlich verletzt.
  • Nach Einschätzung britischer Geheimdienste soll Moskau in der Ukraine iranische Kampfdrohnen eingesetzt haben. Russland beziehe mittlerweile, während seine eigenen Bestände zusammenschrumpften, mit großer Sicherheit Waffen aus sanktionierten Staaten wie Iran oder Nordkorea, hieß es am Mittwoch im täglichen Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums.
  • Zur Unterstützung der Ukraine will EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erneut in das von Russland angegriffene Land reisen. Sie werde an diesem Mittwoch für Gespräche mit Präsident Wolodymyr Selenskyj nach Kiew reisen, sagte die deutsche Politikerin am Mittwoch im Straßburger Europaparlament.
  • In der befreiten ukrainischen Stadt Balaklija im Gebiet Charkiw sollen russische Kräfte im örtlichen Polizeirevier ein Foltergefängnis unterhalten haben. Im Keller seien während der mehrere Monate dauernden Besatzung durchgehend um die 40 Menschen eingesperrt gewesen, berichtete der ranghohe ukrainische Polizist Serhij Bolwinow nach einem Ortstermin. 
  • In der Diskussion über die Lieferung von Panzern in die Ukraine wirft CDU-Chef Friedrich Merz der Bundesregierung unnötiges Zögern vor. Er hätte Exportgenehmigungen für Schützenpanzer des Typs Marder erteilt, die auf den Höfen der Industrie stehen und nicht für Bundeswehr im Einsatz sind, sagte Merz am Dienstagabend im ZDF. In diesem Punkt stimme er mit der FDP und den Grünen überein. Zusammen hätte man dafür auch eine Mehrheit im Bundestag, merkte der Unionsfraktionsvorsitzende an. 
  • Der ukrainische Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch stellt eine Offensive auf die östliche Provinz Luhansk in Aussicht. „Es gibt jetzt einen Angriff auf Lyman, und es könnte einen Vorstoß auf Siwersk geben“, sagte Arestowytsch in einem auf YouTube veröffentlichten Video in Bezug auf die zwei Städte. Er gehe von einem erbitterten Kampf um die Stadt Swatowo aus, da Russland seiner Ansicht nach dort Versorgungslager stationiert habe. „Und das ist es, was sie am meisten fürchten - dass wir Lyman einnehmen und dann auf Lyssytschansk und Sjewjerodonezk vorrücken. Dann wären sie von Swatowo abgeschnitten“, erklärte der Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

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