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Tanz' die Coronakrise!: Deutschland zwischen Vernunft und Wahn
Kneipen öffnen, Urlaube sind auch wieder möglich, Volldampf zurück auf Vor-Corona. Damit ist klar: Was mal Ballermann war, ist jetzt Berlin. Eine Kolumne.

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Es war vielleicht nur eine schöne Illusion. In all der Sorge um Menschenleben und soziale und wirtschaftliche Existenzen spross zu Beginn der großen Krise doch auch die Hoffnung auf mehr individuelle wie gesellschaftliche Besinnung. Auf mehr Achtsamkeit und Achtung, auf mehr Verantwortung für einander. Selbst Menschen, die nicht zu überbordendem Optimismus neigen, setzten plötzlich auf etwas, das die Schriftsteller Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach in ihrem so betitelten Dialog-Bändchen (der Vor-Coronazeit) die „Herzlichkeit der Vernunft“ genannt haben.
Wer dieser Tage durch Berlin streift, erlebt vielerorts wieder das reine Gegenteil. Rüdes Rasen auf den Straßen, das notorische Missachten rot gewordener Ampeln, das Missachten von Abstands- und Anstandregeln in öffentlichen Verkehrsmitteln, Bars, Restaurants, auf Versammlungsplätzen. In Tankstellen finden sich an Zapfsäulen Aufkleber zur Maskenpflicht im Kassenraum, versehen mit dem Hinweis: „Bitte diskutieren Sie mit uns nicht über Sinn oder Unsinn dieser Maßnahmen.“ Prävention kippt da schon um in Resignation.
Gleichzeitig fallen jetzt in Europa vor Beginn der Sommerferien die meisten Reisebeschränkungen. Eben noch schienen freilich Reisen fast nur innerhalb Deutschlands angesagt. Als unter Freunden jemand vor nicht allzu langer Zeit überlegte, so bald wie möglich eine abgesagte Fahrt nach Oberitalien nachzuholen, kam der spontane Ausruf: „Na super, Ferien in Wuhan!“
Diese Einschätzung löst sich gerade auf. Schaut man auf die nach wie vor ungemein strengen Vorsichtsmaßnahmen etwa in Spanien, Frankreich und Italien und sieht zugleich, wie die Berliner Sperrstunde fällt (was selbst manche besorgte Bar-Betreiber den Kopf schütteln lässt), dann kehrt sich gerade allerhand um. Ballermann ist nicht mehr Malle, Ballermann ist Berlin.
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All das sind gewiss auch: pointierte Momentaufnahmen. Wie die zum Wochenanfang gemeldeten und immer nur begrenzt aktuellen Infektionszahlen – nach denen laut Montagsstatistik das kleine Berlin mehr Neuinfektionen verzeichnet hat als das große, bislang viel stärker gebeutelte Bayern. Verallgemeinerungen und voreilige Schlüsse sind in den überall fluiden Viruszeiten trotzdem unangebracht.
Doch es gibt eben auch Fakten. Fakten jenseits der Fake News von Verschwörungsverrückten. Und hierbei fällt auf, nein: stößt auf, dass in Deutschland Vernunft und Wahnsinn, Achtung und Aggression, Geduld und Selbstmitleid offenbar besonders nah beieinander liegen.
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Einerseits nämlich haben Politik, Gesundheitswesen, Gemeinsinn und millionenfaches Engagement auf allen Ebenen Deutschland in der Krise zu einem weltweit respektierten Modellfall gemacht. Andererseits muss die grassierende Auflehnung gegen die vorübergehende Beschränkung von sonst ungehemmten Freiheitsrechten bei vielen Nachbarn völlig maßlos oder gar hysterisch wirken. Vergleichen wir unser relatives Glück dabei gar nicht mit dem Unglück in Brasilien, den USA, in Indien, Syrien oder Teilen Afrikas.
Es reicht schon, an Italien, Frankreich oder Spanien zu denken, wo die Menschen monatelang in ihren Wohnungen wie gefangen waren, wo Kinder kaum frische Luft bekamen und Alte isoliert in ihren abgeriegelten Heimen ausharrten. Während in Deutschland Wiesen und Wälder, Stadtparks und Straßen, Take-aways und Spätis, Eisbuden und Straßen-Cafés fast überall offen oder zu Diensten standen. Von allen Höllen auf Erden war das noch die himmlischste. Und wenn es nicht besser wird, kann es beim nächsten Mal recht viel schlimmer werden. Das, bitteschön, ist die Moral von der Geschicht’.
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