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Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mahnt: Der Schutze des Lebens stehe nicht über allem anderen.

© dpa

Tritt vor dem Schutz des Lebens alles zurück?: Wolfgang Schäuble meint das Richtige, sagt aber das Falsche

Auch in der Coronakrise muss abgewogen werden. Aber in der Diskussion darf die absolute Geltung von Grundrechten nicht infrage stehen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ein absoluter Wert? Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble verneint das. Im Gespräch mit dem  Tagesspiegel sagt er: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig.“ 

Aus seiner These, der Schutz von Leben sei nur ein relativer Wert, leitet Schäuble eine nur relative Pflicht des Staates ab, Leben zu retten und zu schützen. Das gelte aktuell vor allem in der Corona-Eindämmungspolitik.

Schäubles Argumentation erinnert an seine vehemente Kritik, damals als Bundesinnenminister, an einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Dabei ging es, im Nachgang zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001, um die Frage, ob ein Passagierflugzeug abgeschossen werden darf, das Terroristen entführt haben und auf ein ziviles Ziel lenken. Haben die an Bord befindlichen Passagiere ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verwirkt?

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Das Bundesverfassungsgericht sagte klar: Nein! Dieses Recht könne den Passagieren bis zu ihrem Tode nicht genommen werden. Eine Abwägung „Leben gegen Leben“ verstoße gegen das Grundgesetz. Der Staat dürfe niemanden ermächtigen, Menschen zu opfern, um möglicherweise mehr Menschen zu retten.

Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit

Schäuble dagegen berief sich auf das Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte. Das verbiete nur Angriffe, die in keinem vertretbaren Verhältnis zu den erwarteten militärischen Vorteilen stünden. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit bleibe aber gewahrt, wenn zur Vermeidung einer noch größeren Katastrophe wie bei einem Terroranschlag durch ein Flugzeug die entführte Passagiermaschine abgeschossen würde. Der Tod unschuldiger Menschen sei in einem solchen Fall zu akzeptieren.

Corona-Toter in New York: Darf man den Schutz von Leben gegen andere Dinge abwägen?
Corona-Toter in New York: Darf man den Schutz von Leben gegen andere Dinge abwägen?

© Angela Weiss / AFP

Leidenschaftlich und ausdauernd setzte sich Schäuble – wegen des eindeutigen Urteils des Bundesverfassungsgerichts – für eine Grundgesetzänderung ein, die den Abschuss entführter Passagierflugzeuge doch noch erlauben würde. 

Schließlich griff der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, in die Debatte ein und warnte Schäuble, seine Pläne weiter zu verfolgen. Die „Menschenwürdegarantie“ könne „selbst durch eine Verfassungsänderung nicht eingeschränkt werden“, sagte Papier.

Es gibt Extremsituationen, in denen Menschen nicht handeln können, ohne sich schuldig zu machen. Bestimmte Dinge, wie Folter und Mord, sollen unter allen Umständen verboten sein, die physische Unversehrtheit immer gewahrt werden. Aber manchmal kollidiert die Rettungspflicht gegenüber den einen mit der Schutzpflicht für die anderen. 

Keine Hoffnung auf Absolution

Im September 2002 entführte Magnus Gäfgen den damals elfjährigen Jakob von Metzler. Er lockte ihn in seine Wohnung und erwürgte ihn. Gäfgen wurde gefasst, schwieg aber. 

Am Abend des dritten Tages nach der Entführung wurde dem dringend Tatverdächtigen von Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner Gewalt angedroht, damit er den Aufenthaltsort des Kindes nennt. Für diese Drohung wurde Daschner später verurteilt. Vertreter des Staates dürfen weder foltern noch Folter androhen.

Ein Gemeinwesen muss an der absolut geltenden Schutzpflicht für Menschen ebenso festhalten wie am absolut geltenden Folter- und Tötungsverbot. Das schließt nicht aus, dass in Extremsituationen in Abwägung von Prinzip und Konsequenz Entscheidungen getroffen werden, die gegen die Prinzipien verstoßen. Dann müssen die Handelnden Verantwortung übernehmen, ohne auf Absolution spekulieren zu dürfen.

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Um es paradox zu formulieren: Wenn ein Verteidigungsminister fragt, ob er ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug äußerstenfalls abschießen darf, muss die Antwort der Öffentlichkeit „Nein“ lauten. Wenn er es trotzdem tut – und dafür einsteht -, zollen ihm viele womöglich Respekt. 

Wenn ein Polizeibeamter fragt, ob er in einer verzweifelten Lage durch Androhung von Folter herausfinden darf, wo ein entführtes Kind versteckt gehalten wird, muss die Antwort „Nein“ lauten. Wenn er es trotzdem tut – und dafür einsteht -, kann er zum Helden werden.

Mehr Verletzungen als Klarheit

Auch in der Coronakrise muss abgewogen werden. Nur ein Narr würde das bestreiten. Aber die Diskussion muss geführt werden, ohne dass die absolute Geltung von Grundrechten infrage gestellt wird. Wie viele gerettete Covid-19-Erkrankte rechtfertigen eine Maskenpflicht? Wie viele rechtfertigen eine Zunahme der Arbeitslosigkeit? Solche Debatten erzeugen mehr Verletzungen, als sie an Klarheit produzieren.

Eine große Zumutung der Coronakrise besteht darin, dass sie die Verantwortlichen in moralische Dilemmata stürzt. Keiner von ihnen will mutwillig die Wirtschaft ruinieren, damit ein paar mehr Intensivbetreuungsbetten frei werden. Aber es ist ein Unterschied, ob in die Abwägungen bestimmte Gewichtungsaspekte einfließen, oder ob öffentlich Werte relativiert werden, um Gewichtungen vornehmen zu können.

Wenn Wolfgang Schäuble fragt, ob der Schutz des Lebens ein absoluter Wert ist, muss die Antwort „Ja“ lauten. Wenn er in Abwägungsdebatten in sein Urteil auch andere Grundrechte einbezieht, tut er das aus eigener Verantwortung. Er darf auf Absolution dafür hoffen, er darf sie aber nicht einfordern.

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