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Recep Tayyip Erdogan besetzt gerade wichtige Posten mit neuen Leuten.

© Florian Goga/Reuters

Türkischer Justizminister entlassen: Zu viel Rechtsstaatlichkeit

Der türkische Präsident entlässt den Justizminister – und ersetzt ihn durch einen loyalen Hardliner. Wird Erdogans Herrschaft noch autoritärer?

Politisch interessierte Türken bleiben freitags lange auf – nicht zum Feiern, sondern um die digitale Ausgabe des amtlichen Staatsanzeigers zu lesen. Im Präsidialsystem von Staatschef Recep Tayyip Erdogan werden wichtige Entscheidungen häufig nach Mitternacht am Samstag per Erlass bekanntgegeben.

So war es auch am vergangenen Wochenende: Erdogan verkündete im Staatsanzeiger die Ablösung von Justizminister Abdulhamit Gül. Der Minister war der Regierung zu rechtsstaatlich und hatte sich über Polizeistaats-Methoden bei der Verfolgung politischer Gegner beklagt. Im regierungsinternen Machtkampf ist er den Hardlinern unterlegen.

Experten erwarten deshalb eine neue Dimension von Erdogans autokratischer Herrschaft.

Abdulhamit Gül, nicht zu verwechseln mit dem früheren Präsidenten Abdullah Gül, war ein Jahr nach dem Putschversuch gegen Erdogan ins Amt gekommen und vertrat den islamistischen Flügel der Regierungspartei AKP.

Kontrolle über Richter und Staatsanwälte ausgebaut

In seiner Amtszeit seit Juli 2017 wurden Hunderttausende Staatsbeamte wegen angeblicher Nähe zu den mutmaßlichen Putschisten um den Prediger Fethullah Gülen entlassen, Zehntausende kamen ins Gefängnis. Der Spielraum für Kritik und die Zivilgesellschaft wurde immer kleiner. Als Justizminister baute Gül die Kontrolle der Regierung über Richter und Staatsanwälte aus.

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Den Hardlinern in der Regierung war Gül dennoch nicht radikal genug, zumal er sich gelegentlich für rechtsstaatliche Regeln aussprach. Als Innenminister Süleyman Soylu, führender Hardliner im Kabinett, öffentlich erklärte, die Polizei müsse im Kampf gegen den Drogenhandel nicht auf Gerichtsbeschlüsse warten, wies Gül seinen Ministerkollegen öffentlich zurecht.

Eine Kampagne gegen den populären Oppositionspolitiker und Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu verurteilte er vergangene Woche und verglich sie mit dem subversiven Vorgehen der Gülen-Bewegung gegen politische Gegner. Im kleinen Kreis beklagte Gül nach einem Bericht des türkischen Dienstes der Deutschen Welle, sein Land sei zu einem Polizeistaat geworden.

Zermürbt vom Machtkampf

Minister Gül habe hin und wieder noch von Rechtsstaatlichkeit gesprochen „und vernünftige Sachen gesagt oder zumindest zu sagen versucht“, bilanzierte der frühere Kulturminister und Erdogan-Kritiker Ertugrul Günay in einem Interview mit dem Internet-Fernsehsender Medyascope. „Aber in der Praxis hat er nichts davon umsetzen können.“

Zermürbt vom Machtkampf gegen Soylu und andere Hardliner reichte Gül schließlich seinen Rücktritt ein. Die Nachrichtenplattform T24 meldete, er habe sich als Minister gegen den Einfluss besonders Erdogan-höriger Richter und Staatsanwälte in Istanbul gestemmt. Nach Güls Abschied aus dem Kabinett würden nun wichtige Posten in der Justiz neu besetzt.

Sein Nachfolger, der Erdogan-Loyalist Bekir Bozdag, war in den vergangenen zehn Jahren schon zweimal Justizminister und dürfte einen härteren Kurs gegen Regierungskritiker fahren. In Bozdags letzte Amtszeit von 2015 bis Juli 2017 fielen die Festnahmen des Berliner Menschenrechtlers Peter Steudtner sowie der Journalisten Mesale Tolu und Deniz Yücel.

Die Türkei-Expertin Sinem Adar von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin kommentierte auf Twitter, die internen Spannungen im Regierungslager nähmen zu. Mehr Druck auf Andersdenkende sei zu erwarten.

Wenn es Proteste gegen die Regierung gibt, gehen Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten oft hart vor.
Wenn es Proteste gegen die Regierung gibt, gehen Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten oft hart vor.

© Dilara Senkaya/Reuters

Tatsächlich deuten sich weitere Kursverschärfungen an. Im Staatsanzeiger wies Erdogan die Behörden an, mit rechtlichen Mitteln gegen Medien vorzugehen, deren Inhalte „nationalen und moralischen Werten“ widersprächen.

Die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ meldete, vier andere Minister könnten bald ihre Posten verlieren, darunter Außenminister Mevlüt Cavusoglu, der durch Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin ersetzt werden könnte. Erdogan hat bereits mehrfach den Finanzminister und den Chef der Zentralbank ausgetauscht.

Auch der Chef des Statistikamtes muss gehen

Jetzt feuerte Erdogan auch den Chef des Statistikamtes Tüik. Die Behörde hatte den Präsidenten verärgert, indem sie den starken Anstieg der Inflation dokumentierte. Im Staatsanzeiger ließ Erdogan jetzt die Entlassung des bisherigen Amtschefs kurz vor Bekanntgabe der neuen Inflationszahlen an diesem Donnerstag verkünden.

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Die Inflation lag bisher offiziell bei 36 Prozent, doch nach einer Schätzung der Nachrichtenagentur Reuters dürfte sie inzwischen auf rund 47 Prozent gestiegen sein.

Kritiker werfen Erdogan vor, die Unabhängigkeit staatlicher Einrichtungen systematisch auszuhöhlen. Institutionen seien nicht mehr glaubwürdig und zu ihren eigentlichen Aufgaben nicht mehr fähig, schrieb der Oppositionspolitiker und ehemalige Tüik-Chef Birol Aydemir auf Twitter. Im „Willkür-Regime“ des Staatschefs seien die Bürger den Dekreten des Präsidenten im Staatsanzeiger ausgeliefert.

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