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Mitglieder der muslimischen uigurischen Minderheit zeigen während einer Pressekonferenz in Istanbul Bilder ihrer in China inhaftierten Angehörigen.

© Ozan Kose/AFP

Update

Bundesregierung fordert Konsequenzen: UN-Bericht sieht Indizien für „schwere Menschenrechtsverletzungen“ gegen Uiguren in Xinjiang

Minuten vor ihrem Amtsende veröffentlicht die UN-Menschrenrechtskommissarin einen brisanten Bericht: China begehe womöglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Nach dem UN-Bericht zur Lage der Uiguren und anderer muslimischer Minderheiten in der chinesischen Region Xinjiang hat die Bundesregierung Peking zur Einhaltung der Menschenrechte gemahnt. Alle willkürlich Inhaftierten müssten sofort freigelassen und die Vorwürfe schwerster Menschenrechtsverletzungen von unabhängiger Seite aufgeklärt werden, erklärte das Auswärtige Amt in Berlin am Donnerstag. Über Konsequenzen aus dem Bericht werde man in der EU und in den Vereinten Nationen beraten, hieß es mit Verweis auf mögliche Zwangsarbeit in Lieferketten.

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In Xinjiang sind nach Einschätzung des UN-Menschenrechtsbüro womöglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden. Zu diesem Schluss kommt die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, in ihrem seit Monaten mit Spannung erwarteten Bericht. Sie veröffentlichte ihn am Mittwochabend um kurz vor Mitternacht – zehn Minuten vor dem Ende ihrer Amtszeit.

Die Beschreibungen von Menschen, die in so genannten Berufsbildungseinrichtungen festgehalten wurden, hätten Muster von Folter oder anderen Formen grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung aufgezeigt, heißt es darin.

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„Das Ausmaß der willkürlichen und diskriminierenden Inhaftierung von Angehörigen der Uiguren und anderen überwiegend muslimischen Gruppen (...) könnte internationale Verbrechen, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darstellen“, steht in dem Bericht. Den Menschen seien von 2017 bis 2019 und möglicherweise darüber hinaus fundamentale Rechte vorenthalten worden. Die Möglichkeitsform wird in dem Bericht genutzt, weil die Verbrechen nicht von einem Gericht nachgewiesen sind.

Warum hielt Bachelet den Bericht monatelang zurück?

Eigentlich sollte der Report schon 2021 erscheinen. Die Volksrepublik hatte die Veröffentlichung vehement abgelehnt. Warum hielt Bachelet ihn so lange zurück? Der australische Ex-Premierminister und China-Experte Kevin Rudd weist im Gespräch mit dem Tagesspiegel auf die Verfahrensweisen der UN bei solchen Berichten hin. Sie sähen vor, den betroffenen Staaten viel Zeit zu gewähren, um eine Antwort zu entwerfen. Bachelet habe aus „prozeduraler Fairness“ gehandelt, um China mit Blick auf seine erwartbare Gegenkritik, der Bericht sei nicht sauber publiziert, den Wind aus den Segeln zu nehmen, sagt Rudd.

Bachelet wurde zuvor ein nachlässiger Umgang mit China vorgeworfen. Monatelang verhandelte sie mit Peking darüber, ins Land reisen zu können. Im Mai 2022 besuchte sie schließlich China – auch Xinjiang. Mit Kritik an Pekings Vorgehen in der Region hielt sie sich zurück, was zu internationalem Protest führte. Im Anschluss verzichtete die chilenische Ex-Präsidentin auf eine zweite Amtszeit als UN-Hochkommissarin.

Kontroverse Reise

Die Knackpunkte der Reise waren unter anderem, dass das UN-Menschenrechtsbüro selbst entscheiden wollte, wo Bachelet hinfährt und mit wem sie ohne Aufsicht durch Behörden sprechen kann. Ihr Büro sagte zwar, China sei auf die Forderungen eingegangen. Ihre leisen Töne zu Pekings Vorgehen in Xinjiang brachten Bachelet aber Kritik unter anderem von der Bundesregierung ein. Es habe keine Aufklärung des Vorwurfs schwerer Menschenrechtsverletzungen dort gegeben, hieß es in Berlin.

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Menschenrechtsorganisationen begrüßen, dass der Report nun doch erschienen ist. „Der Bericht bestätigt das, was Human Rights Watch schon seit Jahren sagt und intensiv dokumentiert hat“, sagt Wenzel Michalski, Direktor des Deutschland-Büros der Organisation, im Gespräch mit dem Tagesspiegel. China setze Zwangsarbeit ein und begehe „kulturelle Vernichtung durch ‚Umerziehung‘“. Es sei wichtig, „dass jetzt auch offiziell und von unabhängiger Seite die Verbrechen der chinesischen Regierung an Uiguren in Xinjiang bestätigt werden.“

Insgesamt entspreche der Bericht der Einschätzung von Human Rights Watch: Chinas Vorgehen könnte Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Auch Amnesty International lobte die Veröffentlichung. Die Menschenrechtsorganisation forderte vom UN-Menschenrechtsrat die Einrichtung eines unabhängigen internationalen Mechanismus, um zu den Verbrechen in Xinjiang zu ermitteln.

Human Rights Watch: „Furchtbar, dass es so lange gedauert hat“

Human Rights Watch kritisiert aber, dass Bachelet die Veröffentlichung verzögerte. „Es ist furchtbar, dass es so lange gedauert hat“, sagt Michalski. Die Publizierung an Bachelets letztem Tag im Amt zeige, dass die „reale Gefahr“ bestanden habe, dass China das Erscheinen verhindert. „Das wäre ein Desaster gewesen, denn das hätte geheißen, dass der Druck der chinesischen Regierung so groß ist, dass selbst die Menschenrechts-Chefin der UN, also die oberste Menschenrechtsverteidigerin der Welt, eingeknickt wäre. Das hat sie gerade so abgewendet – um dann zu verschwinden, so schnell ihre Beine sie tragen“, sagt Michalski.

Bachelet hat sich unterdessen gegen Vorwürfe der unlauteren Rücksichtnahme auf China verteidigt. Sie habe immer auf Dialog gesetzt, teilte sie am Mittwochabend mit. „Dialog (...) bedeutet nicht, dass ich etwas dulde, übersehe oder die Augen verschließe“, sagte Bachelet. „Und es schließt nicht aus, seine Meinung zu sagen.“

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Bachelet stand unter immensem Druck, wie sie vergangene Woche berichtete. Während viele Regierungsvertreter mit wachsender Ungeduld auf die Veröffentlichung gepocht hätten, habe sie auch einen Brief von rund 40 Regierungen erhalten, die sie drängten, von der Veröffentlichung abzusehen. Einzelne Länder nannte sie nicht.

Einige Menschenrechtsgruppen kritisieren, dass der UN-Bericht nicht von Genozid spricht, wie es etwa die US-Regierung und mehrere Parlamente, darunter Kanada und Großbritannien, tun. Dilaxat Raxit vom Weltkongress der Uiguren bemängelte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, dass der Report zwar die Gräueltaten bestätige, sie aber nicht als Völkermord charakterisiere. Michalski betont, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit „völkerrechtlich in keiner Weise geringer einzustufen“ seien als ein Völkermord. Auch Human Rights Watch spricht nicht von einem Genozid – nicht weil die Organisation ihn ausschließe, sondern weil die Beweise dafür derzeit nicht genügten, sagt Michalski.

Quellen sprechen von bis zu einer Million Inhaftierten

In den von China als Berufsbildungseinrichtungen bezeichneten Anstalten sei es „zu willkürlichen Inhaftierungen in großem Umfang“ gekommen, heißt es in dem UN-Bericht. Die Einweisung sei „eine Form des Freiheitsentzugs“ gewesen. Zudem habe es glaubhafte Berichte über Vergewaltigungen gegeben.

Dieses undatierte Foto zeigt Gefangene in der Region Xinjiang.
Dieses undatierte Foto zeigt Gefangene in der Region Xinjiang.

© AFP PHOTO/THE VICTIMS OF COMMUNISM MEMORIAL FOUNDATION

Das „Ausmaß an willkürlicher und diskriminierender Inhaftierung“ von Uiguren und Angehörigen anderer mehrheitlich muslimischer Gruppen könne „internationale Verbrechen, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ darstellen, heißt es in dem Bericht weiter. Die internationale Staatengemeinschaft müsse sich „dringend“ mit der Menschenrechtslage in Xinjiang befassen.

Die genaue Zahl der Betroffenen sei nicht zu ermitteln gewesen. Das Büro zitiert Quellen, die von bis zu einer Million Inhaftierten sprechen. Die Menschen, mit denen das Büro sprach, hätten berichtet, dass sie von Bewaffneten bewacht wurden und sie die Einrichtungen entgegen chinesischer Darstellung nicht nach freiem Willen verlassen konnten. Sie hätten keinen oder kaum Kontakt zu ihrer Familie gehabt und seien vor Gesprächen gezwungen worden, sich positiv zu äußern.

Ein Umerziehungslager in der chinesischen Provinz Xinjiang.
Ein Umerziehungslager in der chinesischen Provinz Xinjiang.

© Greg Baker / AFP

[Mehr zum Thema: Wirtschaftliche Abhängigkeit von China - „Es ist höchste Zeit für ein Ende der Naivität“ (T+)]

Die Behörden hätten weitgehende Macht über die Inhaftierten gehabt, und es habe keine Garantien für einen Schutz vor Missbrauch gegeben. Die chinesischen Definitionen von Terrorismus und Extremismus, mit denen Peking seine Vorgehensweise in der Region gerechtfertigt habe, seien vage, moniert das UN-Menschenrechtsbüro.

China veröffentlicht eine 131-seitige Replik

China erkennt die Ergebnisse des Berichts nicht an und veröffentlichte eine 131-seitige Replik. Außenamtsprecher Wang Wenbin bezeichnete das UN-Dokument als „Lüge des Jahrhunderts“.

Bereits zuvor hatte sich China gegen eine Veröffentlichung des Menschenrechtsberichts gestemmt. Ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums hatte den Report am Mittwoch eine „Farce“ genannt, „die von den USA und einer kleinen Zahl westlicher Mächte inszeniert wurde“.

Der chinesische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Zhang Jun, sagte, das „sogenannte Xinjiang-Problem“ sei vor allem eine „politisch motiviert Lüge“, mit der Chinas Stabilität untergraben und Chinas Entwicklung behindert werden solle. Der Bericht stelle außerdem eine „Einmischung in Chinas innere Angelegenheiten“ dar.

Der Report bereite der Staatsführung innenpolitisch Probleme, sagt China-Experte Kevin Rudd, denn Peking betone stets, dass es das UN-System unterstützt. Der Bericht werde eine „fundamentale Rolle in der internationalen Debatte um China spielen“, erklärt Rudd. In der Vergangenheit hätten Pekings Diplomaten in New York und Genf „systematisch“ versucht, Menschenrechtspassagen aus UN-Resolutionen zu streichen. Das habe seit Jahren Methode und werde sowohl von China als auch Russland praktiziert. Demokratische Staaten wie Deutschland oder Australien müssten daran arbeiten, dass die multilateralen Institutionen für die Einhaltung der Menschenrechte stehen, sagt der australische Ex-Premier. (mit dpa, AFP, KNA)

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