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Designated Chancellor Friedrich Merz (2nd R) reacts to the result of the first round of the voting and leaves the plenary hall with the parliamentary group leader of Germany’s Christian Democratic Union (CDU) Jens Spahn (R) during a session at the Bundestag (lower house of parliament), as MPs are to elect Germany’s next Chancellor, in Berlin on May 6, 2025. (Photo by Tobias SCHWARZ / AFP)

© AFP/TOBIAS SCHWARZ

Union hofft auf einen Ruck : Sie verzweifeln an sich selbst und der SPD

Frust über den Kanzler, die SPD, oder die eigene Disziplinlosigkeit – die Unzufriedenheit hat derzeit viele Gesichter in CDU und CSU. Alle eint das Gefühl, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann.

Stand:

Die AfD macht der Union nicht nur politisch die größten Sorgen, nun sprengt sie CDU und CSU schon die Partys. So geschehen am Donnerstagabend, als die Parteifreunde aus dem EU-Parlament zum „europäischen Abend“ in den Berliner „China-Club“ luden, die Ultrarechtsfraktion zu später Stunde eine namentliche Abstimmung ansetzte und viele Gäste in den Bundestag entschwanden.

Thema der Gespräche bis dahin war natürlich auch die ernüchternde Lage der schwarz-roten Koalition. Weil die Stimmung bekanntlich „etwas gedrückt“ sei, verbreitete die Europaabgeordnete Angelika Niebler gleich zur Begrüßung Motivationsbotschaften. „Lassen Sie uns nicht in eine Lähmung verfallen“, sagte die CSU-Politikerin: „Wir kriegen das hin!“

Hinter der Union liegt eine fast schon typische Regierungswoche, die an Ampelzeiten erinnert. Das Bundeskabinett beschloss ein Bürokratieabbau-Paket, der Bundestag verabschiedete mehrere Gesetze – vom wieder subventionierten Agrardiesel über die Erlaubnis zur unterirdischen Speicherung von CO₂ bis zur Aufwertung des Pflegeberufs. Große Schlagzeilen aber machte der interne Ärger rund um die Syrien-Lageeinschätzung von Außenminister Johann Wadephul.

Das lässt tief blicken. Der Schleswig-Holsteiner hält sich in einem ausgebombten Vorort von Damaskus nicht strikt an das Drehbuch, das der Koalitionsvertrag vorgibt. Die „BIld“ macht daraus die News, dass trotz beendeten Bürgerkriegs keine Bürgerkriegsflüchtlinge Deutschland verlassen.

Der Unmut ist keine Einbahnstraße

Die Migrations-Hardliner in der Union schwärzen den Minister an, der sich dann am Dienstag in der Fraktion erklärt, immer länger redet und sich am Schluss zu einem Vergleich Syriens mit Deutschland 1945 hinreißen lässt. Um seinen Job fürchten muss er nicht – Friedrich Merz hat ihn in der Sitzung zuvor als den im Nahen Osten am meisten angesehenen Außenminister gelobt.

Nicht wenige in der Union hoffen, dass Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) noch vor Weihnachten allen in der Regierung den Ernst der Lage vermittelt.

© dpa/Michael Kappeler

Der Kanzler weiß, dass die Kritik an Wadephul auch ein Ventil dafür ist, dass es schwerer ist, den Kanzler dafür zu kritisieren, welche sozialdemokratischen Kröten er seine Leute schlucken lässt. Die Junge Gruppe im Bundestag etwa ist sehr verärgert über die Rentenpläne der Regierung. Ordentlich Ärger gibt es zudem auch deshalb, dass das Kanzleramt schon die ein oder andere einsame Entscheidung ohne Einbindung der Bundestagsfraktion getroffen hat.

Die Abgeordneten müssen lernen, nicht über jedes Stöckchen zu springen.

Aus Regierungskreisen

Der Unmut ist freilich keine Einbahnstraße. Die Exekutive ist auch nicht gerade amüsiert über die „Disziplinlosigkeit“ mancher konservativer und junger Abgeordneter, wie ein Kabinettsmitglied sagt. „Der Ärger über den vermeintlichen Syrien-Kurswechsel des Außenministers wurde von außen in die Unionsfraktion hineingetragen“, heißt es in Regierungskreisen, wo nicht weniger als eine orchestrierte Kampagne der „Bild“-Zeitung vermutet wird: „Die Abgeordneten müssen lernen, nicht über jedes Stöckchen zu springen.“ Nachdem Merz Stellung sowohl zur Position wie zum Personal der Regierung genommen habe, heißt es weiter, „hätte es die absurden Spekulationen über einen Wechsel des Ministers gar nicht mehr geben dürfen“.

So aber gibt es in kurzen Abständen immer wieder Streitthemen, die in einer Mischung aus kulturkämpferischer Übertreibung und noch nicht recht eingeübtem Koalitionskrisenmanagement vor aller Augen eskalieren. Verfassungsrichterwahl, Rente oder Stadtbild lauten die Schlagworte.

„Seit der Sommerpause bringen wir Woche für Woche konkrete Gesetze auf den Weg – das Parlament wird regelrecht mit Gesetzen geflutet“, sagt der CDU-Abgeordnete David Preisendanz: „Trotzdem verstehe ich jeden Bürger, der beim Blick in die Medien denkt, es gehe nichts voran.“

Es hapert immer noch an den Absprachen

Jemand aus der CDU-Führungsriege erinnert daran, wie Volker Kauder einst für seine straffe Führung der Fraktion und die ständigen Rückversicherungen bei Kanzlerin Angela Merkel intern kritisiert wurde. Nun erkennt er den Mehrwert: „Die aktuelle Koalition hat ihr Zentrum noch nicht gefunden.“

Wo also wird gesteuert und gegengesteuert? Manche sehen Versäumnisse bei Kanzleramtsminister Thorsten Frei, der jenseits seiner früheren Tätigkeit als Donaueschinger OB keine Regierungserfahrung mit in die Regierungszentrale brachte. Die gute Laune lässt er sich beim europäischen Abend trotzdem nicht nehmen. Vom ebenfalls anwesenden Fraktionschef Jens Spahn vermuten gerade beim Koalitionspartner SPD einige, dass er sich trotz Teamerfahrung im Kabinett Merkel nicht so gern von Merz einbinden lässt – was er freilich bestreiten würde.

Das Talent der Union, mit internem Geraune, von der real existierenden Politik abzulenken, ist ein Grund für die eigene Unzufriedenheit. Viele Christdemokraten sind aber auch deshalb frustriert, weil sie sehen, dass das im Koalitionsvertrag Vereinbarte längst nicht ausreicht, um die anhaltend schwierige ökonomische Lage wieder in den Griff zu bekommen. Dass bisher noch nicht mehr ging, halten sie in der größeren Regierungsfraktion vor allem für ein Problem der kleineren.

„Nichts geht vorwärts, die SPD hat den Schuss echt nicht gehört“, schimpft eine Unionistin: „Sie blockiert alles, zerredet jede Maßnahme.“ Gemeint sind unter anderem die vereinbarten Kürzungen bei der Entwicklungszusammenarbeit und dem Bürgergeld, die nun sehr viel kleiner ausfallen sollen, als sich die Union das vorgestellt hat. Am nächsten Mittwoch soll im Bundeskabinett aus dem Bürgergeld die neue Grundsicherung werden.

Die Verzweiflung in der Partei speist sich aus dem Bewusstsein, dass die SPD ihre einzig demokratische Koalitionsoption war und ist. Jede Drohung, das Bündnis ohne inhaltlichen Kurswechsel zu verlassen, wird zwangsläufig als Versuch gewertet, CDU und CSU für ein schwarz-blaues Bündnis mit der AfD zu öffnen – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen.

Das Land wäre wirklich bereit für so einen Agenda-2030- oder Zeitenwende-Moment im Bereich Wirtschaftspolitik.

David Preisendanz
CDU-Bundestagsabgeordneter

So geschehen, als dieser Tage Spahn aus der CSU-Landesgruppensitzung heraus zitiert wurde, dass man nicht mit der SPD untergehen werde. Das kam nicht nur bei den Sozialdemokraten schlecht an, auch die eigenen Leute ärgerten sich, dass die Vertraulichkeit nicht gewahrt blieb.

Die politische Zwickmühle besteht darin, dass sich zugleich alle einig darin sind, dass ein Weiter-so im bisherigen schwarz-roten Regierungsmodus erst recht den Weg frei machen würde für die AfD.

Und so hoffen nun viele, dass es zu einer Art Neustart der Regierungsarbeit kommt. Spätestens nach der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz, wo den Sozialdemokraten im März eine Staatskanzlei abhanden kommen könnte, würde die SPD weitergehende Maßnahmen mittragen, wird spekuliert. Eigentlich aber hoffen alle auf ein Erweckungserlebnis noch vor Weihnachten, eine Art „Ruck-Rede“ von Merz, abgestimmt mit SPD-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil.

„Ich glaube, das Land wäre wirklich bereit für so einen Agenda-2030- oder Zeitenwende-Moment im Bereich Wirtschaftspolitik“, meint der Abgeordnete Preisendanz: „In jedem Fall müssen wir für diese notwendige Agenda 2030 alle Kräfte bündeln – und genau deshalb lenken diese ständigen Leerlauf-Debatten nur ab und kosten unnötig Energie.“

Völlig unbegründet scheint diese Hoffnung, die sich in die christdemokratische Verzweiflung mischt, nicht zu sein vor dem nächsten Koalitionsausschuss am kommenden Donnerstag. „Alle die Regierung tragenden Parteien haben erkannt“, heißt es in Regierungskreisen gegenüber dem Tagesspiegel, „dass wir die Wirtschaft zusätzlich stimulieren und dafür über den Koalitionsvertrag hinausgehen müssen.“ In der SPD wird das nicht dementiert. Von mehreren Koalitionsgipfeln, die es deshalb bis Weihnachten geben könnte, ist die Rede.

Sehr viel mehr will niemand dazu sagen. Statt neuer Ankündigungen wie die vom „Herbst der Reformen“ will man sich nun offenbar erst einmal verständigen und dann ein Ergebnis verkünden.

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