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Donald Trump (links) und Wladimir Putin im Juli bei ihrem Treffen in Helsinki.

© Jussi Nukari/Lehtikuva/dpa

US-Historiker Snyder im Interview: "Moskau hat den Präsidenten der USA ausgewählt"

Der amerikanische Zeithistoriker Timothy Snyder über die Ideologie Wladimir Putins, dessen Einfluss auf den Westen und die Bedeutung der Zeit. Ein Interview.

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Herr Snyder, in Ihrem neuen Buch "Der Weg in die Unfreiheit" schreiben Sie der Geschichte große Macht über die Politik zu. Inwiefern treibt die Geschichte gerade die Gegenwart?

Unser Verständnis von Zeit, von der Geschichte, beeinflusst, wie wir Politik verstehen. Unser Geschichtsverständnis geht der Politik voraus. Wir leben damit und darin, ohne es zu bemerken. Das ist bei wirkmächtigen Ideen immer so: Wir halten sie für selbstverständlich, aber sie verändern trotzdem die Art und Weise, wie wir die Welt sehen. In meinem Buch versuche ich, unser Geschichtsverständnis sichtbar zu machen. Ich glaube, das hilft zu verstehen, warum im Moment alles so seltsam, so unheimlich wirkt: Wir wechseln gerade von einem Verständnis von Zeit zu einem anderen.

In Ihrem Buch beschreiben Sie diese Veränderung in unserem Geschichtsverständnis als Übergang von der "Politik der Unvermeidbarkeit" zur "Politik der Ewigkeit". Was meinen Sie damit?

Die Politik der Unvermeidbarkeit betrachtet die Geschichte als etwas, dass linear von der Vergangenheit zur Zukunft verläuft. Es ist eine deterministische Sichtweise. Die Zukunft wird demnach so sein wie die Gegenwart – nur besser. In den USA sieht dieser Glaube so aus: Die Geschichte ist vorbei, die Demokratie ist für immer etabliert. Es gibt keine Alternativen, der Markt setzt die Demokratie um und schafft immer bessere Lebensbedingungen für alle. In Wahrheit ist dieses Geschichtsverständnis aber schlecht für die Demokratie. Wenn wir denken, alles wird gut, egal, was wir tun, fehlt ein Sinn für Verantwortung. Irgendwann hören die Leute außerdem auf, die Geschichte von der automatisch besseren Zukunft zu glauben. Dann gibt es oft einen Wechsel zu dem, was ich die "Politik der Ewigkeit" nenne.

Was verstehen Sie darunter?

Die Politik der Ewigkeit stellt sich die Zeit nicht als zukunftsgerichtet und linear vor, sondern als einen Kreis, der immer wieder zur Vergangenheit aufschließt. Donald Trumps Slogan zum Beispiel heißt "Make America Great Again", again – wieder. Der Referenzpunkt ist ein imaginiertes Ideal in der Vergangenheit. In dieser Sichtweise ist die Zukunft nicht vorhersagbar, wie in der Politik der Unvermeidbarkeit, sondern sie verschwindet einfach völlig. Auch das ist schlecht für die Demokratie, denn sie basiert darauf, aus Fehlern zu lernen und Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.

Was macht die Geschichte so wirkmächtig? Warum nutzen Politiker wie Trump oder Putin nicht nach vorn gewandte, utopische Narrative, um ihre Politik zu begründen?

Das Interessante am 21. im Vergleich zum 20. Jahrhundert ist, dass wir keine Zukunft mehr haben. Vor 100 Jahren gab es leninistische und faschistische Utopien. Die Menschen hingen der Idee an, dass die Zukunft sich von der Gegenwart stark unterscheiden würde. Heute ist der Leninismus tot. Der Faschismus ist noch nicht ganz tot, aber die heutigen Faschisten haben nur sehr wenige Ideen. Im 20. Jahrhundert existierte faschistische Kunst, Architektur, Musik. Heute starren die Faschisten den ganzen Tag ins Internet und schreiben immer wieder dasselbe. Es gibt sehr unterschiedliche Wege, mit dieser Zukunftslosigkeit umzugehen. Ein Weg ist die Politik der Unvermeidbarkeit. Sie sagt, gut, wir haben keine große Erzählung mehr, also sagen wir einfach: Die Zukunft ist wie die Gegenwart, nur von allem etwas mehr. Die heutige Rechte hingegen sagt: Wir reden einfach gar nicht über die Zukunft. Wir halten uns stattdessen an der Idee fest, dass wir Opfer sind.

Wessen Opfer?

Donald Trump sieht Amerika als Opfer der Globalisierung, Putin sieht Russland als Opfer des Westens – das Prinzip ist das gleiche. Vertreter der „Politik der Ewigkeit“, sehen sich als Opfer, weil es in ihrer Sichtweise keine Zukunft gibt, die sie beeinflussen können. Es gibt zum Beispiel einen stärker werdenden Widerstand gegen die Globalisierung – scheinbar ohne dass es eine Alternative dazu gibt. Beschreibt man sich als Opfer, muss man dann auch gar nicht über die Zukunft sprechen. Das ist eine der größten Gefahren für die liberale Demokratie weltweit.

Ein Opfer zu sein, ist doch aber demütigend. Warum empfinden manche Menschen das als attraktives politisches Konzept?

Man gibt die Verantwortung für den Status quo ab. Donald Trumps Position zum Beispiel lautet: Ich bin zwar der Präsident des mächtigsten Landes der Erde, trotzdem bin ich jeden Tag ein Opfer, weil mich die Medien kritisieren. Und weil ich ein Opfer bin, ist alles, was ich tue, gerechtfertigt. Russland wiederum ist aus einer Opferhaltung heraus in die Ukraine einmarschiert, streitet das aber bis heute, vier Jahre nach der Invasion, ab.

Hat der Westen erkannt, dass Russland aus einer vermeintlichen Opferrolle heraus handelt?

Wladimir Putin trägt seine Ideologie eigentlich offen zur Schau. Er zitiert zum Beispiel gern Iwan Iljin, einen faschistischen russischen Philosophen, der 1954 gestorben ist. Iljin ist überhaupt in Russlands Führungsspitze sehr populär. Die Philosophie Iljins und Putins Umgang damit ist interessant, weil sie eine Verbindung zwischen altem und neuem Faschismus zeigt. Iljins zentrale These fußt darauf, dass die Welt kaputt ist. Erlösung kann nur eine starke, mystische Führerfigur bringen. Angewandt auf die Postmoderne, auf das 21. Jahrhundert, heißt das: Wenn die Welt ohnehin kaputt ist, ist alles eine Lüge. Dann kann es auch nicht falsch sein, immer und überall zu lügen. Putin hat Iljins Gebeine und dessen gesamten Nachlass nach Russland zurückgeholt. Im Westen beachtet das niemand, weil wir alle überzeugt sein wollen, dass Putin ein Pragmatiker ist, dem es nur ums Geld geht und mit dem man sich am Ende irgendwie einigen wird. Dabei versucht Putin alles, um unsere Aufmerksamkeit auf diese faschistischen Ideen zu lenken.

Aber geht es bei der Ukraine-Krise nicht eher um Geopolitik, um das Sichern von "Einflusssphären"? Manche argumentieren ja, dass die Ukrainekrise hätte vermieden werden können, wenn die EU Kiew keine Beitrittsperspektive eröffnet hätte...

Wichtig ist hier die zeitliche Reihenfolge. Putin hat sein Verhalten gegenüber dem Westen bereits im Dezember 2011 geändert, als die russische Opposition nach der Duma-Wahl Massenproteste gegen das System Putin organisierte. Putin gab sofort den USA und Hillary Clinton die Schuld daran. Davor hat er einschneidende Ereignisse, wie die EU- und die Nato-Erweiterung, weitgehend unkommentiert gelassen. Erst als er Jahre später seine Kandidatur für seine zweite Präsidentschaft ankündigte, änderte er seine Position: Russland ist das wahre Europa, ihr seid das falsche. Wir sind heterosexuell, ihr seid homosexuell. Wir sind traditionell, ihr seid dekadent. Bezogen auf die Ukraine hat er schon 2012 gesagt: Wir sind eine gemeinsame Zivilisation und keine Staaten, daher haben Grenzen für uns keine Bedeutung. Die Ukraine hingegen sieht sich natürlich als souveräner Staat, einer, der Mitglied der EU werden möchte. Da prallen völlig unterschiedlicher Weltsichten aufeinander. In diesem ideologischen Konflikt spielt die tatsächliche Invasion der Ukraine beinahe eine geringere Rolle. Viel wichtiger ist der von Russland angezettelte, historisch beispiellose Propaganda- und Informationskrieg über alle Plattformen hinweg. Putin will die EU als Ganzes zerstören.

Timothy Snyder (49) ist ein amerikanischer Historiker und Professor an der Yale University.
Timothy Snyder (49) ist ein amerikanischer Historiker und Professor an der Yale University.

© Christine Olsson/picture alliance / TT NEWS AGENC

Was macht der Westen falsch, dass Russland sich traut, die USA und die EU derart herauszufordern, obwohl das Land mit einem Anteil von drei Prozent am weltweiten Bruttoinlandsprodukt wirtschaftlich überhaupt nicht mithalten kann?

Das ist eine Idee, auf der die gesamte Außenpolitik der Obama-Regierung gegenüber Moskau fußte: Die Idee, dass Russland den USA aufgrund von wirtschaftlicher Schwäche nichts anhaben könne. Dieser ökonomische Determinismus ist Unvermeidbarkeitspolitik in Reinform. Als Obama Russland als Regionalmacht bezeichnete, war das nicht nur furchtbar unklug, weil er die Russen damit beleidigte. Es war auch inhaltlich falsch, weil es eben nicht nur die Wirtschaftskraft ist, die die politischen Machtverhältnisse bestimmt. Die Russen haben ihre nach traditionellem Verständnis sehr schwache Hand sehr klug gespielt. Haben sie das Internet erfunden? Nein. Haben sie soziale Medien, die andere erfunden haben, genutzt, um Millionen von US-Amerikanern zu erreichen und zu beeinflussen? Ja, haben sie. Hat das den Ausgang der US-Wahl beeinflusst? Das hat es. Moskau hat den Präsidenten der USA ausgewählt. Sind die Russen also eine Regionalmacht? Nein, auf keinen Fall. Die russische Prämisse ist: Wirtschaftlich können wir nicht mithalten. Wir sind abhängig von Öl- und Gasexporten. Da es fast unmöglich sein wird, den Abstand aufzuholen, müssen nicht wir stärker werden, sondern die anderen schwächer.

Wie erreichen sie das?

Es geht, wie gesagt, nicht vornehmlich darum, in andere Länder einzumarschieren. Das zeigt sich auch in der 2013 geänderten Militärdoktrin der Russen: Man gewinnt Kriege nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern in den Köpfen der Gegner, in ihrer Psychosphäre. Um die US-Politik zu beeinflussen und die USA zu schwächen, muss man nicht in Oklahoma, Wisconsin oder Michigan einmarschieren, sondern die eigene Propaganda in die Köpfe der Menschen in diesen Staaten bekommen, in denen viele Wechselwähler leben.

Was kann der Westen tun, damit Moskau ihn nicht weiter schwächt?

Meine allgemeine Antwort ist: Russland deckt die Schwächen in unseren Gesellschaften auf. Das kann sogar eine Hilfe sein. Russische Manipulationsversuche bei der US-Wahl nutzen die soziale Ungleichheit aus, den Rassismus, die undemokratischen Aspekte unseres politischen Systems. Das ist wie eine Anleitung, was wir reparieren müssen. Wir müssen unsere eigenen Schwächen erkennen und abstellen.

Kurz nach Donald Trumps Amtseinführung haben Sie seinen Aufstieg mit dem Aufstieg Adolf Hitlers verglichen und gewarnt: Wir haben allenfalls ein Jahr Zeit, um Schlimmeres zu verhindern. Sehen Sie die Lage zwei Jahre nach seiner Wahl immer noch so düster?

Ja, das tue ich. Die deutsche Version ist: Hitler und der Judenmord waren so einmalig, dass wir nichts damit vergleichen dürfen. Dann können wir aber auch keine Lehren daraus ziehen. Bei Amerikanern besteht die umgekehrte Gefahr. Sie tun so, als sei plötzlich jemand aus dem Nichts aufgetaucht, der sechs Millionen Juden umbrachte. Sie interessieren sich kaum für die Vorgeschichte. Deshalb muss man frühzeitig warnen – 1932, und nicht erst, wenn die Vernichtungstransporte in Treblinka ankommen. Trumps Wahlkampf mit Sprechchören über Hillary Clinton: „Sperrt sie ein!“ war faschistisch, er schafft eine Atmosphäre, in der alle, die dazugehören, gut sind und alles Böse von außen kommt. Es gibt also Parallelen zwischen Trump und Hitler. Ich sage nicht: Die USA werden wie Nazideutschland. Aber wir müssen aufpassen und handeln. Das geschieht ja auch. Amerikanische Rechtsanwälte tun mehr, um neues Unrecht zu verhindern, als Rechtsanwälte in der Weimarer Republik. Die Angestellten im mittleren Verwaltungsapparat der US-Regierung sind sich der Gefahren bewusst. Die amerikanischen Militärs leisten nicht blinden Gehorsam. Es demonstrieren mehr Menschen gegen Trump als für ihn.

Wird es bei der Kongresswahl erneut russische Eingriffe geben?

Die Regierung hat Maßnahmen ergriffen. Sie sagt aber auch, China sei inzwischen ein größeres Problem als Russland. Wie auch immer es ausgeht, Trump wird sagen: Die Russen haben den Demokraten geholfen. Er ist ein gewohnheitsmäßiger Lügner, und das ist die erwartbare Lüge. Sie soll die Zusammenhänge vernebeln.

Wo liegt Russlands Zukunft?

Russlands Zukunft ist Europa. Vielleicht erst langfristig. Doch alle großen Imperien auf dem Kontinent sind am Ende in Europa aufgegangen – es war zugleich ihr Weg zu Wohlstand, Demokratie und Rechtsstaat. Auch Russland wird am Ende sein irrationales Handeln überdenken. Es ergibt keinen Sinn, einen verdeckten Krieg gegen die USA und Europa zu führen, wenn China das wahre Problem Russlands ist. Die meisten Russen wissen das. Sie benutzen den Konflikt mit dem Westen als Ablenkung.

Gibt es einen dritten Weg zwischen der Politik der Unvermeidbarkeit und der Politik der Ewigkeit?

Die Alternative ist eine Politik der Verantwortung, die in längeren Zusammenhängen denkt. Wenn wir zu sehr in der Gegenwart gefangen sind, können wir nicht einmal fünf oder zehn Jahre vorausdenken. Dazu müssen wir aber fähig sein. Sonst verlieren wir die Zukunft. Dafür braucht man auch ein Bewusstsein von Zeit und Geschichte. Es war ein Fehler, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ein „Ende der Geschichte“ auszurufen. Geschichte ist eine Form des politischen Denkens.

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