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Stets in Amtskleidung. Rote Barette gehören im Bundesverfassungsgerichts dazu.

© Uli Deck/dpa

Vertrauliche Regierungsgespräche mit Verfassungsrichtern: Wie Karlsruhe sich im Interorgan-Origami verheddert

Die Treffen der Staatsgewalten im Kanzleramt haben Tradition. Das heißt jedoch nicht, dass sie unentbehrlich sind. Im Gegenteil. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Jost Müller-Neuhof

Nichts passiert, weitergehen. So in etwa liest sich der Beschluss, mit dem das Bundesverfassungsgericht einen Befangenheitsantrag gegen seinen Präsidenten Stephan Harbarth zurückgewiesen hat. Im Verfahren um die umstrittene „Bundesnotbremse“ in der Coronapandemie hatten ihm Kläger vorgeworfen, er entscheide möglicherweise nicht mehr unvoreingenommen. Grund: Ein Treffen von Mitgliedern des Gerichts mit Mitgliedern der Bundesregierung im Kanzleramt diesen Sommer, bei dem unter anderem über „Entscheidung unter Unsicherheiten“ referiert wurde. Harbarth fand, das sei ein tolles Thema, in vielerlei Hinsicht bedeutsam; und es betreffe „zeitlose Fragestellungen“.

Es ist den Klägern nicht zu verdenken, dass sie dies anders sehen und einen Zusammenhang mit den pandemiepolitischen Maßnahmen vermuten, die in Karlsruhe abschließend beurteilt werden. Das muss nicht stimmen. Doch genügt der „böse Schein“. Ein Richter muss nicht befangen sein; es reicht, dass die Besorgnis besteht.

Einwände wie Krümel vom Tisch gewischt

So liegt der Fall womöglich hier. Dass die Einwände dennoch vom Tisch gewischt wurden wie die Krümel des gemeinsamen Abendessens im vergangenen Juni, liegt daran, dass niemand eine traditionsreiche Zusammenkunft allgemeiner Skepsis aussetzen will, die dies durchaus verdient hätte. Es geht um die regelmäßigen Treffen der Spitzenleute aus Exekutive und Judikative, die das Verfassungsgericht neuerdings als „institutionalisierten Interorganaustausch“ bezeichnet wissen will. Das klingt, als sei das Format ganz und gar unentbehrlich für das Funktionieren des politischen Systems.

Ein Termin für die Klimapflege

Ist es aber nicht. Es ist ein Termin, der hauptsächlich der Klimapflege dient. Das ist nichts Verwerfliches, doch üblicherweise wird Vertraulichkeit verabredet. Das Karlsruher Gericht verbreitet eine Mitteilung, dass man zum Essen in Berlin gewesen sein. Fragen zu Einzelheiten werden von den Beteiligten zurückhaltend beantwortet. Den Staatsbürgerinnen und -bürgern muss im Wesentlichen genügen, dass hier Wichtige beisammen saßen und zum Wohle aller Wichtiges berieten.

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Nett essen könnte jeder für sich

Eingedenk der Tatsache, dass sich die Regierung oft genug vor dem Höchstgericht für ihr Handeln zu verantworten hat, liegt auf der Hand, dass der „Interorganaustausch“ in seiner praktizierten Form aus der Zeit gefallen ist. Was würde man über polnische Verfassungsrichter denken, die sich mit Regierungsvertretern hinter verschlossenen Türen zum ebenfalls zeitlosen Thema „Anwendungsvorrang des Europarechts“ besprechen? Vermutlich wenig Gutes.

Ein Essen im Bundeskanzleramt mag weniger verdächtig sein. Aber das ändert nichts daran, dass die Treffen traditionell befremdlich sind. An den zunehmenden Befangenheitssorgen wird erkennbar, dass sich die Akteure in ihrem Interorgan-Origami verheddern. Nett essen könnte jeder für sich.

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