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Der Kriegsreporter Crisitiano Tinazzo während eines Interviews mit einem ukrainischen Soldaten.

© privat.

Interview mit einem Front-Reporter: „Viele ukrainische Soldaten sehen sich als Schutzschild für Europa gegen Putin“

Wie geht es den Zivilisten und Soldaten an der Front in der Ukraine? Der Kriegsreporter Cristiano Tinazzi berichtet von seinen Erfahrungen.

Seit 17 Jahren ist Cristiano Tinazzi Kriegsreporter, berichtete bereits über die Konflikte in Libyen und Syrien. Am 24. August reiste er ein drittes Mal in die Ukraine. Im Gespräch mit dem Tagesspiegel berichtet Tinazzi, der unter anderem für die italienische Zeitung „Il Messaggero“ schreibt, kurz zuvor über seine Erfahrungen von der Front.

Herr Tinazzi, was war das einprägsamste Erlebnis an der Front für Sie?
Als eine russische Totschka-Rakete am 8. April in den Bahnhof von Kramatorsk einschlug, in dem sich zu diesem Zeitpunkt zwischen 1000 und 2000 Zivilisten befanden – darunter viele Frauen, Kinder und Alte. Die Menschen versuchten wegen der russischen Angriffe die Stadt zu verlassen, doch die Bahnlinie war zu dieser Zeit bereits beschädigt. Deswegen harrten so viele Menschen in der Bahnhofshalle aus.

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Ich war nur zehn Minuten später vor Ort, noch vor den Rettungskräften. Überall schrien die Menschen zwischen den Trümmern um Hilfe, es herrschte Chaos. Ich und zwei weitere Kollegen haben mit unserer Erste-Hilfe-Ausrüstung dann versucht, den Schwerverletzten zu helfen. Die Bilder des Massakers – so muss man den Angriff bezeichnen – holen mich bis heute immer wieder ein. Offiziellen Angaben zufolge starben im Bahnhof mehr als 50 Menschen an diesem Tag.

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Man kennt dieses Vorgehen der russischen Armee aus früheren Konflikten...
Ich habe das gleiche damals in Syrien miterlebt. Zum einen sind viele Raketenangriffe der Russen unpräzise, was an den veralteten Waffensystemen liegt, aber auch daran, dass es schlicht niemanden interessiert, ob Zivilisten sterben. Zum anderen werden Angriffe auf die Zivilbevölkerung als kollektive Bestrafung angewendet.

Im gesamten russischen Militärapparat spielen Menschenrechte kaum eine Rolle, die Befehlshaber interessieren sich nicht dafür, wie ihre Einheiten mit den Zivilisten umgehen. In der Folge kommt es zu barbarischen Verbrechen wie in Butscha.

Nach einem halben Jahr Krieg hat sich die Berichterstattung verändert. Themen sind vor allem neue Waffensysteme, Gegenoffensiven und Frontverschiebungen – ein wenig wie in einem Eroberungsspiel. Über das Geschehen an der Front selbst liest man immer weniger. Verlieren die Menschen im Westen gerade den Blick dafür?
Nach einem halben Jahr herrscht eine gewisse Kriegsmüdigkeit – im Westen, aber auch in der Ukraine. Und das ist nur verständlich. Nach den ersten beiden Kriegsmonaten bin ich für vier Wochen nach Hause nach Italien gereist, um mich zu erholen. Als ich wieder an die Front in Dnipro kam, war die Stimmung und die Moral unter den freiwilligen Helfern und den Soldaten bereits eine andere.

Jeden Tag verlieren die Menschen dort Kameraden, Freunde, Landsleute. Der eine stirbt, der andere wird gefangengenommen, wieder ein anderer kommt schwerverletzt von der Front zurück. Das macht natürlich mürbe und erschöpft.

Was die freiwilligen Helfer betrifft, ging vielen schlicht das Geld aus, weil sie ihren Job aufgegeben hatten. Gleichzeitig steigen auch in der Ukraine wegen des Kriegs die Preise, was den Alltag nochmal für viele erschwert.

Die Risse, die der Krieg psychisch, aber auch materiell im Leben der Betroffenen hinterlässt, die menschlichen Dramen, lassen sich nicht an Frontverläufen oder Militäranalysen ablesen. Und selbst in den Gesprächen mit Zivilisten in den Kampfgebieten merkt man oft erst nach einer Weile, dass etwas nicht stimmt.

Wie meinen Sie das?
Nach einiger Zeit hatten sich die Menschen auf den ersten Blick an die Ausnahmesituation gewöhnt: Der Krieg wurde Normalität. In Dnipro beispielsweise ist nach einigen Wochen kaum noch jemand während eines Raketenalarms in den Bunker geflohen.

Man ist einfach seinem Alltag nachgegangen – ein Gefühl der falschen Sicherheit hatte sich eingestellt. Viele haben schlicht verdrängt, dass die nächste russische Bombe bei ihnen einschlagen könnte.

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In Saporischschja habe ich Geflüchtete aus Mariupol interviewt. Viele waren traumatisiert und wollten nicht darüber sprechen, was ihnen die Russen angetan hatten; dass sie ihre Angehörigen oder ihr Haus verloren hatten. Stattdessen herrschte vor allem Schweigen. Andere taten wiederum so, als wäre alles gar nicht so schlimm. Wirklich geöffnet hat sich kaum jemand.

Was haben ihnen die Soldaten berichtet, mit denen Sie gesprochen haben?
Soldaten sind Menschen. Eine Binse – ja. Aber wenn sie um ihr Leben und ihr Land kämpfen – und genau das machen die ukrainischen Soldaten – dann werden ordentliches Essen oder ein neues Paar Stiefel oder neue Handschuhe plötzlich enorm wichtig.

Natürlich beschweren sich manche darüber, wenn etwas fehlt. Was ich aber am häufigsten gehört habe – und das liegt wohl daran, dass ich Italiener bin – waren Fragen wie: „Was denken die Europäer über uns?“

Die Soldaten wollen wissen, ob die Deutschen oder Italiener mitbekommen, wie sie ihr Leben für Europa an der Front riskieren. Denn viele, mit denen ich gesprochen habe, sehen sich als Schutzschild für Europa gegen Putin und die russischen Truppen und ziehen daraus einen Großteil ihrer Motivation. Den Diskurs auf dem Kontinent über den Krieg in ihrem Land verfolgen sie deswegen genau. Es ist ihnen enorm wichtig, wie der Westen auf sie blickt. Sie sehen und fühlen sich als Europäer.

Welche Rolle spielt die Angst im Leben der Soldaten an der Front?
Eine große natürlich. Aber es ist weniger die Angst vor dem Tod selbst, sondern die Furcht, womöglich nicht zu den Eltern, Kameraden oder Kindern zurückkehren zu können. Als wäre es ein Verrat, wenn sie nicht von der Front nach Hause kommen. Und natürlich vermissen viele ihr früheres Leben, das Leben, in dem sie nicht an den Krieg denken mussten.

Sie reisen heute zurück an die Front – was treibt sie nach sechs Monaten Krieg an?
Als Europäer haben wir eine besondere Pflicht darüber zu berichten, was an der Front vor sich geht. Der Krieg findet immerhin direkt vor unserer Haustür statt. Und der Krieg lässt mich auch einfach nicht los. Ich habe viele Kontakte und Freunde mittlerweile in der Ukraine, und sobald ich etwas länger zu Hause in Italien bin, merke ich, wie es mich wieder dorthin zieht. Das ist einfach mein Job.

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