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Nach jeder Wahl die Frage: Ja, wo wandern sie denn?

© dpa

Wählerwanderung: Mit Vorsicht zu genießen

Die Wählerwanderungsanalysen werden schon an den Wahlabenden groß präsentiert. Aber die Sache hat einen gewaltigen Haken.

Der Münchner im Himmel ist auch Teil des bayerischen Wahlgeschehens gewesen. In den großen Wählerwanderungsgemälden, welche die ARD und neuerdings auch das ZDF noch am Wahlabend verbreiten und welche von vielen Medien übernommen werden, haben alle Parteien am vergangenen Sonntag Wähler an eine Gruppe verloren: die Verstorbenen. Aber wie können die Demoskopen das erfahren? Warum weiß das ARD-Institut Infratest dimap, dass 240 000 der 630 000 Toten seit 2013 bei der vorigen Wahl CSU gewählt haben? Nachwahlbefragung ist ja schlecht möglich. Und Séancen gehören nicht zum Instrumentarium der Meinungsforschungsbranche. Nun ja, es wird halt die amtliche Statistik eingesetzt. Die Gesamtzahl stimmt. Der Rest ist eine mehr oder weniger plausible Annahme.

Das Kuriosum der Abwanderung zu den Toten ist freilich nur eine Fragwürdigkeit bei den Wanderungszahlen. Die Zweifel beginnen vor allem damit, dass die Daten zwangsläufig auf Aussagen von Wählern basieren, von denen man nicht sicher sagen kann, dass sie stimmen. Die meisten werden zwar die Frage nach ihrem Wahlverhalten einst und jetzt nach bestem Wissen und Gewissen beantworten. Aber was ist, wenn die Erinnerung trügt? Stammwähler haben da ein eher geringes Problem. Bei den immer häufiger werdenden Wechselwählern und jenen, die mal zur Wahl gehen und mal nicht, kann es schon schwieriger sein. War das jetzt die FDP beim letzten Mal oder doch die CDU? Hat man die Grünen nun bei der Bundestagswahl gewählt oder war das die Europawahl? Wurde die Landtagswahl geschwänzt oder die Kommunalwahl? Wissen diejenigen, die die Möglichkeit zum Stimmensplitting genutzt haben, vier oder fünf Jahre später noch, wie sie Erst- und Zweitstimme verteilt haben?

Verdrängte Entscheidungen

Und dann gibt es noch das Problem, dass manche ihre Entscheidung beim letzten Mal regelrecht verdrängt haben, weil sie heute anders denken, weil sie irgendwann zu der Meinung kamen, sich falsch entschieden zu haben. Man will dann zum Beispiel nicht mehr so gerne wahrhaben, dass man tatsächlich mal Partei X gewählt hat, wo man doch jetzt fest daran glaubt, nur Partei Y könne die Rettung bringen. Psychologie spielt da eine Rolle. Aus solchen Ungewissheiten ergibt sich bei Zehntausenden von Befragten doch ein gerüttelt Maß an Unsicherheit, was die Exaktheit und die Wirklichkeitsnähe der erhobenen Daten betrifft. Man darf auch annehmen, dass einige der Befragten bewusst falsche Angaben machen – aus Jux oder weil sie täuschen wollen. Briefwähler müssen übrigens, wie die Verstorbenen, geschätzt werden.

Die AfD hat laut ARD am Sonntag angeblich 190 000 Wähler von den „Anderen“ gewonnen. Das waren 2013 zum Beispiel Linke, ÖDP, Piraten, Bayernpartei. Glaubhaft? Man weiß es nicht. NPD und Republikaner, die am Sonntag nicht antraten, liegen weltanschaulich wohl etwas näher. Sie hatten 2013 zusammen knapp 100 000 Stimmen. Landeten alle bei der AfD?

Deutliche Unterschiede

Ein bisschen stutzig machen sollte auch der Unterschied der Zahlen bei ARD und ZDF. Zum Beispiel bei der Frage, woher die Wähler der AfD kommen. Der eine Sender meldet 160000 Wähler, die von der CSU zugewandert sein sollen. Der andere aber 200000. Bei der ARD (Infratest) sind es 30000 ehemalige SPD-Wähler, beim ZDF (Forschungsgruppe Wahlen) hingegen 40000. Von den Freien Wählern kommen laut ARD 60000, laut ZDF 40000. Das sind schon deutliche Unterschiede.

Noch lange nach der Einführung der Wählerwanderung in die Wahlabendunterhaltung - in der ARD durch Infas im Jahr 1972 – wurde den Zuschauern vorgegaukelt, man könne auf Hunderterstellen genau angeben, wer sich da von A nach B bewegt hat. Diese Exaktheit wird heute nicht mehr geboten. Warum wohl? Die Forschungsgruppe Wahlen, die seit langem für das ZDF arbeitet (auch der Tagesspiegel ist Partner beim Politbarometer) hat erst im vorigen Jahr erstmals Wanderungsdaten veröffentlicht. Da hat wohl der Konkurrenzdruck gewirkt. Denn die Wählerwanderungszahlen bedienen eine verständliche Neugier und füllen schöne Grafiken. Interaktiv ist das eine hübsche Spielerei. Aber tatsächlich taugen die Wählerwanderungsanalysen der Demoskopen nur als gröberes Indiz. Man sollte sie daher, wie Daumenpeilungen, mit der gebotenen Vorsicht genießen.

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