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Wie viele sollen es sein? Der Bundestag, in Corona-Zeiten dünner besetzt.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Warum das aktuelle Wahlrecht nicht mehr zu reformieren ist: Der Teufel steckt im Kernprinzip

Die Verbindung von Mehrheits- und Verhältniswahl hat lange funktioniert - aber mit den Veränderungen im Parteiensystem kommt sie nicht zurecht. Eine Analyse

Am vergangenen Freitag hat sich der Bundestag einmal mehr durch eine Debatte über das Wahlrecht gequält. Und wieder ist er zu keinem Ergebnis gekommen. Wie es aussieht, ist der Anlauf zu einer Reform gescheitert, den Vergrößerungsautomatismus im jetzigen Wahlsystem zu beseitigen. Also der Versuch, die Größe des Bundestags klar unterhalb der aktuellen Übergröße von 709 Sitzen festzuzurren oder sogar dauerhaft die „Normalgröße“ von 598 Mandaten einhalten zu können.

Was die Koalitionsparteien und die drei Oppositionsfraktionen von FDP, Linken und Grünen bisher vorgelegt haben, führt mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit wieder zu einem recht großen Parlament. Nur die AfD hat Vorschläge gemacht, die tatsächlich eine dauerhafte Größe von 598 Sitzen garantieren würden – allerdings einen ganzen Strauß davon, mal so, mal so, und das auch erst, als klar wurde, dass der Ansatz der anderen Fraktionen auf eine größere Mindestsitzzahl als bisher hinauslaufen würde.

Politisches Trauerspiel

So hat der Bundestag bisher bei der Aufgabe, dessen Lösung ganz allein seine Sache ist, ein politisches Trauerspiel veranstaltet. Der Grund für die Reformmisere ist einfach zu benennen: Quer durch die Reihen hat man sich der Erkenntnis verweigert, dass das aktuelle Wahlsystem nicht mehr zu retten ist. Stattdessen ist immer und immer wieder zu hören, es habe sich doch bewährt. Warum dann der Reformbedarf? Und warum dann das endlose, fruchtlose Herumdoktern?

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Seit gut 70 Jahren wird ein System angewendet, das relative Mehrheitswahl in Wahlkreisen mit Verhältniswahl über feste Parteilisten verbindet. Im Wahlgesetz lautet die Definition im ersten Paragraphen, die Abgeordneten würden „nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt“. Dass die Personalisierungskomponente mittels Mehrheitswahl umgesetzt wird, ergibt sich dann aus einem Paragraphen weiter hinten.

Der Grundcharakter des Systems ist also die Verhältniswahl, was auch das Verfassungsgericht betont hat, die Mehrheitswahl dient allein der Umsetzung des Wunsches nach Personalisierung. Also des Wunsches nach einem gewissen Einfluss von Parteibasis und Wählerschaft bei der Zusammensetzung der Fraktionen, die bei reiner Listenwahl stärker vom Willen der Parteiführungen und ihrer Listenparteitagsregie bestimmt wären.

Probleme seit 1994

Bis nach der Vereinigung ging alles gut. Denn das Problem der Überhangmandate, das in dieser Kombination von Verhältnis- und Mehrheitswahl steckt, schlummerte lange ohne große Wirkung vor sich hin. Erst seit der Wahl 1994 wird dies als schwierige Begleiterscheinung wahrgenommen. Überhänge entstehen bekanntlich, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Wahlkreis- oder Direktmandate gewinnt, als ihr nach der für den Parteienproporz ausschlaggebenden Zweitstimmen zustünden. Sie bleiben stehen, denn sie resultieren aus der für die Mehrheitswahl typischen Direktmandatsgarantie. 1994 und 2005 kam es zu 16 Überhängen, 2009 sogar zu 24. Es zeichnete sich ab, dass es noch mehr werden könnten, was dann 2017 mit 46 Überhängen auch der Fall war. Da hatte der Bundestag aber schon gehandelt und zur Wahl 2013 die Ausgleichsmandate eingeführt. Mit denen man sich dann allerdings das Problem der „Aufblähung“ einhandelte, das nun korrigiert werden muss.

Die Überhangprobleme begannen, als sich das Parteiensystem mit Union und SPD als dominierenden Kräften und einem freidemokratischen Anhängsel zu einem Mehrparteiensystem mit heute sechs Bundestagsfraktionen umzuformen begann. Dazu kam, dass immer mehr Direktmandate bei CDU und CSU landeten, weil die SPD ihre alte Stärke in den Wahlkreisen verlor und Grüne, Linke oder AfD das nicht kompensieren konnten.

Schwächeln der CDU

Da vor allem die CDU aber seit Jahren schwächelt und nur noch auf bundesweit etwa ein Drittel der Stimmen kommt, zuletzt auch darunter, verschärft sich das Überhang- und damit das generelle Wahlrechtsproblem noch. Die bestehende Version der personalisierten Verhältniswahl kann sich also offenkundig Veränderungen im Parteiensystem nicht flexibel anpassen. Zwischen Parteiensystem und Wahlsystem gibt es aber immer eine Wechselwirkung. Das kann man nicht negieren.

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Mittlerweile werden wegen dieser Entwicklung Direktmandate auch mit immer geringeren Ergebnissen errungen. 2017 genügten in fast einem Drittel der Wahlkreise Stimmenanteile unter 35 Prozent für den Wahlkreissieg. Zum Teil waren es deutlich weniger, bis hinab auf 23,5 Prozent in Berlin- Mitte. Mit Ergebnissen unter 35 Prozent gewinnt man allerdings in einem echten Mehrheitswahlsystem üblicherweise keinen Wahlkreis. Das zeigt der Blick nach Großbritannien. Dort liegen die Sieger-Ergebnisse in aller Regel bei mehr als 40 Prozent, häufig deutlich darüber. Unter dieser Marke landen nur wenige Mandatsgewinner, bei weniger als 35 Prozent sind es Ausnahmefälle.

Unechte Mehrheitswahl

Kurzum: Im geltenden deutschen Wahlsystem findet eigentlich gar keine echte Mehrheitswahl mehr statt. Es wird unechte Mehrheitswahl unter den Bedingungen einer Verhältniswahl in einem Mehrparteiensystem veranstaltet. Und damit ist die Direktmandatsgarantie fragwürdig geworden. Merkwürdigerweise aber läuft die Debatte im Bundestag nicht darauf hinaus, das kaputte Teil zu ersetzen, sondern ein funktionierendes. Selbst in der Fraktionsführung der Union wird mittlerweile der Merksatz betont, eine Reform gelinge nicht ohne eine deutliche Reduzierung der Zahl der Wahlkreise.

Will man so allerdings wieder bei 598 Sitzen oder auch etwas mehr landen, dann müsste ein Drittel der Wahlkreise dran glauben, also etwa hundert, und nicht 50 wie im Modell von FDP, Linken und Grünen oder gar nur 19 wie jetzt von der Union ins Spiel gebracht.

Das wäre eine größere Entpersonalisierung des Wahlsystems als die alternative Variante, einfach überhängende Direktmandate zu kappen. Die SPD hat eine moderate Kappung in ihr „Brückenmodell“ eingebaut, doch viele Unions-Abgeordnete sehen darin eine „Pervertierung des Wahlrechts“, das nur dazu diene, „die Übermacht der Union in den Wahlkreisen zu brechen“. So steht es in einem Brief aus der Fraktion an ihren Chef Ralph Brinkhaus. Da klingt leichte Hybris an. Man fühlt sich wegen der vielen Direktmandate stärker, als man tatsächlich ist.

Das Problem der Kappung

Eines stimmt schon: So lange man Mehrheitswahl veranstaltet, ist die Aberkennung oder Nichtzuteilung von Direktmandaten mindestens unschön. Aber es gibt andere Möglichkeiten als die Kappung, nicht zuletzt die Erststimmenreihung zur Vergabe von Mandaten nach dem Vorbild des baden- württembergischen Wahlrechts. Dann liefe die Personalisierung weiter über Einzelergebnisse in Wahlkreisen, aber eben nicht mehr per Mehrheitswahl samt Direktmandatsgarantie, sondern über die jeweiligen Stimmenanteile. Der Austausch des kaputten Teils namens Mehrheitswahl wäre auch noch rechtzeitig vor der Wahl im Herbst 2021 möglich sein – denn das Grundprinzip der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl bliebe ja unangetastet.

In der Union will man das bisher nicht. Doch jeder abgeschaffte Wahlkreis ist ein Direktmandat weniger – auf Dauer. Kappung oder Erststimmenreihung sind dagegen geringfügigere Eingriffe, und diese Modelle - eines davon stammt vom Autor dieses Beitrags und ist als Alternativlösung im Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen erwähnt - haben auch den Vorteil, durch Veränderungen im Parteiensystem nicht zusammenzuklappen. Keine Aufblähung, keine Anpassungsnotwendigkeiten, und es bleibt bei garantiert 598 Mandaten. Aber dieser Groschen will in der Fraktion von CDU und CSU einfach nicht fallen.

Die Illusion der Union

Man kann auch erklären, warum das so ist. In der Union verbinden nicht wenige das krampfhafte Festhalten am bisherigen Wahlrecht mit einer darüberhinausgehenden Absicht. Man meint, in der bisherigen Verbindung von Mehrheits- und Verhältniswahl stecke sozusagen schon das eigentlich favorisierte Wahlrecht, nämlich das so genannte Grabensystem. In diesem wird die eine Hälfte der Mandate nach Mehrheitswahl vergeben, die andere nach Listenwahl, aber ohne die Verrechnung wie im aktuellen Wahlsystem. Es würde derzeit vor allem die Union begünstigen, die aus ihrem Drittelanteil bei den Stimmen wohl sogar eine absolute Mehrheit machen könnte. Den massiven Systemwechsel zum Grabensystem könnten die Verfechter dann als nur kleinen Schritt weg vom bisherigen Recht darstellen. Eine Mehrheit dafür gibt es im Bundestag nicht. So kommt zur sachten Hybris auch noch die große Illusion. Das Festklammern an der Mehrheitswahlkomponente behindert die nötige Reform. Doch an der Direktmandatsgarantie hält man in der Union eisern fest, dafür würde man auch Wahlkreise opfern. Und merkt nicht, dass man mit diesem bizarren Trotz einem möglichen Trend zum Verhältniswahlrecht mit weniger oder sogar ohne Personalisierung Vorschub leistet.

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