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Was geht in Kinder vor, die sexuelle Gewalt erlebt haben? Wie geht man am besten mit ihnen um? Das erfordert Spezialkenntnisse.

© Jussi Nukari/Lehtikuva/dpa

Gesetzesverschärfung bei Sexualdelikten: Warum mich eine Experten-Anhörung zu Kindesmissbrauch so empört hat

Juristen zeigen eine fatale Schwäche im Umgang mit sexualisierter Gewalt an Kindern. Grund ist ihre Überheblichkeit. Ein Gastbeitrag.

Stand:

Franziska Drohsel war von 2007 bis 2010 Bundesvorsitzende der SPD-Nachwuchsorganisation Jusos. Sie ist juristische Referentin der Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF).

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder schockiert. Es schockiert, wozu Menschen fähig sind. Es schockiert, dass staatliche Strukturen in jedem einzelnen Fall nicht schützen konnten. Es schockiert, was Opfer nach der Gewalt vor Gericht teils erleben müssen. Letzteres soll hier Thema sein. 

Ein kleiner Ausschnitt der bundesdeutschen Realität: Ein Opferberater arbeitet monatelang mit einem von schwerster Gewalt betroffenen Kind darauf hin, dass das Kind gegenüber einer fremden Person über die Gewalt spricht. Sie betreten das Gerichtsgebäude. Im Flur begegnet das Kind dem Täter. 

Das Gericht war nicht in der Lage, zeitlich versetzte Termine anzuberaumen. Das Kind bricht zusammen. Es wird das Gebäude nicht mehr betreten. Der Prozess ist gescheitert. Es gibt keine anderen Beweise.

Den Eltern eines von sexualisierter Gewalt traumatisierten Mädchens wird gesagt, es dürfe keine Therapie wegen des Einnässens und der Schlafstörungen vor dem Strafverfahren beginnen. Die Aussage sei ansonsten „verzerrt“ und „Suggestivbeeinflussungen der Therapeutin“ nicht auszuschließen. Das Verfahren wird nach einem halben Jahr eröffnet. Der Zustand des Mädchens hat sich verschlimmert.

Im Falle eines Jungen, der gegen Geld fremden Tätern zugeführt wird, verzichten das Familiengericht und das Oberlandesgericht auf die persönliche Anhörung des Kindes und die Beiordnung eines Verfahrensbeistandes. Beides ist im Gesetz vorgesehen. Gegen die Entscheidung des Jugendamts muss der Junge zurück in die Familie und ist dem Täter weiter ausgesetzt. Der Fall liegt in Staufen.

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Gehe ich auf Ursachensuche, höre ich oft: Einzelfälle. Aber: Zu massiv sind die Beispiele, die mir aus der Praxis Monat um Monat zugetragen werden. Ich vermag an diese Mär der Zufälligkeit nicht mehr glauben. Ich bin der Überzeugung, sie hängen mit einer strukturellen Überheblichkeit der juristischen Disziplinen zusammen, anderen Fachdisziplinen überhaupt erstmal nur zuzuhören.

Entsprechend hat mich auch die Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 7. Dezember 2020, an der neben mir überwiegend Vertreterinnen und Vertreter der Rechtswissenschaft und Interessensorganisationen von Juristinnen und Juristen als Sachverständige geladen waren, entsetzt.

Missbrauch von Titeln, von Scheckkarten - von Kindern?

Unisono konnte man die anderen Sachverständigen dabei beobachten, wie sie sich über den Begriff der sexualisierten Gewalt empörten. Ja, es stimmt. Der Begriff der sexualisierten Gewalt ist kein juristischer. Aber seit Jahren wird an dem Begriff des sexuellen Missbrauchs kritisiert, er suggeriere, es gebe neben dem strafbaren „missbrauchen“ auch ein legales „gebrauchen“. .

Das StGB nennt den Begriff häufiger: Missbrauch von Titeln, Missbrauch von Notrufen, Missbrauch von Scheckkarten, Missbrauch von Ausweispapieren, Missbrauch ionisierender Strahlen. Die Gemeinsamkeit: Ein legaler Gebrauch des in den Normen Bezeichneten ist möglich, lediglich der illegale Gebrauch, sprich der Missbrauch steht unter Strafe. Und dort soll sich der Missbrauch von Kindern einordnen – Missbrauch von Ausweispapieren, Missbrauch von Kindern, Missbrauch von Scheckkarten? Als Argument gegen den Begriff der sexualisierten Gewalt?

Auch Masturbation vor einem Kind ist gewaltvoll

Der Begriff der sexualisierten Gewalt hat sich in der nicht-juristischen Fachwelt durchgesetzt, weil er das, was stattfindet, am besten bezeichnet. Sexualisiert ist die Gewalt, weil sie unter dem Deckmantel der Sexualität stattfindet. Sie nutzt die Sexualität, aber ist nicht sexuell. Das sexuelle Selbstbestimmungsrecht Minderjähriger wird durch sexuelle Handlungen Erwachsener an ihnen verletzt.

Diese Verletzung benötigt keine „gewaltvolle“ Begehung, sondern dafür reicht das „gewaltlose“ Begehen wie z.B. die Masturbation vor einem Kind. Dies als Gewalt anzuerkennen und als dieses zu bezeichnen, setzt ein Zeichen. Es mag sein, dass der juristische Gewaltbegriff enger ist, aber die juristische Kunst der Gesetzesauslegung hätte den Namen nicht verdient, wenn sie der Dynamik, der Fortentwicklung und der Anpassung an gesellschaftliche Prozesse nicht fähig wäre.

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Unisono war in der Anhörung ebenfalls zu vernehmen, die Höherstufung zum Verbrechen im Fall des § 176 StGB und § 184b StGB sei problematisch. Gerichte bräuchten Flexibilität. Gerade die Beratungspraxis weiß, dass höhere Strafen die Probleme der Betroffenen (u.a. Länge des Strafverfahrens, Glaubhaftigkeitsgutachten, mangelndes Bekanntwerden, zu wenig Prävention, zu wenig Unterstützung) kaum lösen werden und Höherstufung bedenkenswerte Schwierigkeiten mit sich bringen kann.

Zum Beispiel kann ein Strafbefehlsverfahren eine Entlastung für Betroffene darstellen und auch an der Kriminalisierung einvernehmlicher Handlungen zwischen Jugendlichen (Küsse zwischen einer 13-Jährigen und einer 17-Jährigen z.B.) kann kein Interesse bestehen.

Die bestehende Regelung ermöglicht problematische Auswüchse

Aber es sollte doch nochmal ein genauerer Blick darauf geworfen werden, für welche Handlungen hier einer milderen Strafe das Wort geredet wird. Wenn, wie es der Sachverständige Prof. Dr. Kinzig in seiner schriftlichen Stellungnahme angeführt hat, als Beispiel für das dringende Erfordernis eines minder schweren Falls an eine Konstellation gedacht wird, in der bei einem 43-Jährigen Mann, der seine zehnjährige Nichte schwer sexuell missbraucht hat, „für“ diesen ins Feld geführt werde, dass er ja „nicht pädophil veranlagt“ sei und „er, enthemmt durch Alkohol, nach einem Sinnersatz“ suche, „weil es aus irgendwelchen Gründen mit erwachsenen Frauen nicht klappe“, zeigt dies, welche problematischen Auswüchse die bestehende Regelung ermöglicht.

„Notwendige Flexibilität“ darf keine pauschale Rechtfertigung für Gerichte sein

Ebenso wie der Fall des BGH zum Az. 5 StR 189/09, der bei einem sexuellen Missbrauch an sechs Jungen strafmildernde Umstände angenommen hat, weil die Jungen vor dem Missbrauch „sexuelle Erfahrungen“ gemacht hätten – diese „Erfahrungen“ haben daraus bestanden, dass die Jungen zunächst von der Person, die dem Täter die Jungen zugeführt hat, selber missbraucht wurden. Ein kritischer Blick auf die Rechtsprechung sowie der Versuch, durch eine intelligente Gesetzeswortwahl derartige Ausbrüche zu verhindern, wäre weitaus hilfreicher, als in das pauschale Horn der notwendigen Flexibilität für die Gerichte zu tröten.

Empört hat mich in der Anhörung insbesondere, dass kaum Vorschläge für eine kindgerechte Justiz zu hören waren. Verfehlungen an den Gerichten sind Gegenstand von Landesuntersuchungen gewesen. Selbstkritik, Zuhören, Nachdenken wäre eine angemessene Reaktion. Stattdessen höre ich „natürlich“ Abwehr, bei dem Vorschlag, dass für Richterinnen und Richter am Familien- und Jugendgericht Kenntnisse der Psychotraumatologie und der spezifischen Gewaltformen hilfreich sein könnten.

Psychotraumatologie ist notwendig, weil eine juristische Ausbildung nicht dazu qualifiziert, mit schwer traumatisierten Kindern umzugehen. Dies setzt Kenntnisse über das traumaspezifische Gedächtnis voraus, warum z.B. traumatische Erlebnisse oft mehr als Erinnerungsfetzen sind und nicht kohärent mit Anfangs- und Endpunkt dargelegt werden können.

Ebenso hätte das Wissen um die Spezifika sexualisierter Gewalt, dass ein täterloyales Verhalten eines Kindes nicht die Nicht-Existenz von Gewalt begründet oder der Umstand, dass auch Mütter Täterinnen sein können, in manchen Gerichtsverfahren helfen können. Sowohl in den Kriminalämtern, an den Gerichten, in den Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften gibt es schon jetzt hochqualifizierte, engagierte Personen, deren Wirken man nur mit Respekt begegnen kann. Leider nicht überall.

Franziska Drohsel

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