Politik: Was letztlich zählt
Von Gerd Appenzeller
Was ist wichtiger, die Stabilität oder die Freiheit? Für die meisten Menschen in den kommunistisch beherrschten Staaten Europas war im Wendejahr 1989 die Antwort völlig klar: die Freiheit natürlich. Diese Begeisterung für Demokratie und Menschenrechte fegte die Diktaturen hinweg. Der Westen Europas hatte in den 15 Jahren zuvor mit dem Helsinki Prozess, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die Freiheitsräume zu erweitern gesucht, ohne die Stabilität zu gefährden. Nichts anderes wollen die Menschen in der Ukraine heute. Aber weil sie Angst haben, dass ihr Wille nicht respektiert wird, schreien sie ihren Protest seit Tagen hinaus. Ihre Sprechchöre schallten gestern bis in den Deutschen Bundestag in Berlin.
Kein Wunder, dass sich die Ukrainer um das Ergebnis der freien Wahlen geprellt fühlen. Durch Manipulationen wurde ein Sieg des Moskau genehmen Kandidaten Janukowitsch zusammengezählt, obwohl dessen mehr dem Westen Europas zuneigender Gegenspieler Juschtschenko die Mehrheit erzielt haben dürfte. Der deutsche Bundeskanzler, der sich der Freundschaft mit Wladimir Putin rühmt, stand plötzlich im Verdacht, diesen himmelschreienden Betrug im Interesse der deutsch-russischen Freundschaft und übergeordneter Wirtschaftsbeziehungen zu tolerieren. Die Deutschen im stillen Einvernehmen mit Russland über das Schicksal Osteuropas – das hatte es vor mehr als einem halben Jahrhundert schon einmal gegeben. Das wissen auch die Ukrainer.
Die Bundesregierung hatte offensichtlich erkannt, wie missverständlich und für ihr Ansehen schädlich diese Zurückhaltung interpretiert werden konnte. Nachdem Russland-Koordinator Gernot Erler zunächst noch etwas abgehobene Erläuterungen der Lage in der Ukraine vorgetragen hatte, bereitete er gestern für den Kanzler den Kurswechsel Richtung neue Offenheit vor. Schröder selbst legte sich dann fest, eine andere Lösung als die Wiederholung der Wahl sei nicht vorstellbar. Er konnte sich dabei nicht nur auf die Einigkeit der Staaten der Europäischen Union berufen. Da auch Putin sich für eine ausschließlich friedliche und demokratische Lösung ausgesprochen hatte, scheint ein rechtsstaatlicher Ausweg aus der ukrainischen Krise nun wahrscheinlicher denn je.
Die Frage, wie demokratisch des Kanzlers bevorzugter Partner in Moskau denn ist, konnte kein Gegenstand öffentlicher Erörterungen sein. Schröders jüngste Deutung, bei Putin handele es sich um einen „lupenreinen“ Demokraten, hat ihm herbe Kritik eingetragen. Aber die Bundesregierung wird darauf verweisen, dass sie sich ihre Gesprächspartner nicht aussuchen kann und dass sich die Zustände im Vergleich zur Ära von Boris Jelzin in mancher Hinsicht verbessert hätten. Der hatte vor der Duma, dem russischen Parlament, noch zornig ausgerufen: „Zu Russland muss man Sie sagen!“ Wie tief in seinem Selbstwertgefühl und in seiner Würde verletzt muss ein Land, muss dessen Regierungschef sein, um sich vor aller Welt so zu erniedrigen?
Auch das Russland Putins ist noch ein schwankender Riese, in dem sich die Frage nach Stabilität und Freiheit nicht stellt. Gäbe es denn wenigstens Stabilität, könnte man schon zufrieden sein, denken wohl Putin und Schröder. Aber das allein kann eben kein Zustand auf Dauer, sondern nur einer des Übergangs sein. So weit zurückfallen möchte die Ukraine nicht. Die deutsche Politik hat das verstanden, wissen wir seit gestern.
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