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An diesem Tropfen hängt das Leben aller. Eine allgemeine Impfpflicht würde entscheidende Freiheiten eröffnen.

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Zur Debatte um die Impfpflicht: Wenn Entscheidungsfreiheit zum Problem wird

Eine Impfpflicht würde rechtskonformes Handeln neu definieren – und dadurch gesellschaftliche Konflikte befrieden. Ein Gastbeitrag.

Veronika Grimm ist Professorin für Wirtschaftstheorie an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg und Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Armin Steinbach ist Professor für Öffentliches Recht an der École des hautes études commerciales (HEC) in Paris.

Kaum hat das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber den Rücken gestärkt, stellt sich diesem die nächste Herausforderung: Wie soll er sich zur langfristig einzig effektiven Maßnahme der Pandemieeindämmung positionieren? Die allgemeine Impfpflicht ist die Antwort auf die nach zwei Jahren Pandemieroutine verlässlich wiederkehrenden Grundrechtseingriffe durch Kontaktbeschränkungen. Der Wellengang des Virus ist inzwischen bekannt. Ohne deutlich höhere Impfquote wird er nicht zu stoppen sein.

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Den Gesetzgeber treffen nicht nur Schutzpflichten für Gesundheit und die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems als überragend wichtige Gemeinwohlbelange. Er muss auch die absehbaren Grundrechtseingriffe abwenden. Jede Restriktion erneuert und vertieft den Eingriff in die Freiheiten der Bewegung, Berufsausübung, Versammlung oder auf schulische Bildung. Statt in jeder Welle als Feuerwehr für akute Gefahren für Leib und Leben auf den Plan zu treten, durchbricht der vorausschauende Gesetzgeber diese Dauerschleife – und schützt damit zukünftige Freiheiten.

Erst im Klimaurteil vom April dieses Jahres ermahnte das Verfassungsgericht den Gesetzgeber, Freiheitsausübungen in der Zukunft nicht zugunsten gegenwärtiger Freiheitsausübungen zu kurz kommen zu lassen. Das gilt es auch in Zeiten zu beherzigen, in denen der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit durch die Impfpflicht gegenüber den Gefahren für Leib und Leben und Freiheitsverlusten durch Kontaktbeschränkungen abzuwägen sind.

Wer ist für die Misere verantwortlich?

Die Diskussion über eine Impfpflicht findet in einem Umfeld statt, in dem die pandemische Lage die Gesellschaft zunehmend spaltet. Die Abwesenheit einer Impfpflicht sorgt dafür vermutlich sogar mehr als die Umsetzung derselben. Denn die Freiwilligkeit der Impfung passt nicht mit der Abwägung von Schutzrechten zusammen, die auch für die Mehrheit der Bevölkerung zu der Schlussfolgerung führt: „Jeder, der kann, muss sich impfen lassen.“ Die Mehrheit der Geimpften ist daher – gut begründbar – der Meinung, „die Ungeimpften“ seien für die Misere quasi verantwortlich. Ungeimpfte hingegen berufen sich – formal korrekt – auf ihre Entscheidungsfreiheit. Beide Gruppen fühlen sich im Recht. Polarisierung ist die Folge.

Der harte Kern der Impfgegner liegt im einstelligen Prozentbereich

Sowohl aus verfassungsrechtlicher als auch gesellschaftspolitischer Perspektive gilt daher: Dem Narrativ der Entscheidungsfreiheit bei der Corona-Impfung sollte durch den Gesetzgeber die Grundlage entzogen werden. Indem er den Referenzpunkt für rechtskonformes Handeln verschiebt, würde er die Entscheidung Unentschlossener positiv beeinflussen.

Der harte Kern der Impfgegner liegt nach Expertenschätzungen im einstelligen Prozentbereich. In Italien und Frankreich, die schon früh eine Impfpflicht für Gesundheitsberufe eingeführt haben, gingen die Impfquoten zumindest in diesem Bereich deutlich nach oben – bei geringem Anteil an Suspendierungen und Kündigungen. Umgekehrt deuten aktuelle Umfragen in Deutschland darauf hin, dass stärkerer gesellschaftlicher Druck durch den Ausschluss Nichtgeimpfter vom öffentlichen Leben dazu führt, dass deren Impfbereitschaft noch weiter abnimmt.

Wir brauchen eine Perspektive

Eine Impfpflicht wirkt nicht unmittelbar und wird uns einige Wochen der Einschränkungen sicher nicht ersparen. Die Diskussion ist dennoch jetzt von Bedeutung. Wir brauchen eine Perspektive, die verlässlich weiteren Pandemiewellen vorbeugt. Zu wahren ist dabei die Verhältnismäßigkeit, es darf kein genauso effektives, aber zugleich milderes Mittel verfügbar sein. Verschiedene Staaten sind nicht zuletzt aus diesem Grund stufenweise vorgegangen und haben zunächst eine Impfpflicht in Einrichtungen oder für bestimmte Berufsgruppen beschlossen.

[Lesen Sie hier bei T-Plus: "Als letzte Möglichkeit gerechtfertigt" - Sigrid Graumann vom Deutschen Ethikrat im Interview zur Impfpflicht.]

Die Erfahrungen in Frankreich oder Italien zeigen jedoch, dass eine Impfpflicht allein in Einrichtungen des Gesundheitswesens nicht ausreicht, um weitere Pandemiewellen effektiv einzudämmen. Beginnt man in Deutschland mit diesem ersten Schritt, ist zudem fraglich, ob der zweite nicht erst im Zuge einer weiteren Welle und nach weiteren umfassenden Einschränkungen politisch überhaupt durchsetzbar wäre.

Nach fast zwei Jahren des Ausprobierens unterschiedlichster Maßnahmen deutet alles darauf hin, dass eine allgemeine Impflicht erforderlich ist. Vor deren Inkrafttreten muss es aber eine Impfoffensive geben. Die Angebote müssen noch einmal multipliziert und niederschwellig ausgebaut werden.

Eine effektive Implementierung der Impfpflicht knüpft Verstöße gegen Impflichten dann an Sanktionen, wobei ein gestuftes Vorgehen sinnvoll erscheint. Personalisierte Gesprächs- und Impfangebote sollten Bußgeldern vorausgehen, wobei gestaffelt höhere Sanktionen für Ältere in Betracht kommen, etwa um der besonderen Belastung dieser Gruppe für das Gesundheitssystem Rechnung zu tragen; begründete Ausnahmen von der Impfpflicht sind vorzusehen. Und ein körperlicher Impfzwang ist natürlich keine Option.

Veronika Grimm, Armin Steinbach

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