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Allgegenwärtig: Das Stahlwerk Ilva braucht fast doppelt so viel Platz wie die 200 000-Einwohner-Stadt Tarent selbst. Seine Schlote überragen alles.

© Roberto Caccuri/laif

Größtes Stahlwerk Europas im italienischen Tarent: „Wir sterben an Hunger oder an Krebs“

„Wir sterben an Hunger oder an Krebs“, sagen die Menschen im italienischen Tarent. Dort steht das größte Stahlwerk Europas. In der Gegend ist es der wichtigste Arbeitgeber – und Grund schwerer Umweltverschmutzung. Die Regierung will eine Schließung verhindern.

Voller Einsatz. Jungs und Mädchen stürmen über den Rasen. Zwischen ihnen ein heiß umkämpfter Fußball. Was täten italienische Grundschüler lieber? Ein Schuss noch, und dann – gar nichts. Das Spiel findet nur auf einem Foto statt und über dem liegt ein X aus dicken roten Strichen. „Nein“, steht unterstrichen und in Großbuchstaben daneben: Fußballspielen verboten! Zumindest auf allem, was nach Rasen aussieht. Nur auf geteerten oder gepflasterten Plätzen ist es erlaubt. Erdreich dürfen die Kleinen auf keinen Fall berühren. Und wenn sie heimkommen, müssen ihre Kleider in die Waschmaschine, die Kinder selbst unter die Dusche.

„Liebe Eltern, sagt ihnen das!“, hat der Berufsverband der Ärzte in Tarent auf sein Merkblatt geschrieben: „Der Boden ist mit chemischen Substanzen verseucht, die gefährlich sein können. Und wenn die Kinder ihre verschmutzten Finger in den Mund stecken...“

Es ist erschütternd, sagen Menschen in Tarent, was in ihrer Stadt mit den Kindern passiert: stetige Zunahme der Lungenkrankheiten, überdurchschnittliche, wachsende Säuglingssterblichkeit. Und die Erwachsenen? Viele, die man auf den Straßen fragt, erzählen von einem Bruder, einem Ehemann, einer Mutter, die an Krebs gestorben sind. „Es vergeht kein Tag“, bestätigen Ärzte, „an dem wir nicht die Diagnose ,Tumor’ stellen.“ In ihren weißen Kitteln sind die Mediziner kürzlich bei einer großen Demonstration mitgezogen: „Helft uns, hier ist ein Ozean von Menschen, die Behandlung brauchen!“ Die Kinderärztin Anna Maria Moschetti sagt: „Es ist, als läge ein gespenstischer Fluch über uns. Die Gegenwart ist dramatisch genug, doch die Zukunft beunruhigt mich noch stärker.“

Moschetti hat ihre Praxis im Stadtteil Tamburi, einem populären, von etlichen tausend Menschen dicht besiedelten Wohnviertel. An den Balkonen flattert Wäsche zum Trocknen, hinter den Häusern ragen die blauen, grauen, rot-weiß geringelten Schornsteine des „Monstrums“ in die Höhe. Da, nur um die Breite der Stadtautobahn von Tamburi getrennt, beginnt Ilva. Das Stahlwerk, das fast doppelt so viel Platz braucht wie die 200 000-Einwohner-Stadt Tarent selbst.

Das Werk gilt als größtes seiner Art in Europa – und als die größte Dreckschleuder des Kontinents. Nahe den Wohnblöcken häufen sich riesige Halden mit allen möglichen Mineralien, die ein Stahlwerk und seine Kokerei brauchen.

Abends unter den Laternen, sagt ein Mann, könne man sehen, wie der ganze feine Dreck runterrieselt

„Wenn der Nordwind kommt, dann fährt das alles in dicken Wolken hoch“, sagt ein Anwohner. „Wir haben die dichtesten Fensterrahmen eingebaut, die es gibt. Aber der Staub kommt überall rein.“ Auch in die Lungen. „Schauen Sie, wie rot die Piniennadeln sind. Wie schwarz die Balkone. Wie dreckig die Fassaden.“ Abends unter den Laternen, sagt der Mann, könne man sehen, wie der ganze feine Dreck runterrieselt. Und wenn kein Wind weht, ergänzt seine Frau, „dann liegen die Abgase ganz zäh über uns. Das Dioxin.“

Die Stahlstadt Tarent, unten an der Sohle des italienischen Stiefels, macht eigentlich gar keinen grauen und düsteren Eindruck. Umspült wird sie im Süden vom türkisfarbenen, glasklaren Wasser des „Großen Meers“, auf der anderen Seite vom lagunenartigen „Kleinen Meer“. Gut, von den steinernen Barockpalästen auf der zentralen Altstadtinsel verfallen so viele, das ist Mezzogiorno, aber die Bombenlücken, die der Zweite Weltkrieg in die großen Biedermeier-Viertel daneben gerissen hat, die sind mit neuer Architektur so harmonisch gefüllt, wie man es sonst weder aus Italien noch aus Deutschland kennt. Die Grenzwerte für Feinstaub werden im gewohnten Smog von Mailand und Turin jedes Jahr dreimal so oft überschritten wie in Tarent. Wenig Müll liegt hier herum, Geld scheint vorhanden; die Geschäfte an der Fußgängerzone sehen nach Wohlstand aus. Nur auffallend viele „Zu verkaufen“-Schilder hängen in Läden und an Wohnhäusern.

Umweltnormen seien nicht eingehalten, unvertretbare Risiken für Gesundheit und Umwelt geschaffen worden

Tarent ist in eine Existenzkrise gestürzt. Oder: Es hat sie nach Jahrzehnten der Verdrängung erstmals wahrgenommen. Schuld daran sind Staatsanwalt Franco Sebastio und Untersuchungsrichterin Patrizia Todisco. Vor elf Monaten haben sie den zentralen Teil, die „Heiß-Verarbeitung“, des Stahlwerks Ilva beschlagnahmt. Umweltnormen nicht eingehalten, unvertretbare Risiken für Gesundheit und Umwelt geschaffen, Bürger und Behörden „aufs Gröbste getäuscht“, schrieben sie zur Begründung. Praktisch alle Mitglieder der Eigentümerfamilie Riva kamen in Untersuchungshaft oder Hausarrest, Lokalpolitiker wurden festgenommen wegen Bestechlichkeit, wegen Kungelei, wegen Vernachlässigung der Kontroll- und Aufsichtspflicht. Selbst Gewerkschaften, Journalisten und Kirche sollen sich haben kaufen lassen.

Nicht nur 11 500 Ilva-Beschäftigte, auch 8000 Mitarbeiter von Subunternehmen fürchteten auf einmal um ihren Job. Könnte Ilva unter diesen Umständen überhaupt fortbestehen? Und der Industriehafen obendrein, der ohne Industrie keinen Sinn hat?

Es folgte ein Wettrennen zwischen Regierung und Richterin. Weil das fünfzig Jahre alte Stahlwerk der einzige bedeutende Arbeitgeber in dieser entlegenen Ecke des Südens ist und weil Ilva allein mehr als zwei Drittel des italienischen Stahlbedarfs abdeckt, versuchte Rom – per Notgesetz und neuer Umweltauflagen – die Produktion um jeden Preis zu erhalten. Das Werk sei „von strategischer nationaler Bedeutung“, erklärten Mario Montis Technokratenkabinett und das Parlament an Heiligabend 2012. Die Richterin wiederum unterstellte die Firma einigen „Garanten der Justiz“ und zog im Interesse von Gesundheit und Umwelt vors Verfassungsgericht.

Als sie dort scheiterte, gab sie nach monatelangem Widerstreben zwar die Lagerbestände von Ilva zum Verkauf und zur Weiterverarbeitung frei, beschlagnahmte dafür aber 8,1 Milliarden Euro beim Riva-Konzern selbst. Daraufhin traten Vorstand und sämtliche Abteilungsleiter von Ilva zurück. Das Werk produzierte zwar weiter, allerdings ohne Führung. „Die acht Milliarden sind nötig, um die Sanierung des vergifteten Terrains sicherzustellen“, befand die Richterin. „Das Geld fehlt jetzt, um Ilva weiterzuführen und umweltfreundlich zu modernisieren“, kritisieren Gewerkschaften und Arbeitgeber.

Seit der Privatisierung ist es besser - ein bisschen zumindest

Allgegenwärtig: Das Stahlwerk Ilva braucht fast doppelt so viel Platz wie die 200 000-Einwohner-Stadt Tarent selbst. Seine Schlote überragen alles.

© Roberto Caccuri/laif

In Tarent sind die Meinungen unterschiedlich. „Schließen sollen sie den Kasten“, verlangen die einen. Andere entgegnen: „Ohne Ilva ist hier nur Elend.“ Ein Gemüsehändler in Tamburi sagt: „Wir stehen vor der Wahl, an Hunger oder an Tumoren zu sterben. Bisher haben wir das zweite vorgezogen.“ Er zuckt mit den Schultern. „Was können wir schon machen?“ An jenem Referendum über die Schließung Ilvas, das die vielen Umweltorganisationen in der Stadt seit Jahren gefordert haben und das die Stadtverwaltung über genauso viele Jahre verzögert hat, beteiligten sich Mitte April nur 20 Prozent der Bürger. „Aus Ignoranz und aus Angst vor sozialer Kontrolle“, sagt Umweltschützer Fabio Matacchiera, der einen „Anti-Dioxin-Fonds“ leitet. „Weil sich die einzelnen Bürger bei einer Entscheidung von solcher Tragweite überfordert fühlen“, meint Francesco Murgino, der örtliche Direktor des Unternehmerverbandes Confindustria.

Expertenstudien sehen – je nach Art – eine um 14 bis 400 Prozent höhere Krebshäufigkeit bei den Bewohnern Tarents im Vergleich zum italienischen Standard. Viele wünschen sich, das sei falsch. „Wir sind noch lange nicht an der Wahrheit“, sagt der Gewerkschafter Mimmo Panarelli. „Wir haben erst das belastende Material der Staatsanwaltschaft, also der Anklagebehörde. Die haben ihre eigenen, ganz speziellen Grenzwerte angewendet.“ Die von Ilva selbst angestellten Untersuchungen fehlten noch. Panarelli meint, wenn alle 94 gesetzlichen Umweltauflagen erfüllt und neue EU-Richtlinien frühzeitig umgesetzt würden, werde Ilva „das modernste Stahlwerk Europas“ sein.

Noch schlimmer war es, als Ilva noch unter staatlicher Regie stand

Umweltschützer Matacchiera hingegen glaubt dem Konzern gar nichts mehr: „Die haben, obwohl sie schon seit dreißig Jahren von den Gefahren wussten, bisher nichts getan. Auch mit den neuen Umweltpflichten sind sie schon ein halbes Jahr im Rückstand. Die wollen überhaupt nicht.“ Selbst unter dem neuen Spezialkommissar, den Italiens Regierung – die Eigentümerfamilie Riva entmachtend – mit der Unternehmensführung beauftragt hat, werde es „auch nur wieder einen Aufschub nach dem anderen geben.“

Einig ist sich ganz Tarent allerdings darin, dass alles noch viel schlimmer war, als Ilva noch „Italsider“ hieß und – bis zur Privatisierung 1995 – unter staatlicher Regie stand. „Da war’s ein Schrotthaufen“, sagen alte Männer auf der Straße. „Da hat das 500 Kilometer entfernte Rom gar nicht auf die Folgen dieser Industrialisierung geachtet“, sagt Direktor Murgino. „Die lokalen Behörden waren mit einem solchen Riesenkoloss überfordert. Und wenn, wie die Gerichtsgutachter heute festhalten, mit den Dioxin-Emissionen keine Gesetze verletzt worden sind, dann lag das an den Gesetzen.“ Die Familie Riva, das zeigten die Bilanzen, habe danach zwar eine Milliarde Euro in Modernisierungen zugunsten der Umwelt gesteckt, „aber ein Privatunternehmer tut halt auch nur das Minimum, um die Gesetze einzuhalten. Wer kontrollieren sollte, hat nicht kontrolliert. So sind möglicherweise irreparable Schäden entstanden.“

Doch wer weiß schon, ob alles Unheil wirklich von Ilva kommt? „Der Staat hat uns mit seinen Unternehmen regelrecht umzingelt und verwüstet“, sagen sie in Tarent. Da waren die großen Schiffswerften, da ist seit gut hundert Jahren der Riesenstützpunkt der italienischen Kriegsmarine, da ist ein gewaltiges Zementwerk, da ist die Raffinerie. Die berühmten Tarantiner Miesmuscheln, die da im „Kleinen Meer“ mit seinem etwas geringeren Salzgehalt zu einem derart unvergleichlichen Aroma heranreiften, dass manche Einheimische „nie im Leben andere essen“ wollten oder noch immer wollen – wer hat sie wirklich mit Dioxin und anderen Giften verseucht.

Unmittelbar neben Ilva liegt der Friedhof von Tarent. Still. Wie die Kinder, so dürfen auch die Totengräber kein Erdreich anfassen. Jedenfalls solange sie keine Spezialausrüstung haben. So hat es der Bürgermeister angeordnet. Die Toten liegen so lange in Kühlräumen.

Zwischen den bis zu fünfstöckigen Begräbnishäusern riecht es nicht nur nach Ilva. Hier bricht und verstärkt sich vielfach auch das mächtige Rumoren, das aus dem Stahlwerk dringt wie der Motorenlärm eines tonnenschweren Generators. An manchen Stellen klingt er so dröhnend, als schwebe ein Hubschrauber über einem. Die Gemeinde hat einen kleinen Gedenkstein aufgestellt: „Für alle, die, geopfert von der Arbeit, ihr Leben...“ Nein: nicht „verloren haben“, sondern: „verlieren“. Präsens. Gegenwart. Die Gegenwart von Tarent.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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