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Teuer unterwegs? Einen Reformstau im Gesundheitswesen bemängelt Experte Martin Albrecht.

© Imago/Shotshop

Wirtschaftsweiser warnt vor 50 Prozent Sozialabgaben: „Diese Einschätzung ist absolut realistisch“

Krankenversicherung, Pflege, Rente: Überall wird es richtig teuer. Woran das liegt, was die Politik tun könnte – und welches lange vergessene Problem bald zurückkehren wird. Ein Interview.

Stand:

Herr Albrecht, der Wirtschaftsweise Martin Werding warnt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Sozialabgaben die 50-Prozent-Marke übersteigen. Ist die Lage wirklich so ernst?
Diese Einschätzung ist absolut realistisch. Auch nach den Berechnungen von uns als Institut liegen wir um das Jahr 2035 ganz nah an den 50 Prozent. Im günstigsten Fall sind es nur 46,1 Prozent, im ungünstigsten aber sogar 54,1 Prozent, was wirklich enorm wäre. Um diese Bandbreite geht es.

Wie genau sind diese Zahlen zu verstehen?
Das sind keine Prognosen, sondern Projektionen. Das bedeutet: So wie berechnet käme es nur, wenn die Politik untätig bliebe. Insofern zeigen die Zahlen vor allem, wie groß der Handlungsbedarf ist.

54,1
Prozent Sozialabgaben in zehn Jahren sind laut Projektion denkbar, wenn nicht gegengesteuert wird

Gesundheit, Pflege oder Rente: Wie sieht es in diesen Sparten jeweils aus?
Bei der Krankenversicherung sind die Beiträge in den vergangenen Jahren so stark gestiegen, dass das Niveau jetzt schon Versicherte und Arbeitgeber stark belastet. Die Dynamik wird zwar voraussichtlich etwas gebremst, geht aber weiter. Bei der Pflege ist um den Jahrzehntwechsel ein sehr starker Anstieg zu erwarten, von derzeit 3,8 auf 4,7 Prozent. Das klingt nach kleinen Zahlen, bedeutet aber, dass der Beitragssatz um fast ein Viertel gestiegen ist. Bei der Rente wird es 2028 mit den Beiträgen deutlich nach oben gehen. Und übrigens wird sich auch die Arbeitslosenversicherung, bei der lange Ruhe herrschte, wieder zum Sorgenkind entwickeln.

Warum?
Die lange Phase, in der die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten immer nur gestiegen ist, ist vorbei. Das wird sich mit Zeitverzug in der Arbeitslosenversicherung niederschlagen.

Bei der Rente hat die Regierung trotz des demographischen Wandels die Spendierhosen an und will die Mütterrente ausweiten. Das soll aus Steuermitteln finanziert werden. Macht es Ihnen deshalb weniger Sorgen?
Nicht unbedingt. Das Geld muss irgendwo herkommen, eine Belastung ist das auf jeden Fall. Ob man die Mütterrente über Beitragsmittel oder über Steuern finanziert, hat in erster Linie unterschiedliche Verteilungswirkungen. Egal, wie es bezahlt wird: Schwarz-Rot will außerdem über die 48-Prozent-Rentengarantie den Nachhaltigkeitsfaktor aussetzen, also die Regel, die einmal die Lasten des demographischen Wandels gerecht zwischen Alt und Jung aufteilen sollte. Das zeigt, in welche Richtung es geht.

Gesundheitsministerin Warken plant Darlehen, um Kranken- und Pflegeversicherung finanziell zu stabilisieren. Ist das die richtige Idee?
Man kauft sich hierdurch etwas Zeit, bis die geplanten Strukturreformen greifen. Das wird aber nicht verhindern, dass die Beitragssätze weiter steigen. Die Frage ist außerdem, ob das ordnungspolitisch die richtige Idee ist. Zu erinnern ist an den Grundsatz, dass sich Sozialversicherungen nicht dauerhaft verschulden sollen. Denn das ist letztlich nichts anderes als Verschleierungspolitik. Außerdem sollte der Reformdruck spürbar sein und nicht verkleidet werden.

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Was müsste stattdessen für die Krankenversicherung getan werden?
Es gab hier viele Jahre, in denen reichlich Geld da war. In dieser Zeit hat man es versäumt, die trotzdem ständig notwendigen Reformen voranzutreiben. Denn das System ist hochkomplex, und stets anfällig für Fehlsteuerung von Ressourcen. Nun ist der Reformstau da und der Druck, die Effizienz im System zu steigern, enorm hoch – nicht zuletzt auch wegen der Alterung der Bevölkerung. Die Ansatzpunkte sind klar: Krankenhausreform, Reform der Notfallversorgung und der Rettungsdienste, Digitalisierung, Entlastung der knappen Ressource Arzt.

Lässt sich mit Reformen sofort Geld sparen?
Das Problem ist, dass man erst einmal investieren muss, bevor man sparen kann. Das ist das große Dilemma. Die politischen Entscheider werden um politisch extrem unbeliebte Maßnahmen, mit denen sich das Finanzloch überbrücken lässt, nicht herumkommen. Also zum Beispiel mehr Zuzahlungen, Honorardeckel, Zwangsrabatte. Alle versuchen noch, das zu umgehen, das wird sich meiner Meinung nach aber nicht durchhalten lassen.

Und dann?
Es kommt darauf an, die Lasten gleichmäßig auf alle Akteure im Gesundheitswesen zu verteilen. Und die Notmaßnahmen müssen mit der Perspektive verknüpft werden, dass es mittelfristig für alle auch wirklich besser wird. Dann lassen sich die Menschen von den Reformen, die es nun einmal braucht, auch überzeugen.

Hat die Wahrheit auch einen unbequemen Teil?
Natürlich. Zum Beispiel bei der Krankenhausreform. Da wird immer sehr viel über Qualität gesprochen. Aber man muss ehrlicherweise sagen, dass sich der Ausgabenanstieg erst dann merklich bremsen lässt, wenn die Kapazitäten reduziert werden und nicht mehr so viele Krankenhäuser so viele Betten vorhalten. Eine andere Frage ist, wie wir auf Krisenfälle vorbereitet sein müssen. Aber das lässt sich nicht über die Sozialversicherungen lösen.

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