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Hans-Jochen Vogel im September 2017.

© Christof Stache/AFP

Zum Tod von Hans-Jochen Vogel: Ein Meister der Pflicht

Fleiß, Selbstdisziplin, Korrektheit und etwas Pedanterie brachten dem Sozialdemokraten Hans-Jochen Vogel oberste politische Ämter ein. Dabei blieb er immer bescheiden. Ein Nachruf.

In der politischen Geschichte der Bundesrepublik war er eine der denkwürdigsten Gestalten. Hans-Jochen Vogel, der am Sonntagmorgen im Alter von 94 Jahren in München gestorben ist, wurde zwar nicht Bundeskanzler, sondern blieb Kanzlerkandidat, gescheitert an Helmut Kohl 1983, als dessen Ära begann.

Doch sonst war er alles, was ein langes Leben für einen Politiker bereithalten kann – Oberbürgermeister, Bundesminister, Fraktions- und Parteichef, auch, für kurze Zeit, Regierender Bürgermeister in Berlin. Über die Jahrzehnte hinweg Stütze und Nothelfer seiner Partei, der SPD, wurde er für die Öffentlichkeit zum Beispiel eines politischen Charakters, der mit seiner Politik und seiner Redlichkeit über seine Partei hinausstrahlte.

Mit dieser Statur gehörte er in die Reihe der bedeutenden Politiker wie Kohl, Brandt und Genscher, die – um ihren historischen Ort anzugeben – aus der Nachkriegsgründung Bundesrepublik die Republik machten, die das erfolgreiche Modell eines neuen Staates bildet.

Wer ein so hohes Alter erreicht wie Vogel ist selbst schon ein Teil der Geschichte. Er strahlte das ja auch aus, je länger er lebte, desto mehr, ein bayerisches Gegenstück zum späten, urgesteinhaften Helmut Schmidt. Und er stand mit seinem Leben und seinem Lebenswerk für einen wichtigen Strang in der SPD der Nachkriegszeit und damit der Geschichte der Bundesrepublik.

Denn Vogel war in die Partei eingetreten – 1950 –, als sie erst dabei war, sich aus ihren überkommenen Doktrinen und Traditionen herauszuarbeiten und ein SPD-Beitritt in bürgerlichen Kreisen noch ziemlich unüblich war. Er exemplifizierte die Verwandlung, die die SPD für die sechziger und siebziger Jahre zur bestimmenden politischen Kraft machte.

Bei der Vorstellung des Buches "Auf der Höhe der Zeit" spricht Hans-Jochen Vogel 2007 im Willy-Brandt-Haus in Berlin unter dem Motto "Was heißt es heute, auf der Höhe der Zeit zu sein?" zum Publikum. Das Buch von Bundesaußenminister Steinmeier, Bundesfinanzminister Steinbrück, Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck nimmt Bezug auf eine Mahnung Brandts an die SPD, sich in ihrer politischen Ausrichtung ständig um neue und zeitgemäße Antworten zu bemühen.
Bei der Vorstellung des Buches "Auf der Höhe der Zeit" spricht Hans-Jochen Vogel 2007 im Willy-Brandt-Haus in Berlin unter dem Motto "Was heißt es heute, auf der Höhe der Zeit zu sein?" zum Publikum. Das Buch von Bundesaußenminister Steinmeier, Bundesfinanzminister Steinbrück, Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck nimmt Bezug auf eine Mahnung Brandts an die SPD, sich in ihrer politischen Ausrichtung ständig um neue und zeitgemäße Antworten zu bemühen.

© Rainer Jensen/picture-alliance/ dpa

Er war sich dieser Rolle durchaus bewusst und war stolz darauf, dass er der erste Vorsitzende der SPD war, der aus einer bürgerlichen Beamtenfamilie stammte.

Will man sich vergegenwärtigen, was Vogel als Politiker auszeichnete, so landet man ziemlich direkt bei Max Webers berühmten Wort vom Bohren dicker Bretter. Denn Politik lebte für ihn aus einer starken ethischen Motivation, hoch skeptisch gegenüber ihrem Showcharakter, dem er natürlich seinen Tribut zu entrichten hatte.

„Trotz allem. Weitermachen und nicht verzweifeln.“

Sein politisches Credo hat er, anspruchsvoll und zugleich subtil untertreibend, 1994 ans Ende seiner Abschiedsrede im Deutschen Bundestag gesetzt – mit einem Zitat des SPD-Rechtspolitikers Adolf Arndt: „Die Wahrheit seiner Antwort kann kein Politiker verbürgen, wohl aber die Wahrheit des Fragens und des immer neuen, unermüdlichen Bemühens.“

Und auch eine Notiz Herbert Wehners, die er, dem Vernehmen nach, lange in der Brieftasche trug, zeigte diesen Untergrund seiner Politik. Sie lautete: „Trotz allem. Weitermachen und nicht verzweifeln.“

Geprägt war das Bild Vogels nicht zuletzt durch seinen legendären Arbeitsstil– großer Fleiß, bewundernswerte Selbstdisziplin, unbeirrbare Korrektheit, gemischt mit einem Schuss Pedanterie, für deren Illustration seine Vorliebe für Klarsichthüllen herhalten musste.

Hans-Jochen und seine Ehefrau Liselotte 2008 bei Maischberger.
Hans-Jochen und seine Ehefrau Liselotte 2008 bei Maischberger.

© Horst Galuschka/imago stock&people

Auch wurde von Besprechungsrunden berichtet, in denen er sein Wissen und seine rasche Auffassungsgabe nachgerade demütigend ausgespielt habe, mit Vorliebe in aller Herrgottsfrühe. Er selbst bekannte eine „ziemlich ausgeprägte Neigung, Recht zu behalten“, und bekam denn auch das Etikett „Oberlehrer“ angehängt.

Damit stieß er viele vor den Kopf, zumal in seinen jüngeren Jahren, in denen er seinem Ehrgeiz noch ziemlich ungebremst freien Lauf ließ.

Und dann gab es da noch seine Hochschätzung altväterlicher Tugenden. Sie schlug sich nicht zuletzt nieder in Anekdoten, die mit ironischem Vergnügen erzählt wurden. Die Nutzung der Straßenbahn zur Fahrt ins Rathaus in seiner Münchner Oberbürgermeisterzeit. Der Gebrauch der Sütterlinschrift.

Die Wahl der Economy-Klasse auch bei Dienstflügen – einschließlich der betont deutlichen Guten-Flug-Wünsche, wenn er sich an den Kollegen auf den Business-Plätzen vorbeischob. Der Verzicht auf den bereitgestellten Dienstwagen, als er 1981 in West-Berlin landete, um für das Amt des Regierenden Bürgermeisters zu kandidieren, weil ihm dieser noch nicht zustehe.

Spott über Vogel war immer billig

Lag da die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ganz falsch, wenn sie Vogel eine gewisse „Selbstgefälligkeit in der Bescheidenheit“ nachsagte? Aber kann man in solchen Eigenheiten nicht auch den Wunsch sehen, mit dem eigenen Verhalten Beispiele zu setzen?.

Ohnedies war der Spott über Vogel billig. Ein Politiker wie Peter Glotz, der in Bayerns SPD zeitweise sein Stellvertreter war, sah Vogel anders – als einen Mann, der „ein bohrendes Pflichtgefühl im Leibe“ hatte, ein „Exekutivgenie“, einen „exzellenten Kommunal-, Gesellschafts- und Justizpolitiker“. Und was die legendären Klarsichthüllen angeht, so habe Vogel fast jeden Brief beantwortet, was man nicht von jedem Politiker sagen könne.

Vogel konnte, durchaus ein Mann von Humor, auch ironisch mit diesen (Vor-)Urteilen umgehen. Es war der Verleger, der verhinderte, dass seine Erinnerungen nicht den Titel „Klarsichthülle“ bekommen haben, wie von ihm vorgeschlagen. Nun heißen sie, ebenfalls hinreichend vieldeutig, „Nachsichten“.

Johannes Rau (links) und Hans-Jochen Vogel Bundestagsfraktionsvorsitzender klatschen während des Bundesparteitags der SPD in Dortmund 1983.
Johannes Rau (links) und Hans-Jochen Vogel Bundestagsfraktionsvorsitzender klatschen während des Bundesparteitags der SPD in Dortmund 1983.

© imago/Sommer

Wer Vogel gerecht werden will, der muss die ganze Nachkriegsstrecke der Bundesrepublik ins Auge fassen. 1926 geboren – in Göttingen, aber der Herkunft nach Ur-Bayer –, gehörte er noch zu der Generation, die Krieg und Nachkriegsjahre bewusst erlebt haben. Und wie viele in dieser Generation hat er die Chance des Anfangs genutzt.

Er war allerdings auch Einser-Jurist, also erster seines Examensjahrgangs, ein in Bayern hoch notiertes Prädikat. Jenseits des danach erwartbaren Aufstiegs lag dann allerdings 1960 die Wahl zum Münchner Oberbürgermeister – mit 34Jahren der jüngste in diesem Amt in der Bundesrepublik, überdies gewählt in Direktwahl mit 64,3 Prozent. Generationsgenossen wie Glotz galt er damals als der „Unaufhaltsame schlechthin“.

Diese Wahl bedeutete einen Durchbruch. Mit ihm betrat eine neue Generation die kommunalpolitische Szene, auch die Kommunalpolitik selbst begann sich zu wandeln. Es war Vogel, der mit seinem Appell „Rettet unsere Städte jetzt“ auf dem Städtetag 1971 der Stadtentwicklung eine neue Richtung gab.

Es waren die Jahre, in denen München zur heimlichen Hauptstadt der Bundesrepublik avancierte, die Stadt ihre U- und S-Bahn und die erste Fußgängerzone bekam und schließlich auch noch die Olympischen Spiele 1972.

Als heitere Spiele, mit dem berühmten Zeltdach über dem Stadion und einer mitreißenden Eröffnungszeremonie, zeigten sie der Welt ein gewandeltes Deutschland. Bis der Angriff palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft den dunklen Schatten der Gewalt über die Spiele warf und Vogel die bittere Pflicht blieb, das Flugzeug mit den Särgen nach Israel zu begleiten.

Hans-Jochen Vogel während einer Bundestagsdebatte 1989 in Bonn.
Hans-Jochen Vogel während einer Bundestagsdebatte 1989 in Bonn.

© imago images

Nur wenige Jahre später geriet der erfolgsverwöhnte Politiker voll in die ideologischen Auseinandersetzungen, die die SPD in den sechziger und siebziger Jahren erschütterte. Denn der Kampf der Jusos mit der eigenen Partei erreichte in München besonders heftige Formen, und Vogel, so selbstbewusst wie streitbar, nahm die Herausforderung entschlossen an. Das Ringen wurde zu einer Zäsur seiner politischen Biografie.

Es fügte dem jungen Politstar die erste Niederlage zu und trug zu seinem Wechsel in die Bundespolitik bei. In den Regierungen von Willy Brandt und Helmut Schmidt begann er gleichsam eine neue Karriere, erst als Bau-, dann als Justizminister. Das alles ging einher mit einem Prozess des Umdenkens. Aus dem „alten“, in den Rechts-Links-Kontroversen verkämpften Vogel, wurde ein „neuer“ Vogel.

Kann man diesen Wandel auf die Kurzformel bringen – wie damals eine verbreitete Lesart wollte: vom rechten Flügel der Partei und „Juso-Fresser“ zum liberalen Vertreter der Mitte und der Vermittlung?

Man kann – wenn man in Rechnung stellt, dass Vogel nie rechts war, sondern ein Reformer, mit allerdings sehr prinzipiellen Zügen. Im Übrigen hatte die 68er-Bewegung, in deren Kontext die Auseinandersetzung stattfand, das öffentliche Klima aufgeladen und die Partei gnadenlos strapaziert. Doch seine Wandlung, bei der Vogel auch gehörig über seinen eigenen Schatten springen musste, bleibt ein Vorgang, der Hochachtung abfordert.

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Die Nagelprobe für diese Wandlung wurde West-Berlin. 1981 gab Vogel, immerhin 55 Jahre alt, seine gefestigte Bonner Position auf, um sich für die Berliner SPD in die Bresche zu werfen, die gerade dabei war, die Macht zu verlieren. Es war ein Notopfer, das die angeschlagene Partei nicht rettete, doch für Vogel machte diese Episode Epoche.

Die viereinhalb Monate, die er als Regierender Bürgermeister amtierte, der über Nacht gebildete Senat, der Wahlkampf gegen den späteren Regierenden Bürgermeister Richard von Weizsäcker, aus dem eine Freundschaft erwuchs – in seinen Erinnerung bekannte Vogel, ihm habe das alles für die folgenden Jahre seines Lebens „eine innere Sicherheit gegeben, um die mich mancher beneidete“.

Er blieb Berlin verbunden

Er blieb der Stadt über die Spanne seiner Berliner Tätigkeit hinaus verbunden, nahm gerne seinen Platz in der Reihe der Regierenden Bürgermeister ein und war bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bundestag 1994 Berliner Abgeordneter. Auch das Bürgerbüro, das er in Neukölln gegründet hatte, bestand weiter.

Vogels vielleicht wichtigste Rolle in der deutschen Politik begann mit dem Ende der sozialliberalen Koalition 1982. Die Wahlniederlage der SPD, die eine 13-jährige Regierungszeit beendete, mit ihr auch die Brandt-Wehner-Schmidt-Ära der Partei, rückte ihn ins Zentrum, erst als Vorsitzender der Bundestagsfraktion, dann, ab 1987, auch der Partei. Vogel habe verhindert, dass die SPD damals „ins Nichts abgestürzt“ sei, hat später Peter Struck gesagt, der es wissen musste, denn er war einer seiner Nachfolger.

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Die drastische Formulierung trifft die Situation wie Vogels Leistung. Er war keineswegs nur der Organisator eines Übergangs. Mit einer eminenten Integrationsleistung trug er dazu bei, dass die durch den Machtverlust und innerparteiliche Auseinandersetzungen erschütterte Partei wieder Tritt fasste.

Es waren nicht zuletzt diese Oppositionsjahre in der Ära Kohl, die das Bild des Politikers Vogels prägten. Immer wieder beeindruckte auf den oft quälenden SPD-Parteitagen dieser Jahre seine mächtige, ehern tönende Rede, mit der er die Strömungen der Partei zusammenzwang und ihr – oft mit einem bayrisch grundierten „Herrgottnochmal“ – Mut machte. Dabei war er nie maßlos und hielt die Spannung von Vision und Pragmatik, das immerwährende Problem der Sozialdemokraten, im Gleichgewicht.

Zumal während der Wiedervereinigung, als die SPD lange keine Linie fand und mit Lafontaines Widerstreben rang, war er eine Vertrauen ausstrahlende Instanz wie sonst nur noch Willy Brandt.

Seit Vogels Rückzug steckt die SPD in einer Dauerkrise

Was wäre aus der SPD geworden, wenn sie ihn in diesen Jahren nicht gehabt hätte? Man weiß es nicht. Aber man kann es sich ausmalen, wenn man auf die innerparteiliche Dauerkrise blickt, die die Partei heimsuchte, nachdem Vogel sich 1991 von ihrer Führung zurückgezogen hatte.

Man predige mit seinem Leben mehr als mit Worten: der Satz bildete eine von Vogels gerne verkündeten Weisheiten. Abgesehen davon, dass die Sentenz ihm angesichts seiner Wortgewalt Unrecht tut, traf sie auf ihn zu wie auf wenige.

Dieser Sozialdemokrat, zu dem die bayerische Herkunft gehörte – ein Ururgroßvater war Minister unter Ludwig I. –, wie sein ausgebildeter Sinn für die jeweilige Aufgabe und für das Ganze, gab mit seinem Leben das Beispiel für eine politische Existenz, die Respekt abverlangt. Und für eine staunenswerte Unbeirrbarkeit: Noch mit 93 Jahren versuchte er, mit einer Streitschrift in die aktuelle Debatte über den Wohnungsbau, seine alte Passion, einzugreifen. Auf Vogel zurückzublicken, heißt, gewiss, an vergangene Zeiten zu erinnern. Aber es macht Werte, Überzeugungen und Bezüge sichtbar, an denen sich auch künftige Generationen prüfen könnten.

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