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Für Angela Merkel und Nicolas Sarkozy (oben) ist der deutsch-französische Motor Europas kein Vergnügen.

© AFP

Angela Merkel vs. Helmut Kohl: Zweierlei Europa

Warum Angela Merkel pragmatischer auf die EU blickt als ihr Vorgänger Helmut Kohl. Der Unterschied hat viel mit Generationen zu tun und der Prägung durch Geschichte.

Von Robert Birnbaum

Ob die Kanzlerin und der Altkanzler denn beim Frauen-Fußball-Endspiel wenigstens kurz mal über Europa gesprochen haben, will einer vom Regierungssprecher wissen. Die Frage liegt nahe. Seit dem Wochenende geistern abfällige Worte Helmut Kohls über die Nachfolgerin durch die Nachrichten: „Die macht mir mein Europa kaputt!“ Kohl hat den Satz dementiert; trotzdem wäre der Vorgang ja vielleicht kurz der Rede wert gewesen, wenn man sich eh auf der Frankfurter Tribüne trifft.

Der Regierungssprecher sagt, dass die Zeit wohl zu knapp gewesen sei für solch ein Gespräch. Andere am gleichen Ort hatten die Zeit. Und dabei hat der Alte ihnen etwas noch mal dringend eingeschärft: Was ihr auch tut zur Rettung des Euro, es müsse immer „für Europa“ sein.

Dass Kohl die Ermahnung angebracht fand, sagt einiges über den Wert seines Dementis. Besonders glaubhaft war das sowieso nicht. Denn für einen Europäer alten Schlages muss der Weg, den Merkel spätestens seit der Griechenlandkrise geht, tatsächlich einer Abkehr von ihrem Ideal gleichkommen. Das historisch geprägte Europabild eines Helmut Kohl, auch noch eines Wolfgang Schäuble wird da verdrängt von einer ganz anderen Sicht auf die Gemeinschaft.

Der Unterschied hat viel mit Generationen zu tun und der Prägung durch Geschichte. Kohl ist ein Kriegskind; er hat das zerstörte Deutschland erlebt, sein Bruder fiel in Hitlers Wehrmacht. Die Gespenster der Vergangenheit haben seine Politik in einer Weise bestimmt, wie das Nachgeborene kaum noch verstehen können: Aussöhnung mit Frankreich, engste Partnerschaft mit Amerika, die langsame Rückführung Deutschlands in den Kreis der respektierten Nationen waren logische Imperative für einen, der mit glänzenden Augen erzählte, wie er als Jugendlicher in der Nacht Schlagbäume an der Grenze zu Frankreich demontiert hat.

Aus dieser Sicht ergaben sich konkrete Handlungsweisen. Deutschland unter Kohl hat sich kleiner gemacht, als es ökonomisch und politisch längst war – bescheiden im Auftreten, ein Anwalt der Kleinen in der Union, äußerst zurückhaltend mit militärischer Stärke. Kohl hat schließlich bis zuletzt erlebt, wie wirkmächtig die Denkmuster der Kriegszeit jahrzehntelang geblieben waren. Die britische Premierministerin Maggie Thatcher war nicht die Einzige, die sich noch gegen ein vereintes Deutschland stemmte, weil sie die Wiederkehr Teutoniens witterte.

Helmut Kohl und François Mitterrand hatten 1984 in Verdun noch keine Angst vor Pathos.
Helmut Kohl und François Mitterrand hatten 1984 in Verdun noch keine Angst vor Pathos.

© picture-alliance/ dpa

Für Kohl und seine Generation war Europa das Vehikel, das die Einheit trotzdem möglich machte. Das verpflichtende Bekenntnis zur Europäischen Union bremste jeden Nationalismus im Inneren aus und ließ den Großmachtverdacht nach außen ins Leere laufen. Dass europäische Vereinigung und deutsche Einheit zwei Seiten einer Medaille seien, war deshalb mehr als ein Sinnspruch – es war immer auch als Beruhigung für die anderen gedacht. Der Streit unter Europa-Politikern der Kohl-Ära drehte sich um die Frage, ob das Ziel der EU ein Staatenbund sein solle oder die Vereinigten Staaten von Europa. Kohls Europa erschien den Zeitgenossen so oder so unfertig.

Darin liegt wahrscheinlich der größte Unterschied zu Merkels Sicht auf den Kontinent. Ihr Europa ist, alles in allem, fertig. Bei 27 Mitgliedern erscheint weiterer Zuwachs wenig sinnvoll, mit dem mühsam verabschiedeten Lissabon-Vertrag scheint auch das Maximum an Zusammenarbeit in einem latent euroskeptischen Europa erreicht. Für Merkel ist Europa nicht Verheißung, sondern Zustand; eine arbeitsteilige Organisation aus Kommission, Parlament und dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs – „jeder in seiner Zuständigkeit, aber alle für ein gemeinsames Ziel“, wie es die Kanzlerin in zwei Grundsatzreden im vergangenen Jahr gleich mehrfach formuliert hat.

Das gemeinsame Ziel ist freilich kein ideelles, sondern jeweils konkret. Auch für Merkel ist Europa ein Vehikel: Ihr dient es der Selbstbehauptung in einer globalisierten Welt. Ein „nach innen und außen starkes Europa“ dient ihr als Verstärker. Denn die Kanzlerin hat ja erlebt, dass sie sogar als Chefin des Export-Vizeweltmeisters international wenig zu melden hätte, könnte sie sich nicht auf Europa stützen. Merkel lässt auch keine Gelegenheit aus vorzurechnen, dass ein großer Teil des deutschen Wohlstands sich dem Handel in der EU verdankt.

In der Sache ist das oft gar nicht weit von Kohls Politik entfernt – auch der Alte konnte kaufmännisch denken, in Kategorien von Einfluss und Stärke sowieso. Aber seine Interessenpolitik war überwölbt und begrenzt von einer Perspektive, in der die Einigung Europas immer noch als „eine Frage von Krieg und Frieden“ zu gelten hatte.

Merkel ist ein Nachkriegskind; selbst der Kalte Krieg hat sich erledigt. Das Pathos der Älteren liegt ihr fern. Neues Pathos liegt ihr noch ferner. „Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa“ war das Äußerste, was sie in diese Richtung je gesagt hat. Charakteristischer ist aber ein anderer Satz, 2010 vor dem Europakolleg in Brügge: „Harmonie alleine ist kein Wert an sich für Europa.“ In Helmut Kohls Europa kam so was noch nicht vor.

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