Brandenburg: Als die Berliner abgeschoben wurden
Vor genau 70 Jahren zogen die Alliierten die Grenzen neu: Spandauer gehörten plötzlich zur Sowjetzone
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Die neuen Herren kamen im Morgengrauen. „Zwei Doppelstreifen der Vopo mit Mütze, bewaffnet mit Revolver und Polizeiknüppel“, die gegen 8.30 Uhr auf dem „Finkenkruger Weg (russ. Interessengebiet)“ patrouillierten, so verzeichnet es das Protokoll der Polizeiinspektion Spandau für den 1. Februar 1951. Wenig später wurden sechs mit Zivilpersonen besetzte Pkw beobachtet, die in das Barackenlager Staaken am Finkenkruger Weg fuhren. Durch die Kennzeichen war erkennbar, dass sie in Ost-Berlin zugelassen waren. „Es wird angenommen, dass eine Bezirksverwaltung ihre Dienstgeschäfte übernehmen wird“, hieß es in dem Polizeiprotokoll.
Dann ging es Schlag auf Schlag: Gegen Mittag hing ein rotes Spruchband mit weißer Schrift an der Volksschule am Nennhauser Damm: „Wir lehren und lernen für den Frieden“. Schüler einer anderen Schule berichteten vom Austausch ihrer Lehrer. Bald sah man erste Aushänge, wonach West-Staaken, bislang von Spandau aus verwaltet, dem Ostsektor Berlin-Mitte II angegliedert worden sei. Die Bewohner sollten sich registrieren lassen und ihre Lebensmittel- und Kohlenkarten abholen. Auch gelte als Zahlungsmittel nur noch die DDR-Mark.
Für die nächsten vier Jahrzehnte war es in West-Staaken, seit 1920 Teil von Spandau, mit der Freiheit vorbei. Erst am 3. Oktober 1990 kehrte der Ortsbereich westlich der Straßenzüge Finkenkruger Weg, Nennhauser Damm und Bergstraße zu seiner Heimatgemeinde zurück. Doch so sehr die handstreichartige Aktion der DDR-Behörden den West-Berliner Senat und die alliierten Schutzmächte, allen voran die Briten, auch überrascht hatte: Es war doch nur die Folge einer sechs Jahre zuvor, am 30. August 1945, vom alliierten Kontrollrat sanktionierten Vereinbarung zwischen den Briten und den Sowjets – der Vollzug eines Gebietsaustauschs, der anders als bei späteren, stets unbewohntes Terrain betreffenden Grenzkorrekturen auch den Seiten- und Systemwechsel von Menschen zur Folge hatte.
Es war die vierte Sitzung des im früheren (und heutigen) Kammergericht am Schöneberger Kleistpark tagenden Kontrollrats, dessen damaliger Beschluss bis heute die südwestlichen Grenzen des Berliner Stadtgebiets bestimmt. Denn nur die Abtrennung West-Staakens wurde mit der Wiedervereinigung 1990 rückgängig gemacht, die anderen Grenzänderungen von 1945 blieben bestehen.
Der Hauptgrund für den Gebietsaustausch war der von den Briten genutzte Flugplatz Gatow. Hitler hatte ihn 1935 eröffnet, war zu seinen Flügen Richtung Berchtesgaden stets von dort aus gestartet. Am 26. April 1945 nahm die Rote Armee den Flugplatz ein.
Anfang Juli wurde der Stützpunkt von den Sowjets an die Royal Air Force übergeben. Schon dabei deutete sich an, dass mit dem Ende des Krieges sich auch deren Waffenbrüderschaft dem Ende zuneigte: Da das Vorauskommando der Briten etwas früher als vereinbart auftauchte, wurde sein Kommandeur von den Rotarmisten erst mal für zwei Tage festgesetzt – so schildert es Squadron Leader G.D. Wilson in seiner kurzen, 1971 publizierten „History of Gatow“.
Der Flugplatz ragte über den britischen Sektor hinaus und in sowjetisches Einflussgebiet hinein. Andererseits lag der von den Sowjets genutzte Flugplatz Staaken teilweise auf Spandauer Gebiet. Doch fanden beide Siegermächte einen aus ihrer Sicht praktikablen, vom Alliierten Kontrollrat an diesem Sonntag vor 70 Jahren sanktionierten Kompromiss.
Demnach wurden die jenseits der Stadtgrenze gelegenen Teile des Flugplatzes Gatow kurzerhand Spandau zugeschlagen, ebenso zwecks Grenzbegradigung der nördlich gelegene und weit in den Berliner Bezirk hineinragende „Seeburger Zipfel“ mit dem Wohngebiet Weinmeisterhöhe. Und Groß Glienicke wurde wie Staaken zweigeteilt: Die Grenze zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) verlief nun mitten durch den dortigen See, zerschnitt das ehemalige Rittergut mit seinem Park in zwei Teile, und auch die in den 30er-Jahren entstandene Siedlung „Wochenend West“ am Ostufer des Sees wurde Berlin zugeschlagen. Am Krampnitzer Weg und an der Gutsstraße gingen die Schlagbäume runter, zwei Jahre später lösten sich die Glienicker Christen von Kladow.
Unter sowjetischen Einfluss gerieten dagegen ein unbewohnter, westlich der Potsdamer Chaussee gelegener Zipfel der Rieselfelder – und West-Staaken samt dem dortigen Teil des einst für Zeppeline gebauten Flugplatzes Staaken. Dort waren nur sowjetische Militärmaschinen stationiert, während die Briten Gatow auch zivil nutzten. Sieben Kilometer Luftlinie lagen zwischen den Flugplätzen, am 5. April 1948 war das zu wenig: Eine zweimotorige Maschine der britischen Fluggesellschaft BEA wurde beim Landeanflug auf Gatow von einem sowjetischen Jäger gerammt und stürzte ab, alle 14 Insassen starben.
Wenig später begann die Berlin-Blockade, unter der die 5000 West-Staakener wie alle West-Berliner zu leiden hatten. Ohnehin hatte sich an ihrem Alltag, obwohl sie ja offiziell zum sowjetischen Interessenbereich gehörten, kaum etwas geändert, führte West-Staaken ein kurioses Zwitterdasein. Die Verwaltung erfolgte weiterhin vom Spandauer Rathaus in der Carl-Schurz-Straße aus, auch die Lehrer wurden von dort entsandt. Noch im Dezember 1950 konnten sich die West-Staakener an den Wahlen zum West-Berliner Abgeordnetenhaus beteiligen. Es gab Ost- wie West-Zeitungen zu kaufen, zu bezahlen in West- wie Ost-Mark. Und als der Hamburger Falk-Verlag 1950 auf seinem neuesten Plan von Großberlin West-Staaken der Ostzone zuschlug, gab es von den Bewohnern des Ortsteils empörte Proteste.
Doch dann kam der 1. Februar 1951, begann das „SED-Regime in West-Staaken“, wie der Tagesspiegel tags darauf schrieb. Volkspolizisten liefen nun verstärkt Streife, Schulen und andere öffentliche Gebäude wurden besetzt, die West-Lehrer gegen linientreue SED-Pädagogen ausgetauscht. Viele Eltern meldeten ihre Kinder daraufhin in Spandauer Schulen an, die von Bussen an der Bezirksgrenze abgeholt wurden. So blieben die neuen SED-Lehrer oft fast unter sich und mussten die Kinder mit Spezialaufgaben nach Hause schicken, etwa Aufsätzen zu Themen wie „Was sagen meine Eltern zum Grotewohl-Brief“. Darin kritische Äußerungen über den DDR-Ministerpräsidenten unterbringen? Lieber nicht. Über 380 Familien zogen endgültige Konsequenzen und siedelten nach West-Berlin über, tatkräftig unterstützt durch die bezirklichen Wohnungsämter.
Natürlich gab es landespolitisch viel Aufregung um die Quasi-Annexion: Dringlichkeitsantrag im Abgeordnetenhaus, ein offener Brief von West-Staakenern, man möge doch das vom kommunistischen Berliner Rundfunk genutzte Funkhaus in der Masurenallee besetzen, und der Landesverband des DGB schlug gar vor, umzugswillige West-Staakener gegen SED-Funktionäre, die in West-Berlin lebten, auszutauschen. Die Briten schließlich wurden bei den Sowjets vorstellig, konnten aber nichts ausrichten: Alles war ja nur eine Folge ihrer Vereinbarungen von 1945. So blieb dem Senat unter dem Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter nur die wenig tröstliche Mitteilung, dass West-Staaken nach den ihm vorliegenden Informationen wohl der letzte der neuralgischen Punkte an der Sektorengrenze gewesen sei.
An die Möglichkeit einer Mauer dachte noch niemand.
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