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Brandenburg: Berlin ringt mit der Pannen-Bahn

Junge-Reyer unter Druck / Dellmann für Teilprivatisierung des Netzes / Grüne: EU soll Verträge prüfen

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Berlin - Der Zusammenbruch des Berliner S-Bahn-Verkehrs kam offenbar mit Ankündigung – und wäre zu vermeiden gewesen: Bereits im Januar war die Vernachlässigung der Wartung bei den Fahrzeugen der S-Bahn Thema im Verkehrsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses. Am 26. Januar – Monate vor dem ersten Radbruch – hatte der Betriebsratschef der S-Bahn, Heiner Wegner im Ausschuss erklärt, dass ein Desaster unausweichlich sei, wenn der eingeschlagene Rationalisierungskurs bei der S-Bahn fortgeführt werde. Anwesend war auch Verkehrssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD).

Nach Informationen dieser Zeitung hatte sie daraufhin diese Problematik wiederholt bei der S-Bahn- Geschäftsführung angesprochen, ohne diese zu einem Kurswechsel bewegen zu können. In politischen Kreisen hieß es nun, sie habe sich nicht gegen Parteifreunde im Bund durchsetzen können. Der Grund: Die SPD hatte damals noch den Börsengang der Bahn vorangetrieben. Die Bahn AG zwang deshalb alle Konzerntöchter zu Einsparungen und Stellenstreichungen, die die Abführung hoher Gewinne und positive Bilanzen möglich machen sollten. Die Berliner S-Bahn sollte nach diesen Plänen im kommenden Jahr fast die Hälfte der 223 Millionen Euro an die Konzernmutter als Gewinn abführen, die das Land Berlin der Gesellschaft als Zuschuss für den Betrieb der S-Bahn jährlich überweist.

„Die Geschäftsführung hatte die Fristen für Wartungen und Instandhaltungen weit gespreizt“, sagte S-Bahn-Betriebsrat Wegner nun auf Anfrage. Die S-Bahn Berlin sei „auf Verschleiß gefahren“ worden, um die Renditeziele der Bahn zu erreichen und damit deren damals geplanten Börsengang möglich zu machen.

Ein Börsengang, der mit Berliner Steuergeldern subventioniert worden wäre. So ähnlich sieht es Grünen-Fraktionschefin Franziska Eichstädt-Bohlig. Deshalb streben die Grünen eine Überprüfung des Verkehrsvertrages durch die Europäische Union an. Dieser sei vermutlich „beihilferechtlich zu beanstanden“. Das Land zahle jährlich 232 Millionen Euro an die S-Bahn Berlin. Einen großen Teil dieser Mittel führe die S-Bahn aber als Gewinn an die Bahn ab: 56 Millionen Euro waren es im vergangenen Jahr und dieser Betrag hätte auf 125 Millionen Euro im Jahr 2010 steigen sollen. Die Pannen haben diese Pläne jedoch gebremst: Als Konsequenz aus dem S-Bahn-Chaos soll dieses Jahr kein Gewinn abgeführt werden.

Der Bahn-Beauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Martin Burkert, fordert „lückenlose“ Aufklärung der Vorgänge. „Wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass die Mängel im Zusammenhang mit dem Sparkurs der Bahn stehen, wäre das ein riesengroßer Skandal“, sagte Burkert. Bei der Sicherheit dürfe es keine Sparzwänge geben. Die Schuldigen für diese Vorfälle müssten benannt werden.

Brandenburgs Infrastrukturminister Reinhold Dellmann (SPD) sprach sich gestern in Potsdam mittelfristig für eine Teilprivatisierung des Berliner S-Bahn- Netzes aus. „Sobald wie möglich“ müssten Berlin und Brandenburg den Betrieb für einen Teil des Netzes ausschreiben, sagte Dellmann am Mittwoch. Ein Wettbewerb verbessere die Qualität auch in diesem Bereich, aber es dürfe „kein gnadenloser Wettbewerb sein“.

Wegen der anhaltenden Probleme forderte Dellmann den Mutterkonzern Deutsche Bahn (DB) auf, weitere personelle Konsequenzen zu ziehen. Der Druck auf die S-Bahn sei durch „starke Gewinnvorgaben“ des Mutterkonzerns an die inzwischen ausgetauschte S-Bahn-Geschäftsführung entstanden. Nun müsse sich die Bahn die Frage gefallen lassen, wer für diese Vorgaben verantwortlich war. „Hier ist sicherlich auch darüber nachzudenken, ob es nicht noch mehr – auch persönliche – Verantwortlichkeiten gibt, und zwar über das Maß hinaus der alten S-Bahn-Geschäftsführung“, sagte der Minister in Potsdam.

In Berlin wuchs derweil der politische Druck auf Dellmanns Kollegin Junge-Reyer: Alle Fraktionen der Opposition forderten angesichts des S-Bahn-Desasters ihren Rücktritt. Vorgeworfen werden ihr vor allem gravierende Mängel beim Abschluss des Verkehrsvertrages, den sie im Jahr 2004 im Auftrag des Senats mit der S-Bahn Berlin GmbH unterzeichnet hatte. Ausgehandelt hatte den Vertrag bereits Junge-Reyers Vorgänger Peter Strieder (SPD), Junge-Reyer war dessen Staatssekretärin. Der Vertrag, so die Opposition, sehe keine Kontrollmöglichkeiten des Senats vor (siehe Beitrag unten). Er sehe keine Haftung für die Kosten des nun eingesetzten Ersatzverkehrs vor, den BVG und andere Verkehrsträger dem Land Berlin in Rechnung stellen werden.

Unter dem Druck von Verkehrskollaps und Rücktrittsforderungen schlägt Senatorin Junge-Reyer nun ungewohnte Töne an: „Es ist unfassbar, dass ein Verkehrsunternehmen die einfachsten Regeln zur Gewährleistung der Sicherheit in so unglaublicher Weise vernachlässigt hat“. Die S-Bahn habe aber interne Untersuchungen zur lückenlosen Aufklärung der Pannen zugesichert. Noch in dieser Woche will die Verkehrssenatorin den Vertrag mit der Bahn „nachverhandeln“. U. Zawatka-Gerlach,R. Schönball,

A. Sirleschtov, C. Tretbar, P. Tiede

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