Brandenburg: Brandenburgs Agenda
Die Brandenburger haben am 14. September die Wahl. Das neue Parlament und die künftige Regierung werden viele Probleme anzupacken haben – Missstände, Rückstände, alte und neue Herausforderungen. Die PNN analysieren, wo Brandenburg 2014 steht und was bis 2019 auf der Agenda stehen muss
Stand:
Ein Spätstarter. Doch Brandenburgs Wirtschaft hat aufgeholt. Der Aufschwung Ost ist in diesem Land angekommen, das bei seiner Neugründung 1990 besonders ungünstige Startbedingungen hatte. So ländlich geprägt wie die Mark war, fast ohne Industrie, bis auf ein paar zu DDR-Zeiten auf die grüne Wiese geklotzte marode Kombinate. Anders als in Sachsen gab es hier fast keine Mittelstands-Tradition. Anno 2014, ein Vierteljahrhundert später, sieht alles anders aus. Die Arbeitslosigkeit in Brandenburg – in den Neunzigerjahren noch bei 17, 18, 20 Prozent, in einigen Regionen sogar bis zu 25 Prozent – liegt bei 9 Prozent, ist damit so niedrig wie nie und niedriger als in Berlin. Es gibt hochmoderne industrielle Leuchtürme, Bombardier, Rolls-Royce, auch Schwarzheide oder Schwedt, im Speckgürtel brummt es. Auch fünf Jahre einer rot-roten Regierung mit dem liberal-pragmatischen Linke-Wirtschaftsminister Ralf Christoffers – bei Unternehmern angesehen – haben nicht zum Klassenkampf geführt. Und doch bleiben strukturelle Defizite und Rückstände. Kleine, kapitalschwache Firmen prägen die Struktur, die Exportquote ist gering. Die Produktivität, das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, liegt unter dem Bundesschnitt. Der Abstand zu den alten Bundesländern, besonders jenen im Süden und im Westen, wo sich die deutsche Industrie konzentriert, die auch weiter dynamisch wachsen, wird nicht geringer. Das Land ist nicht durch, was besonders für die ärmeren, berlinfernen Regionen gilt. Gerade die Wirtschaft steht vor neuen Schwierigkeiten. Die größte wird der Mangel an Fachkräften sein, eine Folge der geburtenschwachen Jahrgänge nach 1990, der schon jetzt spürbar ist und sich dramatisch verschärfen wird. Das muss oben auf der Agenda der künftigen Regierung stehen. Es gibt Reserven in der Zusammenarbeit mit Berlin, zu viele weiße Flecken bei der Breitbandversorgung und zu viele marode und vernachlässigte Landesstraßen. Eine Achillesferse sind steigende Strompreise, die – eine Folge der der vielen neuen Wind- und Solarparks und des bisherigen Umlagesystems für Ökostrom – höher als anderswo in Deutschland sind. Und noch gilt: Ohne die umstrittene Braunkohle wäre Strom hier noch teurer.
Es gibt einen Spruch: Im Durchschnitt war der See nur einen Meter tief, die Kuh ist trotzdem ertrunken. Genau so ist es um die Innere Sicherheit in Brandenburg bestellt, also schlecht, obwohl laut Statistik die Gesamtkriminalität und auch die Unfälle seit Jahren rückläufig sind. Zwar hatte der damalige Innenminister und jetzige Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) begonnen, die vermurkste, radikale Polizeireform seines Vorgängers zu entschärfen, mit der die Landespolizei von 8900 Stellen (2009) bis 2019 auf 7000 Stellen reduziert werden sollte. Aktuell hat Brandenburg 8300 Polizisten, was reichen müsste. Doch mit dem Krankenstand von durchschnittlich 38 Krankheitstagen im Jahr pro Polizist ist Brandenburg deutsches Schlusslicht. Es sind zu wenige Funkstreifenwagen unterwegs, wie Innenminister Ralf Holzschuher (SPD) Ende 2013 eher versehentlich eingestand. Vor der Polizeireform war versichert worden, dass wie früher ständig 150 Streifenwagen unterwegs sein werden und es keine Sicherheits-Abstriche gibt. Die Realität sah und sieht anders aus, 2013 waren nicht 124 – wie die nach unten korrigierte Vorgabe inzwischen lautete –, sondern im Schnitt weniger als 100 Streifenwagen unterwegs. Und das Flächenland ist groß. Die Brandenburger brauchen immer mehr Geduld, bis die Polizei kommt. Im Schnitt dauert es, nach offiziellen Angaben, 28 Minuten, bis nach dem 110-Ruf eine Streife eintrifft – vier Minuten später als vor ein paar Jahren. Noch krasser ist, dass selbst in Notfällen, den sogenannten Blaulichteinsätzen, die Polizei im Schnitt erst nach fast 19 Minuten – über tausend lange Sekunden – am Tat- oder Unfallort ist. Anfang 2014 hatte Holzschuher angekündigt, dass die Vorgabe des Landtagsbeschlusses zur Streifenwagenpräsenz – keine Verschlechterung zum Status vor der Polizeireform – nicht vor Oktober 2014 wieder erreicht wird, also nach der Landtagswahl. Seitdem gibt es dazu keine Angaben mehr. Besonders dramatisch ist die Lage trotz abkommandierter Hundertschaften der Bereitschaftspolizei in den Grenzregionen, wo täglich Autos, Baumaschinen und Traktoren geklaut werden. Jetzt hat Holzschuher acht Funkstreifen aus dem Berliner Umland, wo neue Lücken gerissen werden, an die Grenze geschickt. Sie fahren morgens hin, abends zurück, was in der Polizei Kopfschütteln auslöst. Zum anderen wird besonders im Berliner Umland immer häufiger in Wohnungen und Häuser eingebrochen, 62 Prozent aller Einbrüche im Land geschehen innerhalb des Autobahnringes. Und nur jeder sechste Fall wird aufgeklärt. Brandenburgs Bevölkerung hat traditionell ein hohes Sicherheitsbedürfnis. Auch das kann die neue Regierung nicht ignorieren.
Immerhin. Brandenburgs Bildungssystem ist etwas besser geworden. Vor einem Jahrzehnt gehörte das Land bei den Leistungen seiner Schüler noch zu den einsamen Schlusslichtern in Deutschland. Inzwischen landen die Grundschüler schon mal im Mittelfeld, wie 2012 bei einem innerdeutschen Vergleich auf Platz 11 in Mathe, Platz 10 im Hörverständnis und im Lesen auf Platz 7 unter sechzehn Bundesländern. Und die Neuntklässler schafften es 2013 sogar in Mathematik, Physik, Biologie und Chemie in die Spitzengruppe hinter Sachsen und Thüringen. Und doch sind die Schulen der Mark eine Großbaustelle. Dort herrscht – gemessen am Nötigen und Möglichen – eine ziemliche Misere. Symptomatisch dafür ist der eklatant hohe Unterrichtsausfall, den die bisherige Bildungsministerin Martina Münch (SPD) nicht in den Griff bekam, immer wieder verharmloste, auf die ersatzlosen Ausfallstunden reduzierte, wo die Quote geringer ist als in anderen Ländern. Aber selbst das waren 2013/2014 über 243 200 Nicht-Stunden, mehr als im Jahr zuvor, was einer Quote von 1,9 Prozent (Vorjahr: 2 Prozent) entspricht. Zählt man Vertretungen und Selbstbeschäftigungen von Schülern hinzu, wird jede zehnte Unterrichtsstunde in Brandenburg nicht regulär gegeben, 2013/2014 waren das fast eine Million Stunden – ein neuer Höchststand. Vor allem ist es eine Erfahrung, die den Alltag von Schülern, Eltern und Lehrern prägt. Im Frühjahr musste Münch eingestehen, dass Tausende Schüler in bestimmten Fächern keine Halbjahresnoten bekommen hatten, weil Unterricht nicht gegeben wurde. Zwar hat die rot-rote Koalition unter dem neuen Regierungschef Dietmar Woidke (SPD) nachgesteuert, erstmals die Vertretungsreserve aufgestockt und so viele Lehrer neu eingestellt wie nie seit 1990. Die Pflichtstundenzahl wurde abgesenkt. Die Klassen sind kleiner geworden, die Schüler-Lehrer-Relation – laut Vorgabe des Koalitionsvertrags auf 15,4 Schüler je Lehrer festgeschrieben – verringerte sich auf 1 zu 14,6. Es ist so viel Geld wie nie im System. Die Wirkung verpuffte nicht zuletzt durch das Missmanagement im Bildungsministerium, Pannen, handwerkliche Patzer, etwa bei der verunglückten Reform der Schulämter, dem instinktlosen Vorpreschen bei der Inklusion, bis Woidke das angekündigte Aus der Förderschulen stoppte. In der ablaufenden Legislatur gab es die größten Lehrerproteste seit 1990, und – ein Novum – sogar einen offenen Aufstand im Bildungsministerium samt Unterschriftensammlung gegen die Ministeriumsspitze. Nötig in den Folgejahren wird sein, wieder Ruhe, Linie und Standard ins Schulwesen zu bringen, die Lehrerschaft zu motivieren. Der Unterrichtsausfall muss runter, die Schulabbrecherquote auch, die Schulen müssen wirtschaftsnäher werden, ein verträglicher, akzeptierter Weg zur Inklusion und Tausenden neuen Lehrern. Denn allein 3600 Lehrer gehen bis 2019 in den Ruhestand. Der oder die Neue im Bildungsministerium wird genug zu tun haben.
Brandenburg ist kein reiches Land. Aufgeblähte Verwaltungsstrukturen kann sich die Mark nicht leisten. Erst recht nicht, weil das Land geteilt ist, öffentliche Ressourcen punktgenau investiert werden müssen: in den prosperierenden Berliner Speckgürtel, wo Schulen und Kitas gebaut werden müssen, und in die an extremen Bevölkerungsrückgängen leidenden ferneren Regionen, wo das Land eine Verfassungspflicht hat, Grundstandards für Daseinsvorsorge zu sichern. Zwar hat sich infolge sprudelnder Steuereinnahmen die Finanzlage entschärft. Brandenburg wird weiter jährlich etwa zehn Milliarden Euro ausgeben können. Daran wird sich, nach den bisherigen Prognosen, auch 2014 bis 2019 nichts ändern. Das Land hat in der rot-roten Regierungszeit erstmals begonnen, Schulden zu tilgen, nachdem 1990 bis 2012 ein Schuldenberg von 18 Milliarden Euro angehäuft worden war. Doch Personalkosten und Beamtenpensionen steigen. Und niemand kann ausschließen, dass die niedrigen Zinsen – infolge globaler Krisen – wieder ansteigen, von schon jetzt absehbar nötigen Kapitalspritzen auch Brandenburgs für den BER-Großflughafen einmal abgesehen. Und Brandenburg muss sich, wie der Landesrechnungshof anmahnt, in den nächsten Jahren auf 2019 vorbereiten. Dann läuft der Solidarpakt aus, auch die EU-Fördermittel gehen weiter zurück. Nach den EU-Kriterien ist das Land schon jetzt kein Höchstfördergebiet mehr. Gerade Brandenburg, dieser Landstrich, aus dem die Leute schon immer aus dem Wenigen das Beste machen mussten, ist zu einem schlanken Staat verdammt. Die Realität sieht bislang so aus, dass die Verwaltungsstrukturen antiquiert sind, es einen Reformstau gibt. Die Enquete-Kommission des Landtages aus Experten und Abgeordneten hat einen substanziellen Vorschlag vorgelegt, wie die Aufgaben zwischen Land, Kreisen und Kommunen besser verteilt werden könnten, welche Strukturen gestrafft werden müssen, damit sich das Land für die demografischen und finanziellen Herausforderungen aufstellt. Mit vierzehn Klein-Kreisen und vier kreisfreien Städten, die seit den 1990er-Jahren nicht angetastet wurden, herrscht Kleinstaaterei. An einer Kreisgebietsreform führt kein Weg vorbei, die Vorbereitung und Umsetzung wird eine der ersten Aufgaben von neuer Regierung und neuem Landtag sein. Die Enquetekommission hat sieben bis zehn Landkreise empfohlen. Und: Die Finanzlage der großen Städte, die teils hausgemacht ist wie im schlecht regierten und sparunwilligen Cottbus, ist problematisch und zwingt zu Landeshilfen. Und dann ist da vor allem die Metropole Berlin in Brandenburgs Mitte. In der Zusammenarbeit beider Länder gibt es Reserven, Reibungsverluste und immer noch unnötige Doppelstrukturen, wie bei den Gefängnissen. Ein Neustart in den Brandenburgisch-Berliner Beziehungen ist schon lange überfällig.
Brandenburgs neuer Flughafen, die ewige Baustelle. Daran wird sich zunächst auch nichts ändern. Und es geht inzwischen längst nicht mehr allein darum, dass der Berlin-Brandenburg-Airport BER in Schönefeld überhaupt einmal eröffnet, nachdem der Start erst 2012, dann 2013 verschoben werden musste. Flughafenchef Hartmut Mehdorn treibt die Flughafengesellschaft, die den Ländern Brandenburg, Berlin und dem Bund gehört, auf eine Inbetriebnahme im Jahr 2016 hin. Inzwischen geht es zusätzlich darum, wie der Airport eröffnet, ob ein Chaos, ein „Systemzusammenbruch“ verhindert werden kann. Der Grund: Der Großflughafen ist ein Kleinflughafen. Im für mehr als zwei Milliarden Euro errichteten, mit zu wenigen Check-in-Schaltern und einer zu gering dimensionierten Gepäckanlage im falsch geplanten Fluggastterminal können lediglich 21 Millionen Passagiere abgefertigt werden, wie Mehdorn jetzt den Aufsichtsrat – und damit auch die Brandenburger Regierungsvertreter – warnte. Dass ein Flughafen unter Volllast startet, ohne Wachstumsspuffer, wäre ein weltweites Novum. Der BER, der bislang in der konzipierten Form zu Ende gebaut wird, schafft damit nicht einmal die versprochenen 27 Millionen Passagiere. So viele werden derzeit in Tegel und dem alten DDR-Flughafen in Schönefeld abgefertigt. Nach neuen Prognosen kann die Hauptstadtregion mit einem weiteren rasanten Passagierwachstum rechnen, 2016 bereits mit 31,4 Millionen Passagieren. Die Konsequenzen werden Brandenburg, sein Parlament und seine neue Regierung beschäftigen. Es wird wieder teuer. Noch hat der Landtag nicht einmal den letzten Zuschuss bewilligt. Das sind 440 Millionen Euro, Brandenburgs Anteil an der jüngsten Milliardenspritze für das inzwischen 5,4 Milliarden Euro teure Infrastrukturprojekt, das neben dem Umland insbesondere für den Süden des Landes Job-Effekte bringen soll. Noch ist offen, wie die fällige BER-Erweiterung angepackt wird. Die Politik schreckt wegen der absehbaren Kosten zurück, die Flughafenchef Hartmut Mehdorn intern schon mal auf 800 Millionen Euro kurzfristig und weitere 1,4 Milliarden Euro beziffert hat. Wenn 2016 klappen soll, müssen 2015 die Bauprobleme gelöst, die Brandschutzanlage in Gang gebracht und Ende Dezember alle 20 000 Anrainerhaushalte mit Schallschutz versorgt sein. Jeder Monat, den der BER nicht eröffnet, kostet 17 Millionen Euro. Lange kann sich Brandenburg den BER-Skandal nicht mehr leisten.
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