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Heidenhelden. Einen Tag lang spielten die Bewohner von Biesenbrow den ganzen Roman. Die Hauptrolle, der kleine Martin, übernahm Jakob Frank (rechts).

© Patrick Pleul/dpa

Brandenburg: Das Dorf ist eine Bühne

Der Welterfolg „Die Heiden von Kummerow“ spielt hier, im kleinen Biesenbrow in der Uckermark. Die deutsche Wiedervereinigung geriet für die Bewohner zur Katastrophe. Jetzt feiern sie das 725-jährige Bestehen des Ortes. Und ausgerechnet ein Zugezogener macht so ein Theater

Stand:

Am frühen Morgen fährt ihm der Blitz in den Rücken, jagt durch die Wirbelsäule abwärts und – bleibt da einfach stehen. Was um Himmels willen ist das? Ein Bandscheibenvorfall?

Aber doch nicht an diesem Tag!

Kann man mit einem Gewitter im Rücken den Acker pflügen wie vor 100 Jahren? Und das muss er, fast ein halbes Jahr hat er geübt. Zwei Pferde vorm Pflug, in einer Hand die Zügel und dann schöne tiefe gerade Furchen machen. Kann nicht jeder. Kann fast überhaupt keiner mehr. Alle werden sie zuschauen, er wird die unnachsichtigen, latent schadenfrohen Blicke der alten Bauern auf sich ruhen fühlen, er, Eckhard Kolle, der Leiter des Landkulturvereins „Die Erben von Kummerow“, der die Tochter des letzten Dorfbäckers geheiratet hat.

Ja, das Kummerow des Welterfolgs „Die Heiden von Kummerow“ gibt es wirklich. Es ist noch nicht lange her, da kannte man sie an den entlegensten Zipfeln der Erde, Oll Mutter Harms ebenso wie Pastor Breithaupt oder Kantor Kannegießer und Martin natürlich, Martin Grambauer, elf Jahre alt, das Alter Ego des Autors und berühmtesten Kummerowers aller Zeiten: Ehm Welk erfand 1937 den anarchistischen Dorfroman! Nur heißt Kummerow in Wahrheit Biesenbrow und liegt fast 20 Kilometer hinter Angermünde. Welk zufolge stand in Biesenbrow möglicherweise nicht die Wiege der Menschheit, aber „ein Stück vom Schaukelfuß dieser Wiege“ war das Dorf in jedem Fall.

Eigentlich geht es heute in Biesenbrow noch immer um das Gleiche wie in den „Heiden von Kummerow“: Bloß „nicht auf die Schitseite des Lebens geraten“.

Mindestens zwei Mal ist das schon passiert. Im Dreißigjährigen Krieg wurde Biesenbrow von der Landkarte gelöscht. Und dann die deutsche Einheit. 1992, als Biesenbrow 700 Jahre alt wurde, war keinem feierlich zumute. „Die schlimmen Jahre“ heißt die Nachwendezeit im Ortsgedächtnis, sagt Kolle. Niemand hatte den Biesenbrowern mitgeteilt, dass es im Westen keine Dörfer mehr gibt, jedenfalls keine richtigen Dörfer, keine vollständigen.

Die LPG musste aufgeben, der Konsum, die Bäckerei, der Dorfkrug und die beiden anderen Kneipen auch. Das Leben auf dem Lande? Es war nur ein Rest-Leben, eine Schein-Existenz. Niemand hätte in Biesenbrow noch ein Stückchen vom Schaukelfuß der Wiege der Menschheit erkannt.

Aber gibt es nicht so etwas wie die Wiederauferstehung der Scheintoten?

Noch vor dem ersten Haus begrüßen ein überlebensgroßer Stroh-Bauer und seine Stroh-Bäuerin den Ankommenden. Andere Dörfer haben eine Dorfstraße, dieses hier hat eine „Heidenstraße“. Jedes der 70 Häuser ist geschmückt, davor sitzen und stehen die Abbilder ihrer Bewohner aus Stroh mit den Hauptrequisiten ihres Lebens: angelnd, kaffeetrinkend, mähend. So feiert sich nur, wer Grund dazu hat, und das dauert eine ganze Woche lang, nein, den ganzen Sommer, denn in diesem Jahr wird Biesenbrow 725 Jahre alt.

Wäre das nicht eine gute Gelegenheit, fragte sich Kolle, „Die Heiden von Kummerow“ zu spielen, an den Originalschauplätzen, ungekürzt und mit uns selbst als Hauptdarstellern? Auf so was können nur zugezogene Nichtbauern kommen, solche wie Kolle eben. Aber in Wirklichkeit hatte sein Freund vom „Theater 89“ die Idee. Kolle rechnete dann aus, wie lange das dauert. Wenn wir morgens um zehn anfangen, erklärte er seinen Mit-Biesenbrowern, kommen wir bis abends um zehn auf Seite 128. Misstrauisch schauten die Bauern. Und in den nächsten Sommern spielen wir das Buch zu Ende!

Die sehr alten Biesenbrower – solche gibt es heute fast nicht mehr – wussten noch ganz genau, was sie von Büchern zu halten haben. Sie hauten ihren Kindern so ein Ding schon mal um die Ohren, wenn sie die beim Lesen erwischten. Denn es ist doch so: Wenn einer Lust hat zu arbeiten, braucht er seine Zeit nicht mit Bücherlesen totzuschlagen. Das sind die entscheidenden Weichenstellungen im Leben. Und nun erst Theater. Zwölf Stunden? Das hier ist Biesenbrow und nicht die Volksbühne!, sagten sinngemäß die Skeptiker, und eben darum warten sie nun darauf, den Kolle, der die Tochter des letzten Bäckers geheiratet hat, pflügen zu sehen. Denn wer wirklich was versteht von der Landwirtschaft, der gründet keine Landkulturvereine.

Andererseits, der berühmteste Bauernsohn weit und breit, der Klookschieter Welk, leitete einst noch viel mehr als einen Kulturverein. Bei Ullstein, dem damals größten Verlagshaus der Welt, war er Chefredakteur des spektakulärsten Erfolgs der Zeitungsgeschichte, der „Grünen Post“. Binnen eines Jahres hatte sie über eine Million Leser im In- und Ausland. Das war 1928. Ob der weltläufige Berliner Spitzenverdiener je den Fehler gemacht hat, mit seinem „Wanderer“-Cabriolet in Biesenbrow zu erscheinen?

1934 war er plötzlich wieder da, ohne Sportwagen. Argwöhnisch besahen ihn die Bauern: Wer hoch hinauswill, fällt tief! Haben sie das nicht immer gewusst? Und eben darum will ein gescheiter Biesenbrower gar nicht erst hinaus, und schon gar nicht hoch. Ob sie auch wussten, dass Ehm Welk direkt aus dem Konzentrationslager Oranienburg kam, Häftlingsnummer 2853?

Mit 50 Jahren machte der Autor der noch ungeschriebenen „Heiden von Kummerow“ etwas, das er seit Ewigkeiten nicht getan hatte. Es war Sommer, Erntezeit, er griff zur Sense: „Es gibt keine köstlichere Mannesarbeit als Mähen, als Kornmähen. Ich weiß nicht, geht die Kraft von der Erde aus, vom reifen Korn, von der Sense, von den Armen oder doch vom Herzen: ein Rhythmus, so gewaltig und vollendet, schwingt beim Kornmähen auf und zieht alles in seinen Bann.“ An diesem Tag habe er Biesenbrow wiedergefunden, bekannte der gefallene Chefredakteur. Das ist eine Prosa, bei der selbst die Bauern erkannten, dass dieser unmögliche Sohn ihrer Gemeinde einer von ihnen war.

Das ist der Maßstab!, weiß auch Kolle, obwohl er nicht sicher ist, ob er mit dem stehenden Blitz im Rücken überhaupt einen Schritt gehen kann. Aber er weiß auch: Dieser Tag, für den sie gemeinsam mit dem berlinvertriebenen „Theater 89“ so lang geprobt haben – Idee und Regie: Hans-Joachim Frank –, der darf nicht an seinem Rücken scheitern. Zwölf Stunden! Und schon kurz nach zehn hat er seinen ersten Auftritt, denn er spielt den Pastor Breithaupt! Eckhard Kolle öffnet zum ersten Mal seine Hausapotheke.

Ein Buch zum Fest wird es auch geben. Zwei Neubiesenbrower kamen auf die Idee, die Geschichte von allen 70 Biesenbrower Häusern zu erzählen. „Ich habe das völlig unterschätzt“, sagt Karsten Gläser, ein schmaler Mann Anfang 50, Typus Großstadtintellektueller. In Berlin hat der Maler, Grafiker und Typograf die Innenräume von Montessori-Schulen entworfen. Undenkbar, er wäre mit diesen Qualifikationen den alten Biesenbrowern begegnet. Schon Ehm Welks Vater nannten sie nur den Professor, was kein Kompliment war, und Vater Welk war Bauer von Kopf bis Fuß, allerdings besaß er fast 20 Bücher. Ein Spinner also.

Wie überzeugt man Landleute davon, kein Spinner zu sein? Bald muss Gläser den Biesenbrowern in der Kirche einen Vortrag über ihr Dorf halten. Sehr gewagt, zudem von einem gebürtigen Thüringer und späteren Gewohnheitsberliner.

Aber spätestens, als sein Köpenicker Vermieter ihm das Atelier kündigte, war es mit der Gewohnheitsberlinerei vorbei. Doch Gläser ahnte nichts, absolut nichts von seinem neuen Leben, als er an jenem Sommertag vor fast zehn Jahren weit hinaus aufs Land fuhr, um berlinflüchtige Freunde zu besuchen, die dort einen Apfeltraum verwirklichen wollten. Geht normalerweise nie gut aus so was.

Aber schon als Gläser von der Autobahn abfuhr, dachte er: Das kenn ich doch! Sanft gewelltes Land wie zu Hause in Thüringen. „Es war so ein seltsames Gefühl von Ankommen“, sagt Gläser. Und das nahm den ganzen Tag über zu.

Yvonne und Mathias Tietze, er Bauingenieur, sie Marketingfachfrau, hatten das schon ein halbes Jahr zuvor erlebt. Sie standen vor einem alten Biesenbrower Bauernhaus, sehr lange, sie schauten und träumten, träumten und schauten. Zwar wussten sie nichts von Welk und Kummerow, aber trotzdem sahen sie gerade ein Stück vom Schaukelfuß der Wiege der Menschheit vor sich, als ein Jeep neben ihnen hielt. Ein Biesenbrower stieg aus und fragte: „Schönes Haus, nicht wahr? Wollen Sie das kaufen?“ Yvonne und Mathias Tietze hörten sich nur noch „ja“ sagen. 20 Jahre lang hatte es leer gestanden. Seitdem sind die Tietzes im Dorf „die jungen Leute vom Hunholtzer Hof“.

Kurz darauf eröffnete die Landmanufaktur „Königin von Biesenbrow“. Ihre Spezialität ist ein Apfelchampagner, der Most reift auf Champagnerhefe 15 Monate in der Flasche und wird täglich gedreht. Gemacht aus Äpfeln, die die Hersteller alle persönlich kannten, was auch für ihre sortenreinen Säfte gilt. Es gibt „Alkmene“, den „Moringer Rosenapfel“, „Ingrid Marie“ und viele andere. Yvonne und Mathias Tietze haben die Äpfel an den Landstraßen probiert und die, die ihnen am besten gefielen, selbst gepflanzt, vor allem alte. So sind sie, die Neubiesenbrower. Und ein Pferdehotel hatten sie auch schon eröffnet, für Leute, die gemeinsam mit ihrem Pferd Urlaub machen wollen. Wenn alte Bauern, glaubt man zu wissen, etwas gar nicht schätzen, dann sind das Großstädter, die auf ihrem Dorf die Landwirtschaft neu erfinden wollen. Oder täuscht das?

Kein Dorf ist ein Einwanderungsdorf. Das Gute war: Nicht nur die Tietzes haben sich Biesenbrow ausgesucht, auch ein Biesenbrower hat sich die Tietzes ausgesucht. Am besten, man hat immer einen Bürgen. So wie sie später für Gläser bürgten, und die Bäckerstochter zuvor für Kolle.

Apfelcremant und Pferdehotel. Nun auch noch eine doppelte Wagner-Oper im Dorf, und wer ist schuld? Kolle mit dem Gewitter im Rücken.

Und da ist er, morgens kurz nach zehn vor dem alten Schulhaus. Als habe er den Stock verschluckt, mit dem er die Konfirmanden prügelt, eine kerzengerade Inkarnation der dörflichen Macht, die kleinste Krümmung undenkbar. Die Wirbelsäule kennt ihre Rolle! Gleich in der ersten Szene ruft er als Pastor Breithaupt den jungen Martin – alias Ehm Welk – zu sich. Denn der ist soeben „Erster“ geworden, Schulbester mit elfeinhalb! Ein Klookschieter eben. Also ein Vorbild!, sagt Kolle-Breithaupt. Also ein natürlicher Verbündeter der Erwachsenenwelt? Also ein Denunziant? Oder ein Widerständler, so wie sein Vater, der nicht an den Gott von Pastor Breithaupt glaubt und schon gar nicht, dass Gott in der Kirche wohnt. „Die Heiden von Kummerow“ sind das deutsche „Don Camillo und Peppone“.

Wie wäre die deutsche Geschichte verlaufen, hätten die großen Zeitungen 1933 ihre Öffentlichkeit, ihre Macht gegen Hitler gewandt, statt sich zu ducken? Im Jahr darauf berief Joseph Goebbels die führenden Journalisten ein, um ihnen eine Rede über „Die Aufgaben der deutschen Presse im neuen Reich“ zu halten. Irgendwann hielt der Chefredakteur der „Grünen Post“ es nicht mehr aus und verließ den Saal, die hohe Eichentür fiel mit einem dumpfen Knall ins Schloss. Und dann erschien, am 26. April 1934, sein letzter Leitartikel. Welk sprach Goebbels direkt an und teilte ihm vieles mit, unter anderem dies: „... wenn man die heimatliche Ackererde an den Schuhen noch über dem Asphalt der Großstadt trug – Herr Reichsminister“, dann müsse man es schon als einigermaßen spaßig empfinden, „wenn nun jedes Blatt in jeder Nummer von ,Blut und Scholle‘ redet, und so tut, als wäre der stadtgeborene Mensch zweitrangig“. Und wenn andererseits stadtgeborene Journalisten ohne einen einzigen ländlichen Vorfahr nur noch von „-tum“ und „-brauch“ schreiben und aus Bauern Helden machen, ausgerechnet aus den Bauern ... Es war ein sehr langer Leitartikel. Das Riesenhaus Ullstein mit seinen fünf jüdischen Brüdern an der Spitze fiel in Schreckstarre.

Die ersten Notizen zu den „Heiden von Kummerow“, dem etwas anderen Blut-und-Boden-Roman, machte Ehm Welk auf einem Zeitungsrand auf dem Weg ins Konzentrationslager.

Biesenbrow 2017. Die ersten acht Kapitel erzählen einen einzigen Tag, gespielt an einem einzigen Tag. Die 300 Karten waren schon lange vorher weg, die Zuschauer folgen Martin und seinem Hund Flock quer durchs Dorf, bis an den Mühlgraben und zurück, vor allem aber hören sie Welks Text, gesprochen von Reinhard Scheunemann. Meist nieselt es leicht, und doch wird es eine große 300-Mann-Andacht unter freiem Himmel. Auch viele frühere Biesenbrower sind gekommen, wie der Urenkel des letzten Müllers, der heute in Hamburg lebt, oder Wolfram Zühlke, Autohändler und Nachfahr einer der ältesten Familien des Dorfes. Seine Großmutter hat die Welks noch gekannt.

Der Neubiesenbrower Karsten Gläser kennt inzwischen fast alle Biesenbrower, auch die toten, und das sind die meisten. Vielleicht ist Gläser neben Pfarrer Michael Heise und Eckard Kolle der Mann mit dem derzeit tiefsten Einblick in die Dorfseele. Dorfchronist, -soziologe und -psychologe. Gläser hat herausgefunden, was Biesenbrow eigentlich ist: ein Flüchtlingsdorf. „80 Prozent der Biesenbrower von heute sind Kinder der Flüchtlinge, die nach 1945 aus Pommern und Schlesien kamen.“

Gläsers Buch wird wohl erst zur „Völkerwanderung“ im August fertig werden. Die Völkerwanderung gibt es auch schon in den „Heiden“, aber ihre Bedeutung ist gewachsen. Denn Biesenbrow befand sich genau genommen nicht zweimal, sondern schon dreimal auf der Schitseite des Lebens.

Das dritte Mal passierte es 2003, als es mit 100 anderen Gemeinden ein Stadtteil von Angermünde werden sollte. Angermünde hatte Angst, wegen unaufhaltsamer Schrumpfung das Stadtrecht zu verlieren, den Biesenbrowern war das egal. Sie hatten auch schon mal das Stadtrecht besessen, eine zweite Kirche, einen Roland, eigenen Wein- und Hopfenanbau. Alles weg. Nein, es kannte kein Mitleid. Alle anderen 99 Gemeinden fielen um, aber Ehm Welks Kummerow führte einen einsamen, heroischen Unabhängigkeitskampf bis zum Schluss. Leider vergebens. Und nun führt jährlich ein launiger Mahn- und Gedenkmarsch, vielleicht sogar ein Versöhnungsmarsch, nach Angermünde. Über 17 Kilometer von einem Stadtteil in den anderen? Kein Spaziergang, eine Völkerwanderung!

Nachmittags kurz nach fünf Uhr. Kolle hat seine ganze Apotheke verschluckt, er fühlt gar nichts mehr, muss aber jetzt die Einfachheit seiner Beziehungen zu Pferd, Halm und Acker unter Beweis stellen.

Und dann pflügt er, gleich neben der Kirche, neben dem Pfarrhaus. Als hätte er nie etwas anderes gemacht, Furche um Furche. Heise, der richtige Pfarrer von Biesenbrow, sieht es mit unverhohlenem Respekt. Er raucht Pfeife wie Pastor Breithaupt, aber im Stück spielt er den Kantor Kannegießer, den großen Ermutiger des Bauernjungen Martin.

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