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Hand in Hand. Bundespräsident Joachim Gauck und der sowjetische Kriegsveteran Solomatin Pjotr Timofejewitsch beim Gedenken an den 70. Jahrestag des Kriegsendes auf dem sowjetischen Soldatenfriedhof in Lebus.

© dpa/Patrick Pleul

Brandenburg: „Den Staffelstab weiterreichen“

In Lebus, unweit der polnischen Grenze, gedachte der Bundespräsident am Freitag der sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkriegs

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Lebus - Vogelgezwitscher in den Büschen, Kinderstimmen im Hintergrund, eine warme Frühlingssonne: Die russische Kriegsgräberstätte im brandenburgischen Lebus ist ein verträumter Ort in einer idyllischen Landschaft: Sanft fallen die Hügel zur Oder ab, die heute gemeinsame Grenze von Deutschland und Polen ist. In den April- und Maitagen vor 70 Jahren tobte hier im Oderland ein erbitterter Kampf zwischen der Roten Armee und Hitlers Wehrmacht. Tausende Soldaten auf beiden Seiten fielen, Zehntausende wurden verwundet.

„Wenn man bei uns mit dem Spaten in die Erde gräbt, findet man fast immer Überreste aus dem Zweiten Weltkrieg“, erzählt Herbert Radtke, Bürgermeister von Lebus, am Freitag dem Bundespräsidenten. Joachim Gauck hat sich am 70. Jahrestag des Kriegsendes diesen Ort ausgesucht, um gemeinsam mit den Botschaftern der sowjetischen Nachfolgestaaten an das Schicksal der Befreier zu erinnern, wie er sagt. „Ich freue mich, dieses Gedenken in einer würdigen Anlage begehen zu können.“ Etwa 5000 Rotarmisten sind in Lebus begraben. Die Kriegsgräberstätte nördlich von Frankfurt (Oder) ist der zentrale sowjetische Soldatenfriedhof Brandenburgs.

Dass Gauck für den 8. Mai eine russische Kriegsgräberstätte ausgesucht hat, ist eine Geste an die Völker der ehemaligen Sowjetunion, die mit 27 Millionen Toten mit die meisten Kriegsopfer zu beklagen haben. „Ich verneige mich vor ihrem Leid und dem Leid und der Leistung derer, die gegen Hitler-Deutschland gekämpft und Deutschland befreit haben“, sagt der Bundespräsident. „Ihr Schicksal mahnt uns, mit all unserer Kraft für Verständigung, Frieden und Versöhnung einzutreten. Es mahnt uns, unserer gemeinsamen Verantwortung für die Würde und das Leben der Menschen gerecht zu werden, in Europa und in der Welt.“

Schon am Mittwoch hatte der Bundespräsident im westfälischen Schloß Holte-Stukenbrock den Tod von mehreren Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen als eines der größten Verbrechen der Nazizeit verurteilt. Gauck hatte zum 70. Jahrestag des Kriegsendes gezielt Orte ausgesucht, die an das Schicksal der Soldaten der Roten Armee erinnern. Er wolle sich bei den Befreiern bedanken und ihre Verdienste hervorheben, hieß es. Der 8. Mai gilt als einer der wichtigsten Gedenktage der deutschen Geschichte. Vor 30 Jahren, am 8. Mai 1985, hatte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Kriegsende als „Tag der Befreiung“ von der Herrschaft des Nationalsozialismus bezeichnet.

„Ich wollte an das Schicksal unserer Befreier erinnern“, sagt Gauck nach der Kranzniederlegung in einer Gesprächsrunde mit Jugendlichen, Heimatforschern und Ehrenamtlichen. Dabei schimmert aber immer wieder die Ambivalenz zu den russischen Befreiern durch, die im Osten Deutschlands schnell zu ungeliebten Besatzern wurden. Daraus sei eine Abwehrhaltung der Ostdeutschen gegenüber den Russen entstanden, sagt Gauck.

„Es gab eine DDR-typische Überlieferung der Geschichte“, sagt der Bundespräsident. All die zum Teil auch nachvollziehbaren Hasstaten von russischen Soldaten nach Kriegsende durften im Osten nicht erzählt werden. So wurden beispielsweise die häufigen Vergewaltigungen über Jahrzehnte verschwiegen, bestätigt ein Heimatforscher aus dem benachbarten Müncheberg. „Deshalb versuchen wir jetzt, die noch lebenden Zeitzeugen nach ihren Geschichten auszuquetschen.“ Mit dem zeitlichen Abstand zum Krieg könne man klarer unterscheiden, wann sie Befreier und wann sie auch Täter gewesen seien, sagt Gauck.

Den Jugendlichen, die sich alle am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten beteiligt haben, beispielsweise über russische und polnische Zwangsarbeiter in ihren Heimatorten Bergisch-Gladbach, Marl oder Gummersbach, rät Gauck zu Hartnäckigkeit bei Geschichtsforschungen. Auch in vielen westdeutschen Orten seien die Dorfchroniken über die NS-Zeit oft lückenhaft. Viele Opfergruppen hätten zudem noch nicht die richtige Würdigung erfahren. „Die Erinnerungsarbeit ist nicht beendet. Es tauchen immer wieder neue Elemente auf, die wir noch nicht kennen“, betont Gauck. „Wir Älteren brauchen das Gefühl, dass unser Engagement nicht umsonst war. Wir wollen den Staffelstab weiterreichen!“

Markus Geiler, Marion van der Kraats

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