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Von Stefan Jacobs: Die Bahn schweigt zum Verkehrskollaps
Weiterhin nur ein Viertel der Züge im Einsatz. Opposition fordert Rücktritt von Senatorin Junge-Reyer
Stand:
Berlin - Die Berliner S-Bahn versinkt im Chaos. Den für heute versprochenen stabilen Ersatzfahrplan gibt es nicht. Stattdessen wird wie schon am Dienstag nach der Faustregel gefahren, dass möglichst alle 20 Minuten ein Zug kommen soll, sofern die Strecke nicht ohnehin eingestellt ist (siehe Grafik). Selbst auf dem Ring, der mit seinem Zehnminutentakt das Rückgrat des noch vorhandenen Verkehrs bilden sollte, fuhr am Montag teilweise eine halbe Stunde lang kein Zug. Viele Passagiere warteten vergeblich auf den völlig überfüllten Bahnsteigen. Die BVG, die über Nacht zusätzliche Busse und Bahnen aktiviert hatte, konnte zeitweise nicht alle gestrandeten S-Bahn-Fahrgäste mitnehmen. Die BVG registrierte schätzungsweise eine halbe Million zusätzliche Kunden; auf den Straßen gab es Staus. Gewöhnlich transportiert die S-Bahn rund 1,2 Millionen Fahrgäste pro Tag. Die Regionalexpresszüge auf der Stadtbahn waren völlig überfüllt.
Brandenburgs Infrastrukturminister Reinhold Dellmann (SPD) reagierte am Dienstag „geschockt“ auf die neu festgestellten Mängel. Das könne den Fahrgästen nicht mehr erklärt werden, sagte Dellmann in Potsdam. Die Deutsche Bahn (DB) AG müsse ihren Kunden jetzt entgegenkommen und „faire Angebote als Entschädigung für die wiederholten Pannen“ machen.
Die Situation bei der S-Bahn sei offensichtlich „außer Kontrolle geraten“, sagte der Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB), Hans-Werner Franz, am Dienstag. Die Probleme bei der S-Bahn seien seiner Ansicht nach in der Geschichte des öffentlichen Personennahverkehrs einmalig. Dazu geführt hätten verlängerte Wartungsintervalle, mangelnde Kontrollen der Fahrzeuge und der Personalabbau in den Werkstätten der S-Bahn.
Während von der Bahn am Dienstag trotz mehrfacher Nachfragen keine Informationen zu bekommen waren, teilte der VBB mit, dass auch am Mittwoch nur 162 Zwei-Wagen-Einheiten zur Verfügung stünden, also rund ein Viertel der regulären Flotte. Die anderen stehen vor den Werkstätten Schlange, weil wegen schlampiger Wartung ihre Bremsen ausfallen können.
Die nochmalige Eskalation des Desasters hat auch die Debatte über Konsequenzen verschärft: Grüne, CDU und FDP in Berlin forderten geschlossen den Rücktritt von Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD), in der sie die Hauptverantwortliche für den Verkehrsvertrag mit der S-Bahn sehen. Zugleich solle der Vertrag sofort gekündigt und neu ausgeschrieben werden. Junge- Reyer sprach der S-Bahn „eine förmliche Abmahnung“ aus und sagte, dass eine Vertragskündigung reine Symbolpolitik wäre, weil kein anderer Betreiber zur Verfügung stehe. Für den Abend stand ein erneutes Gespräch der Senatorin mit Bahnvorstand Ulrich Homburg an. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Christian Gaebler will die Entscheidungshoheit Berlins über den Nahverkehr zurückgewinnen, indem die landeseigene BVG bis zum Vertragsende 2017 auf die Übernahme des S-Bahn-Betriebes vorbereitet wird. Nur so könne man sich aus der Abhängigkeit von einem Privatunternehmen und dessen Profit-Interessen befreien. Kurzfristig könne man auch über einen Sitz im Aufsichtsrat Einfluss nehmen. Linken-Landeschef Klaus Lederer forderte den Senat auf, einen Krisenstab einzurichten und ein „Schattenverkehrsnetz“ als S-Bahn-Ersatz einzurichten. Die Kosten dafür müsse die Bahn tragen. Das Abgeordnetenhaus wird sich am Donnerstag in einer Aktuellen Stunde voraussichtlich mit dem Chaos befassen.
Zurzeit fahren die S-Bahnen auf den meisten Strecken am Stadtrand etwa alle 20 Minuten. Im Nord-Süd-Tunnel fährt nur die S1. Spandau ist nur mit Regionalzügen erreichbar, ebenso die Innenstadt westlich des Alexanderplatzes. In der City bietet sich teilweise die verstärkte U2 als Ersatz an, mit der auch die Funkausstellung IFA erreicht werden kann.
Der VBB-Chef zeigte sich empört darüber, dass die Probleme auf dem sogenannten Bahngipfel am Montag in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung von Bahn und S-Bahn nicht angesprochen worden seien.
Die neuerlichen Zugausfälle bei der S-Bahn waren am Montag erst im Anschluss an ein Gespräch Junge-Reyers und des VBB mit Bahn-Vorstand Ulrich Homburg bekannt geworden. Im Gespräch selbst hatte die Bahn nichts von den neuen Problemen erwähnt. VBB-Chef Franz sagte gestern, er habe so ein Gespräch noch nicht erlebt. Er habe die ganze Zeit gedacht, „hier stimmt doch was nicht“. Als dann zwei Stunden nach Ende des Gesprächs die Probleme mit den Bremsen bekannt wurden, sei er „völlig konsterniert“ gewesen. Er sei entsetzt, welch großer Mangel an Sorgfaltspflicht bei der S-Bahn und beim DB-Konzern geherrscht habe.
Informationen: www.s-bahn-berlin.de (Tel.: 030-29 74 33 33) und www.vbbonline.de (Tel.: 030-25 41 41 41).
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