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Brandenburg: Ein Alltag in Feindeshand

Beute einkreisen – das Wort Stalking stammt aus der Welt der Jagd. Wie das Messer, das eine Brandenburgerin plötzlich im Rücken hatte

Stand:

Der letzte Brief aus dem Gefängnis: das Papier vollgekleckst mit dunkelroten Flecken – Blutstropfen, die sich ihr Mann wahrscheinlich selber aus dem Finger gequetscht hat, vermutet Susanne Wegner: „ganz klar eine Drohung“. Seit September vergangenen Jahres sitzt er in Haft und wird vermutlich im kommenden Jahr wieder entlassen. Ein Gedanke, der die Susanne Wegner mit Furcht erfüllt.

Susanne Wegner ist eine Frau um die vierzig, mit Augen, die freundlich und warm gucken und doch in jedem Moment etwas Erschrockenes haben. Auf ihrem Schoß hat sie einen schweren Aktenordner aufgeklappt, gefüllt mit juristischem Schriftverkehr und vielen handgeschriebenen Seiten, auf denen sie penibel alle Vorfälle der Vergangenheit festgehalten hat, mit Datum und Ortsangabe, als Beweis vor Gericht. Und in diesem Moment in ihrem kleinen Wohnzimmer in Fürstenwalde auch als Gedächtnisstütze – „so viel ist passiert“, sagt Susanne Wegner und gibt ein bisschen schüchtern zu bedenken, dass ihre Geschichte lang sei. Monatelang hatte ihr Mann sie belästigt, bedroht und verfolgt. Telefonterror rund um die Uhr, er schlitzte ihr die Autoreifen auf, sprach Morddrohungen aus. Mal lauerte er in der Bäckerei, um sie auf dem Weg zur Arbeit abzufangen, mal drückte er sich stundenlang vor ihrem Haus herum. Und dann rammte er ihr auf offener Straße ein Jagdmesser in den Rücken. Susanne Wegner kam mit dem Leben davon.

„Ich habe mich die ganze Zeit gefühlt wie die Hauptfigur in einem Thriller – so traurig das klingt.“ Wie oft sie in dieser Zeit die Polizei gerufen hat, kann sie gar nicht mehr sagen. „Ständig.“ Bald erfuhr sie, dass es für die permanenten Schikanen, Drohungen und Angriffe einen Namen gibt: Stalking. Nur das deutsche Strafgesetzbuch kennt den Begriff nicht – noch nicht. Als es wegen des Messerstichs endlich zur Gerichtsverhandlung kam, wurde ihr Mann allein wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Zu zwei Jahren und sieben Monaten. Der monatelange Terror wurde nicht berücksichtigt.

Im August wird Susanne Wegner vermutlich ihre Scheidung durchhaben. Gegen den Willen ihres Mannes. Dass die Ehe einmal so enden würde, hätte sie nie gedacht. Als sich das Paar Ende der 80er Jahre kennen lernte, war die Liebe groß. Schnell wurde geheiratet, die gemeinsame Tochter kam kurz darauf zur Welt. Ein schönes Haus, nette Freunde, beide hatten gute Jobs – ein perfektes Leben hätte es sein können. Doch früh gab es Warnzeichen, sie zeigten sich schon in den ersten Ehejahren. Susanne Wegner erkannte sie erst im Rückblick.

Wollte Susanne Wegner alleine zur Chorprobe, versuchte er sie davon abzuhalten. Stand eine Feier mit gemeinsamen Freunden an, weigerte er sich mitzukommen – nur um plötzlich auf der Fete aufzutauchen und sie unter groben Beschimpfungen von der Tanzfläche zu zerren. Zu Hause hatte er regelmäßig Tobsuchtsanfälle. Einmal zertrümmerte er ihre geliebte Hollywoodschaukel. Ein anderes Mal rieb er ihr Kopfkissen mit Scheuerseife ein. Ein kindischer Streich, ein hilfloser Versuch, Aufmerksamkeit zu bekommen? Immer wieder versuchte Susanne Wegner, ihn zu beschwichtigen, ihn zu verstehen. Irgendwann aber hielt sie es nicht mehr aus und sagte: „Ich werde ausziehen.“ Und da ging alles erst richtig los.

Weil Susanne Wegner noch keine eigene Wohnung gefunden hat, hält sie eine Weile im gemeinsamen Haus aus. Wochen, in denen ihr Mann zwischen Drohungen und Liebesschwüren hin- und herschwankt.

Was sie erlebt hat, nennt Jens Hoffmann einen typischen, wenn auch krassen Fall von Stalking. Das englische Wort für heranpirschen und einkreisen der Beute, entlehnt aus der Jägersprache, habe keine wirkliche deutsche Entsprechung, sagt der Psychologe von der TU Darmstadt. Unterstützt von der Verbrechensopfer-Hilfsorganisation Weißer Ring hat er die erste umfassende Stalkingstudie im deutschsprachigen Raum betreut. Zwölf Prozent der Bevölkerung werden demnach irgendwann einmal Opfer von Stalking – zu fast 50 Prozent sind die Täter Ex-Beziehungspartner, gefolgt von Bekannten, Freunden und Arbeitskollegen. Jene Fälle, in denen wahnhafte Fans Prominenten wie Jeanette Biedermann bis ins Schlafzimmer nachsteigen oder Robbie Williams mit Faxen und Anrufen belästigen, sind in der öffentlichen Wahrnehmung zwar sehr präsent, machen aber nur einen geringen Anteil aus.

Bei mehr als 85 Prozent aller Stalkingfälle sind die Täter Männer, hat die Studie herausgefunden. Frauen stellen die überwältigende Mehrzahl der Opfer. „Wir wissen, dass Stalking mit frühen Bindungs- und Zurückweisungserfahrungen zu tun hat“, sagt Psychologe Hoffmann. Möglicherweise sei es auch eine Frage der Erziehung, dass manche Männer eher dazu neigen, mit Frustration und Wut nicht auf erwachsene Art umgehen zu können. Und was ist eine besonders häufige Täter-Opfer-Konstellation? „Männer, die nicht loslassen können, und Frauen, die nicht nein sagen können – das ist jetzt stark vereinfacht“, sagt Hoffmann.

Susanne Wegners Auszug Anfang 2005 soll heimlich vonstatten gehen, das hatten ihr die Mitarbeiterinnen des örtlichen Frauenhauses dringend geraten. Doch kurz bevor der Umzugswagen wegfährt, klingelt noch einmal das Telefon. Ihr Mann ist dran, und Susanne Wegner bekommt es nicht hin, ihm etwas vorzulügen. „Ich habe ihm gesagt, dass ich jetzt ausziehe – und dann hat er angefangen zu brüllen wie ein Tier.“ Zahllose Drohungen schreit ihr Mann an diesem Tag auf ihre Handymailbox. „Ich stech dich ab, ich stopf“ dich aus, ich steck“ dich ins Mausoleum“ war wohl die rabiateste.

In ihrer neuen Wohnung spürt er sie noch am Tag des Einzugs auf – er hat ihr Auto vor der Tür erkannt, Fürstenwalde ist klein. Er tritt die Tür ein, macht sich am Auto zu schaffen. Jedesmal ruft Susanne Wegner die Polizei. Eine Zivilstreife nimmt den tobenden Mann schließlich fest, doch eine Stunde später ist er wieder draußen und spricht neue Verwünschungen aus. Susanne Wegner fühlt sich hilflos. Schließlich erfährt sie vom Gewaltschutzgesetz. Opfer von Gewalttaten oder „unzumutbaren Nachstellungen“ können danach eine gerichtliche Verfügung gegen den Täter erwirken. In ihrem Fall ordnet das Gericht an, dass ihr Mann mindestens 100 Meter Abstand zu ihr halten muss, sonst drohen ihm 5000 Euro Geldstrafe. Doch nur wenig später, auf einem Volksfest, klebt er ihr wieder an den Fersen. Die Verfügung scheint ihm völlig egal; mittlerweile sei er so gut wie pleite und könne sowieso nicht bezahlen, soll er gesagt haben. Auch die Polizei schreckt ihn offenbar nicht, immer muss er nach kurzer Zeit wieder freigelassen werden.

Während Susanne Wegner erzählt, werden ihre Augen feucht. Nervös streicht sie sich das glatte braune Haar hinter die Ohren. Sie sitzt auf der lila-braun gemusterten Couch im Wohnzimmer ihrer Plattenbauwohnung in Fürstenwalde. Eine kleine Schrankwand, der Computertisch an der Wand, alles wirkt sehr ordentlich. Richtig sicher fühlt sie sich in der neuen Wohnung jedoch nicht; so als könnte er plötzlich doch wieder vor der Tür lauern. Wegners Büro liegt ganz in der Nähe, eigentlich sehr günstig – wenn sie denn zur Arbeit gehen kann. Die Ingenieurin ist oft krank, leidet an Depressionen, Angstattacken, geht nicht mehr gerne aus.

Angstzustände, Misstrauen, Schlaflosigkeit – das sind typische Symptome von Stalkingopfern, sagt Detlef Lüben. Der Pressesprecher der Fürstenwalder Polizei ist zuständig für die Opferbeauftragten der Brandenburger Polizei und leitet eine Außenstelle des Weißen Rings. Den Fall Wegner hat er von Anfang an verfolgt: all die Hilferufe, all die Polizeieinsätze. Der Polizist weiß aber auch, dass seine Kollegen manchmal keinen Einsatzwagen rausgeschickt haben: Zum Beispiel, wenn die verängstigte Frau zum wiederholten Mal meldete, ihr Mann schleiche ihr auf der Straße hinterher. „Es war ja noch gar nichts. Der hat Sie ja nur angeguckt“, bekam sie dann manchmal zu hören.

Für Wegner war das ein doppelter Schlag, für die Beamten laut Detlef Lüben nur Ausdruck der Gesetzeslage. „Leider“, sagt er. Auch Lüben wünscht sich bessere rechtliche Mittel gegen Stalking. In den meisten Fällen handele es sich juristisch gesehen nur um eine Aneinanderreihung von Bagatelldelikten: „eine so genannte einfache Körperverletzung, eine einfache Beleidigung, vielleicht eine kleine Sachbeschädigung“. Auf diese einzelnen Delikte stehen meist kleine Strafen, manche Verfahren werden wegen Geringfügigkeit auch gleich wieder eingestellt. Hinzu kommt, dass die einzelnen Anzeigen oft von verschiedenen Staatsanwälten geprüft werden – keiner sieht den ganzen Fall, allenfalls Auszüge.

Um Stalking als eigenen Straftatbestand zu etablieren, plant die Bundesregierung ein Gesetz, das „unbefugtes, beharrliches Nachstellen“ unter Strafe stellen soll. Bis zu drei Jahre Haft sollen dem Stalker drohen, wenn er sein Opfer in dessen Lebensgestaltung „schwerwiegend und unzumutbar“ beeinträchtigt. Doch anders als ursprünglich geplant ist das Stalking-Gesetz vor der Sommerpause im Bundestag zwar verhandelt, aber nicht verabschiedet worden.

Dabei gibt es Hinweise, dass Stalkingfälle zunehmen. Internet und Handys machen die ständige Kontaktaufnahme leichter, in der Anonymität großer Städte fehlt die soziale Kontrolle. Und Trennungen und Ehescheidungen kommen heute häufiger vor als noch vor ein paar Jahrzehnten. Stalkingopfer leben gefährlich: Statistisch liegt ihr Risiko, ermordet zu werden, 25 Prozent höher als bei anderen Menschen. Fast hätte es Susanne Wegner auch erwischt.

Es war ein Tag im vergangenen September: Gemeinsam mit ihrer Tochter geht Susanne Wegner zur Post – auf Schleichwegen, denn ihr Mann ist ihr wieder mal auf den Fersen, mit einem stieren Blick, der ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt. Auf einmal setzt er zum Spurt an, sie will noch das Handy zücken, um die Polizei zu rufen, da spürt sie einen dumpfen Stoß im Rücken. Das Messer schrammt haarscharf an der Wirbelsäule vorbei und an der Hauptader zur Niere. Ihr Mann hält ihr auch noch triumphierend das blutverschmierte Messer vors Gesicht. An dieser Stelle ihrer Geschichte macht Susanne Wegner eine kurze Pause. Den Aktenordner hat sie längst beiseite gelegt. Als sie zittrig Kaffee nachschenkt, klappert der Löffel leise auf der Untertasse. Sie sagt, sei sie noch immer schockiert darüber, dass ihr Mann sich weder von der Anwesenheit zahlreicher Passanten noch der seiner eigenen Tochter bremsen ließ.

Die folgende Gerichtsverhandlung geriet in Susanne Wegners Augen zur Farce. Eine Tötungsabsicht wollten die Richter nicht erkennen. Immerhin hätte der Täter ja auch ein zweites Mal zustechen können, hieß es nüchtern in der Begründung. Der psychiatrische Gutachter hat bei ihrem Mann unter anderem ein unterentwickeltes Selbstbewusstsein und Depressionen diagnostiziert. Die seelischen Nöte wurden ihm strafmindernd ausgelegt.

Jens Hoffmann weiß, dass viele Menschen auf solche Geschichten entsetzt reagieren. „Der Stalker muss doch verrückt sein“, sei oft der erste verständliche Kommentar. Doch in den seltensten Fällen handle es sich wirklich um eine psychische Krankheit, erklärt der Psychologe, eher um eine extreme Form der Realitätsverzerrung. Die Täter seien meist nicht in der Lage zu erkennen, dass sie es sind, die etwas falsch machen. Im Gegenteil: Viele fühlen sich selbst als Opfer. Auch Susanne Wegners Mann macht sie für sein Leid verantwortlich – dafür, dass er nun alleine ist, dass er in Haft sitzt, dass er zum Schluss auch seinen Job verloren hat. „Du hast mir alles zerstört“, klagte er in einem Brief aus seiner Gefängniszelle. Eine Psychotherapie könne unter Umständen helfen, die verzerrte Sicht gerade zu rücken, meint Hoffmann. Doch zwingen könne man niemanden dazu, ein Patient müsse die Therapie auch wollen.

„Vergessen Sie es, mit einem Stalker die Sache zu klären, mit einem Gespräch in Ordnung zu bringen“, sagt Hoffmann, „das funktioniert nicht.“ Meistens habe das sogar den gegenteiligen Effekt: Weil Stalker letztlich Aufmerksamkeit wollen, und zwar um jeden Preis, fühlen sie sich von jeder Reaktion des Opfers bestärkt und legen erst richtig los.

Neben dem Tipp, alle Übergriffe und Drohungen in einer Art Tagebuch zu notieren – als mögliche Beweisliste vor Gericht – und jede Straftat bei der Polizei anzuzeigen, geben Experten vor allem den Rat, den Täter vollständig zu ignorieren. Nicht mehr ans Telefon gehen, andere Wege zur Arbeit nehmen, nicht mehr mit dem Stalker reden, auch wenn er noch so bettelt oder randaliert. Und es gibt manche Fälle, sagt Jens Hoffmann, „bei denen kann man nur verschwinden, umziehen, vielleicht die Stadt wechseln. Das ist nicht schön, das ist ungerecht. Aber es ist manchmal der einzige Ausweg.“

Susanne Wegner hat auch schon darüber nachgedacht, irgendwo anders ein neues Leben zu beginnen. Noch ist sie aber nicht so weit. „Ich habe doch nichts gemacht – er hat doch dieses Verbrechen begangen“, sagt sie leise. Sie wünsche ihm nichts Böses, wirklich nicht. „Ich will einfach nur meine Ruhe. Das ist zwar unrealistisch, aber das wäre mein Wunsch.“ Im blutverschmierten letzten Brief hat er ihr geschrieben „Eines Tages bin ich wieder frei. Wie es weitergeht, weiß ich nicht.“ Susanne Wegner hat eine böse Ahnung.

Annette Moll, Fürstenwalde

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