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Brandenburg: „Er gibt nicht auf“

Heinrich Scholl, der Ex-Bürgermeister von Ludwigsfelde, sitzt hinter Gintern – wegen Mordes an seiner Frau. Anja Reich macht aus dem Fall das Porträt einer DDR-Generation. Bei der ersten Lesung wird klar: Selbst aus dem Knast arbeitet der Mann an seinem Vermächtnis

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Dieser Mann lässt Ludwigsfelde nicht los. Selbst aus dem Knast heraus. Es ist Montagabend in einer Schulaula in der 24000-Einwohner-Stadt, 200 Gäste sind gekommen. Es geht um Heinrich Scholl, 71 Jahre, 18 Jahre lang erfolgreichster Bürgermeister Ostdeutschlands in der Industriestadt vor den Toren Berlins, mit dem sich Politikergrößen wie Gerhard Schröder, Manfred Stolpe und Matthias Platzeck gern schmückten. Und der vor fast einem Jahr wegen Mordes an seiner Frau zu lebenslanger Haft vom Landgericht Potsdam verurteilt worden war. Er hat nach Ansicht der Richter seiner zerrütteten Ehe ein Ende gesetzt, als er seine Frau Brigitte am 29. Dezember 2011, einen Tag nach dem Hochzeitstag, bei einem Waldspaziergang heimtückisch erdrosselte.

Anja Reich hat als einzige Journalistin überhaupt mit Scholl in der Haftanstalt in Brandenburg/Havel mehrfach über mehrere Stunden gesprochen, fast jeden Verhandlungstag des Indizienprozesses besucht, monatelang in Ludwigsfelde recherchiert, mit Freunden und Weggefährten Scholls gesprochen – und darüber ein Buch geschrieben. Am Montagabend las sie erstmals daraus vor. Und die Gäste lachten über ihren alten, gerade einmal 1,60 Meter großen Ex-Bürgermeister. Etwa, als Reich aus Scholls selbstverfassten erotischen  Roman über seine Sexabenteuer zitierte: „Mit der rechten Hand versuchte ich, ihren Schoß zu erreichen. Leider vergeblich, denn mein Arm war zu kurz.“

Doch Scholl hat auch immer noch Freunde in seiner Stadt. Mehrere Zuhörer fragen nach vernichteten DNA-Spuren vom Tatort, nach den Irrwegen der Polizei-Spürhunde. Anja Reich hat vor der Lesung erfahren, dass Scholl Fragen an Vertraute weitergeleitet habe. „Er hat Besuchern ganz bestimmte Fragen aufgeschrieben“, sagt Reich. Fragen, die die anhaltenden Zweifel an seiner Schuld bestätigen sollen. „Er gibt nicht auf. Er freut sich, dass er Aufmerksamkeit bekommt.“

Tatsächlich lässt es einen nicht los. Dieser aufsehenerregende Tod einer Politikerfrau – wirkt er nicht scheinbar unausweichlich? War es nicht geradezu schicksalhaft, dass der Bürgermeister von Ludwigsfelde seine Frau tötete? War der Mord an Brigitte Scholl nicht die psychologische Folge eines langen Lebens voller Demütigungen? Oder war er im Gegenteil der letzte, tödliche Beweis dafür, dass Heinrich Scholl ohne seine Frau nicht konnte, mit ihr aber auch nicht? Anja Reich beantwortet diese Fragen nicht – und schon das spricht sehr für ihr Buch. Sie legt Antworten nahe und stellt auf gerade 200 Seiten, in einem angenehm uneitlen Stil Material bereit: Lebens-Material, aus dem sich Fragen nach dem Schicksal ergeben, das Menschen verbindet.

In „Der Fall Scholl“ lernt man zwei Menschen auf fast intime Weise kennen. Mit jeder Seite ihres Buches wird die Lebensgeschichte der Scholls – kennt man das Ende – beklemmender, fast schrecklich. Zwei Leben, nicht untypisch für eine bestimmte Generation der DDR-Bürger, und doch zwei besondere Leben, besonders darin, wie sie aus ihrer ostdeutschen Herkunft, ihrer DDR-Sozialisation eine Erfolgsgeschichte machten.

Zwei Kriegskinder, sie 1944, er 1943 geboren. Sie hatte es leichter als er, sie war Tochter einer tatkräftigen Mutter, Chefin des ersten Frisörsalons in Ludwigsfelde, verheiratet mit einem notorisch untreuen Frauenjäger. Heinrich lebte von klein auf das Leben eines ungewollten, ungeliebten Kindes. Noch mehr gemeinsame Erfahrung: die Eltern vom Krieg innerlich versehrt, mit Neigungen zum Alkohol. Die Eltern: bestenfalls mal freundlich, meistens einfach hart.

Anja Reich, die mit Scholl einige lange Gespräche führte, schreibt über seine Prägung: „Heinrich Scholls früheste Kindheitserinnerung ist der Tag, an dem er im Garten seines Elternhauses ausrutschte und in die Jauchegrube fiel. Er konnte sich gerade noch so festhalten und auf allen Vieren zurück auf die Wiese kriechen. Er stank wie die Pest, ihm war schlecht. Sein Vater fand ihn neben der Grube im Gras, und vielleicht war es das letzte Mal, dass Heinrich Scholl hoffte, er würde getröstet werden wie andere Kinder, wenn ihnen etwas Schlimmes passiert war. Die Schläge seines Vaters hat er nie vergessen. Als Erich Scholl starb, wenige Jahre später, vergoss sein Sohn keine Träne.“

Beide haben als junge Leute nicht viel geschenkt bekommen. Sie heirateten Ende 1964, Romantik war so wenig wie große Liebe. Sie war bereits Mutter eines Jungen, er war bereit, ihren Sohn mit großzuziehen. Ziemlich schnell verfestigte sich, was beider Beziehung wohl früh geprägt hatte: Sie beherrschte das Familienleben, er war ein gefügiger Macher. Das schien auf beide, für beide, zu passen. Sie war und blieb ein Kontrollfreak, er arrangierte sich und lebte einen gewissen Freiheits- und Gestaltungsdrang im Alltag bei der Arbeit aus.

Fast typische DDR-Bürger-Biografien zweier Anpassungskünstler, bis zum Mauerfall: Mit der DDR haben beide nicht wirklich gehadert. Auch in dieser Hinsicht hat Reichs Geschichte eine zweite Bedeutungsebene. Wer nicht in der DDR gelebt hat, erfährt hier, wie man sein Leben leben konnte, ohne ständig an die engen Grenzen des Systems zu stoßen. Allerdings hatte Heinrich Scholl einmal richtigen Ärger mit der Stasi gehabt, als er noch in leitender Tätigkeit im Nutzfahrzeugwerk in Ludwigsfelde war. Etwas zu deutlich und ohne Rücksicht auf anwesende Stasi-Leute hatte Scholl in einem auf Englisch geführten Gespräch mit schwedischen Handelspartnern eine politisch begründete Investition ins Werk für Unsinn erklärt. Auf den Verweis wegen „politischer Sabotage“ hin kündigte er und wurde technischer Chef bei einem Zirkus, dann Techniker für die Sportanlagen von Ludwigsfelde.

Beide, Brigitte und Heinrich Scholl, nutzten die Chance, nach dem Untergang der DDR freier als je zuvor entscheiden zu können. Praktische Intelligenz, austrainierte Sekundärtugenden wie Fleiß, Verlässlichkeit, Belastbarkeit und Selbstdisziplin halfen der Kosmetikerin Brigitte Scholl, in Ludwigsfelde die Nummer eins in ihrer Branche zu werden. Und sie halfen Heinrich Scholl, vom unausgelasteten Techniker zum politischen Aufsteiger und Stadtentwickler zu werden.

Faszinierend, wie die Scholls die Wende meisterten und durchstarteten. Es war der Zufall, der unruhige Geister in offene Situationen führt, der Scholl zum Politiker machte. Er wollte etwas machen. Er lernte Klaus Wowereit kennen, der sich 1989/1990 berufen fühlte, südlich von Berlin-Tempelhof politische Entwicklungshilfe zu leisten. Er lernte Steffen Reiche kennen, der als einer von ganz wenigen kurz zuvor die Sozialdemokratische Partei in der DDR unter dem Kürzel SDP wiedergegründet hatte. Scholl war, wie die anderen auch, die später in Brandenburg politische Karriere machten, die Platzecks und die Speers, einer, der 1989 mit sich und anderen ganz neu anfangen konnte und wollte, einer, der die Möglichkeiten sah, nicht die Verluste. Eine alte Mitstreiterin aus der SPD, West-Berlinerin, sagte im Gespräch mit der Autorin, Scholl sei anders gewesen als die meisten Leute im Osten: „nicht gebrochen, ohne diese gebückte Haltung“.

18 kommunalpolitisch gloriose Jahre kamen. Scholl gewann Daimler-Benz – im früheren IFA-Werk werden heute Mercedes-Lieferwagen gebaut. Er machte Ludwigsfelde zum florierenden Industriestädtchen. Der ehemalige Sportanlagentechniker setzte sich mit dem Bau einer FKK-Therme ein Denkmal.

Doch Anja Reich legt noch andere Schichten dieser Biografie frei, und deshalb ist ihr Buch auch eine politisch-soziologische Studie über die Wendezeit und den Umgang mit Brüchen in der eigenen Lebensgeschichte: Wie sich ostdeutsche Macher mit westdeutschen Geldgebern zusammenfanden, wie eine sehr spezielle Aufbruchsstimmung entstand, die Erfolge brachte, aber auch einen Hauch von Größenwahn – das liegt eine Weile zurück und wird hier wieder lebendig.

Die Menschen, die aus den Trümmern der DDR mit hohem Tempo neu starteten, ignorierten gern mal die Grenzen. Reich zählt sie alle auf, die bizarren Geschichten von Nachwende-Politikern. Scholle kannte sie. Etwa die von Ex-Bauminister Jochen Wolf, der über eine Baufilzaffäre stolperte und später im Knast saß, weil er seine Frau von einem Auftragskiller umbringen lassen wollte. Oder die von Günther Krause, der für die letzte DDR-Regierung den Einigungsvertrag mitformulierte und als Bundesverkehrsminister über eine Putzfrauenaffäre stürzte. Am Ende auch die von Rainer Speer, den Strategen der Landes-SPD, der zurücktreten musste, weil er über Jahre keinen Unterhalt für ein uneheliches Kind gezahlt haben soll.

Für Scholl war alles erreichbar. Und auch er steht im Verdacht, es nicht immer ganz genau genommen zu haben mit Recht und Gesetz im Amt, ebenso korrupt gewesen zu sein und mit regionalen Baulöwen gekungelt zu haben wie andere SPD-Genossen in seinem Heimatkreis Teltow-Fläming. Eine Anklageschrift gab es schon, zum Prozess kam es nie. Gegen den Mordvorwurf schien den Richtern der Korruptionsverdacht nebensächlich.

Im Job holte sich Heinrich Scholl Bestätigung, doch das Eheleben der Scholls geriet zu einer tristen Mischung aus Kontrollsucht, Entfremdung, Resignation und Untreue – bis hin zu Scholls Liebschaft mit einer Thailänderin: sein Ausbruch in eine exzessive Form von Tristesse. Brigitte Scholl ließ ihn zurückkehren und bestrafte ihn für die Affäre – er musste fortan im Keller seines Hauses wohnen, sie buchte für sich ein Einzelgrab – auch so ein Racheakt.

Zu den Stärken von Anja Reichs Buch gehört, dass sie zahllose Situationen und Erlebnisse recherchiert hat, die die Beziehung der Scholls – auch wenn sich das makaber liest – lebendig machen. Reich will verstehen und verständlich machen, nicht urteilen, um dem „Fall Scholl“ die Rätselhaftigkeit zu nehmen. Nach Auffassung der Gerichte – die Scholl bestritten hat – war das Verbrechen an Brigitte Scholl ein Klassiker: Tötung des Intimpartners – ein Befreiungsschlag, der Scholl wohl für den Rest seines Lebens zum Strafgefangenen machen wird.

Scholl geht nun mit einer Verfassungsbeschwerde gegen seine Verurteilung vor, nachdem auch der Bundesgerichtshof (BGH) seine Revision abgeschmettert hat. Denn es gibt es auch andere Theorien über den Mord. Es geht um einen anonymen Brief, in dem von einer Affäre seiner Frau die Rede ist. War etwa ihr Liebhaber der Täter? Hat Brigitte Scholl den Mord selbst in Auftrag gegeben, ihn inszeniert, um den Verdacht auf ihren Mann zu lenken, als letzte große Rache? In Ludwigsfelde kursieren noch immer allerlei Gerüchte.

Heinrich Scholl geht es schlecht im Gefängnis, sagt Reich. Er habe bei den Gesprächen oft geweint und ihr auch danach oft noch Briefe geschrieben, er wollte etwas loswerden. Aber Scholl habe sich im Leben hochgekämpft, er sei ein Stehaufmännchen, „er lässt sich nicht unterkriegen“. Im Knast hat er sich mit Rockern von den Hells Angels angefreundet, mit einer Mutprobe verschaffte er sich Respekt. Und will auch Chefredakteur der Gefangenenzeitung werden, deren eifrigster Mitarbeiter er ist.

Bei den Menschen in Ludwigsfelde kommt Reichs Buch an. „Ich habe ihr Buch reineweg verschlungen“, sagt Ortschronistin Vera Gärtner nach der Lesung. „Es ist ein Trauerspiel.“ Sabine Marx, die einzige Buchhändlerin der Stadt, sagt, nur „Harry Potter“ habe sich besser verkauft. Am 11. April, einem Freitag, als das Buch erschien, stand schon am Morgen eine Schlange vor dem Laden. „Die Leute sind immer noch sehr bewegt und spielen alle möglichen Varianten durch. Die meisten glauben aber, dass er es war“, sagt Marx. Dass Scholl der Mörder ist.

Stoff für einen Film über das Leben in der DDR, die Zeit danach, die Abgründe des Privaten. Anja Reich verhandelt nun mit mehreren Produktionsfirmen. 

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