Brandenburg: Er wollte zur Golden Gate Bridge
Das letzte Maueropfer: Vor 25 Jahren wurde Chris Gueffroy auf dem Weg von Treptow nach Neukölln von DDR-Grenzern getötet
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Berlin - Die Natur holt sich zurück, was ihr einst gehört hat, aber irgendwann ist auch mal gut. Also rückt, rechtzeitig zum 25. Todestag des letzten Mauerschützenopfers, das Grünflächenamt an, mit Spaten und Harken und Scheren. Ordnung muss sein, denn alle Jahr wieder am 5. Februar kommen nicht nur die Jogger und Radfahrer und Spaziergänger an den Britzer Verbindungskanal. Auf die Asphaltpiste, wo früher mal die Jeeps der DDR-Grenztruppen patrouillierten. Nach einer guten Stunde türmt sich eben noch wild wucherndes Gehölz auf der Ladefläche eines LKW, und rundherum sieht es wieder so aus, wie es früher aussah. Flach und perfekt einsehbar, wie sich die Grenztruppen ihr Schussfeld wünschten.
Wie vor 25 Jahren, als eine Kugel Chris Gueffroy das Herz zerfetzte. Chris Gueffroy war zwanzig Jahre alt. Er wollte von Treptow nach Neukölln, zu einer Zeit, als das nicht nur Berliner Bezirke waren. Von Ost nach West, das waren damals nicht nur Himmelsrichtungen. An der Stelle, wo ihn ein paar Monate vor dem Mauerfall eine von 22 abgefeuerten Kugeln traf, steht seit 2003 eine Gedenkstele. Ein paar Meter weiter liegt schwarz und ruhig das Wasser des Britzer Verbindungskanals, er gehört schon zu Neukölln. Der 25. Todestag kam so unverhofft, dass die Zeit nicht mehr gereicht hat, die Stele von Graffiti, Vogeldreck und Rost zu befreien.
Der 5. Februar 1989 ist ein Sonntag. Karin Gueffroy kommt von einem kurzen Urlaub an der Ostsee zurück in ihre Wohnung an der Südostallee in Berlin-Johannisthal. Für den nächsten Morgen ist sie mit ihrem Sohn zum Frühstück verabredet. Ihr Wohnhaus ist ein Viergeschosser aus den Sechzigerjahren mit einem verglasten Vorbau, zehn Mietparteien am Klingelbrett. Karin Gueffroys Name fehlt, sie ist schon 1989 in den Westen ausgereist, noch vor dem Mauerfall.
Karin Gueffroy hat immer gesagt, dass Chris nicht aus politischen Gründen in den Westen wollte. Es fehlt ihm schlicht die Luft zum Atmen. Er arbeitet als Keller in Ostberliner Lokalen, zuletzt als Lehrling im Flughafenhotel in Schönefeld, wo die Besucher aus dem Westen ihr Geld auf den Kopf hauen und nicht kleinlich sind. Der Kellner Chris Gueffroy verdient mit seinen Trinkgeldern mehr als ein Chefarzt, aber das viele Geld führt ihm nur vor Augen, wie wenig man damit im Osten anfangen kann. Er will reisen, die Welt erobern, über die Golden Gate Bridge nach San Francisco fahren, und das nicht erst als Rentner.
Die Südostallee liegt vor der Wende noch im toten Winkel. Heute ist sie eine viel befahrene Verbindungsstraße. Ihre Verlängerung in Richtung Westen ist die Sonnenallee, Leander Haußmann nutzt sie später als Kulisse für eine Kino-Klamotte. In „Sonnenallee“ ist die DDR grau, aber irgendwie lustig, und das Schlimmste, was bei der Flucht von Ost nach West passiert, ist dass im Kugelhagel eine Platte der Rolling Stones zu Bruch geht.
Chris Gueffroy hat am 5. Februar 1989 keine Schallplatte bei sich, und er hat auch nicht geglaubt, dass noch geschossen würde an der Mauer. Im schlimmsten Fall wird er erwischt und muss ein paar Monate in der Knast, dann wird ihn schon der Westen freikaufen. Die Flucht spukt ihm ein paar Jahre im Kopf herum, aber jetzt wird es ernst. Zu Hause liegt ein Einberufungsbefehl der Armee. Die Zeit drängt. Gueffroy weiß: Wenn die Mutter erst wieder zurück ist von der Ostsee, wird sie ihm den Plan ausreden. Also muss es jetzt sein.
Das Wohnhaus der Gueffroys an der Südostallee liegt direkt an der Königsheide, einem Wäldchen zwischen Johannisthal und Baumschulenweg. Zu Fuß ist es eine halbe Stunde bis zu dem Fluchtpunkt, den sich Chris Gueffroy und sein Freund Christian Gaudian ausgesucht haben. Es ist schon dunkel, als sie sich in Richtung Britzer Verbindungskanal vortasten, vorbei an den Laubenkolonien, sie heißen „Harmonie“,„Gemütlichkeit“ und „Sorgenfrei“. Auf der anderen, der Neuköllner Seite des Britzer Verbindungskanals erleichtert die wuchtige Jacobs-Kaffeerösterei die Orientierung. Drei Stunden lang pirschen die beiden durch die Nacht, bis sie das erste richtige Hindernis erreichen. Die Hinterlandmauer. Gaudian und Gueffroy setzten mit einem selbst gebastelten Wurfanker über und merken nicht, wie einer einen Signalzaun streift und den Alarm auslöst. Plötzlich blenden Flutlichtstrahler auf, Schüsse fallen, aber Gueffroy und Gaudian laufen weiter. Sie müssen nur noch über eine, die letzte Mauer. Gueffroy will Gaudian nach oben hieven, aber den trifft eine Kugel am Bein und er stürzt zurück.
22 Schüsse fallen in dieser Nacht von Treptow, einer trifft Chris Gueffroy mitten ins Herz. Da hat er längst die Hände zur Aufgabe gehoben. Es ist zwanzig Minuten vor Mitternacht. Auf der anderen Seite der Königsheide, gut einen Kilometer Luftlinie entfernt an der Südostallee, hört Karin Gueffroy die Schüsse, aber sie denkt sich nichts weiter. Ahnt nicht, dass ihr Sohn schon tot ist, dass im Berliner Polizeikrankenhaus auf Veranlassung der Stasi gleich ein neuer, ein gefälschter Totenschein ausgestellt wird, er vermerkt als Todesursache: „Herzverletzung“.
Chris Gueffroy kommt nicht zum verabredeten Frühstück mit seiner Mutter, er lässt auch nicht von sich hören, und das passt so überhaupt nicht zu ihm. Dafür meldet sich später am Tag ein Freund, er erzählt Karin Gueffroy von der geplanten Flucht. Noch hofft sie, denn wenn da wirklich was mit ihrem Sohn gewesen wäre – würde dann nicht längst die Stasi vor der Tür stehen? So geht das zwei Tage lang, dann wird sie ins Polizeipräsidium zitiert, „zur Klärung eines Sachverhalts“, wie es im Stasigruseldeutsch heißt. Nach einem längeren Verhör teilt ihr ein Offizier mit: „Ihr Sohn hat ein Attentat auf eine militärische Einrichtung begangen.“ Und: „Ihr Sohn ist tot.“
Jetzt weiß Karin Gueffroy, was in dieser Nacht vom 5. auf den 6. Februar passiert ist. Und sie sorgt dafür, dass es auch andere wissen, bis in die Redaktionen der Westberliner Zeitungen hinein. In der Rückblende ist nicht mehr komplett nachzuvollziehen, wie Chris Gueffroys Freunde es schaffen, an der Stasi vorbei eine Todesanzeige in die „Berliner Zeitung“ zu lancieren: „Für uns alle unfassbar. Er war noch so jung. Wir trauern in unendlichem Schmerz und voll Liebe um Chris Gueffroy, der durch einen tragischen Unglücksfall von uns gegangen ist. Die Trauerfeier findet am 23.2. um 14 Uhr in Berlin-Baumschulenweg statt.“
25 Jahre später ist der Friedhof an der Kiefholzstraße so verlassen, wie es Friedhöfe gemeinhin sind. Chris Gueffroy hat ein besonderes, ein Opfergrab bekommen. Es ist schon vom Eingang zu sehen im Schatten einer riesigen Ulme. Mitten auf einer großen Wiese. So einsam und allein, wie es Chris Gueffroy vor der Mauer am Britzer Verbindungskanal war. Kein Kreuz, das ist nach der Wende geklaut worden, als das Grab immer mal wieder geschändet wurde. Stare staksen über die Tannenzweige und den weißen Engel und das frisch abgelegte Gesteck vor dem Stein. Heute wird Karin Gueffroy wieder zur stillen Trauer kommen. Sie meidet die großen Gedenkveranstaltungen, die protokollarischen Plichttermine, bei denen der Senat manchmal einen Kranz ablegen lässt.
Am 23. Februar 1989 organisiert die Stasi das Begräbnis. Sucht den Trauerredner aus und den Stein, Karin Gueffroy darf ihn nur bezahlen. Der Reporter der „taz“ notiert: „Rund 120 Menschen versammelten sich gestern nachmittag auf dem Friedhof, um sich von Gueffroy zu verabschieden. Das letzte Geleit war keine private, intime Veranstaltung; es war ein Politikum. Während die einen weinend Erde in das kleine Urnengrab warfen, machten sich andere aus einiger Entfernung Notizen über das Geschehen. Vorher hatten die Stasi-Beamten sogar die Personalien einiger Friedhofsbesucher notiert.“
Christian Gaudian wird wegen „versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall“ zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt und kurz vor der Wende in den Westen abgeschoben. Auch Karin Gueffroy darf ausreisen. Alle paar Wochen reist sie offiziell ein, entrichtet ihre 25 Mark Zwangsumtausch und besucht das Grab ihres Sohnes. Die vier Todesschützen bekommen das „Leistungsabzeichen der Grenztruppen“ und 150 Mark Prämie. Nach dem Mauerfall werden sie nach langjährigen Prozessen zu Bewährungsstrafen verurteilt. Keiner äußert ein Wort des Bedauerns.
Zum 25. Todestag gibt es eine stille Andacht an der frisch vom wild wuchernden Gehölz befreiten Stelle, wo eine Kugel Chris Gueffroy das Herz zerfetzte. Gegenüber auf der Neuköllner Seite prägt immer noch die wuchtige Jacobs-Kaffeerösterei das Bild. Die Gedenkstele setzt weiter Rost und Vogeldreck an, und wenn die Graffiti irgendwann mal ausbleichen, wird es neue geben. Die Straße, die von Treptow über den Britzer Verbindungskanal nach Neukölln führt, heißt seit 2013 Chris-Gueffroy-Allee. Vorn Pappeln, hinten Ahorn, dazwischen Baracken und Lauben.
Es gibt prächtigere Alleen.
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