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Bedrückend niedlich. Auf manchen Türen der geschlossenen Haasenburg-Heime futtert auch dieses Namenssymbol an einer Mohrrübe. Hier die Tür zu einem Gruppenraum in der Einrichtung in Neuendorf am See.

© dpa/Patrick Pleul

Haasenburg-Heime: Grauzone der Entwürdigung

Experten streiten, wie die Übergriffe und Misshandlungen in den Haasenburg-Heimen zu bewerten sind. Ob das Oberverwaltungsgericht den Entzug der Betriebserlaubnis bestätigt, ist höchst ungewiss

Stand:

Für Christina Witt wäre es „ein Schlag ins Gesicht“. Das würde sie empfinden, falls die Haasenburg- Heime für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche in Brandenburg wiedereröffnen dürften, sagte die 17-Jährige Anfang April. Da hatte sie gerade im Potsdamer Bildungsministerium eine von ihr initiierte Petition mit 40 000 Unterschriften übergeben – gegen den Weiterbetrieb der Heime. Christina Witt wurde dort nach ihren Worten ein Jahr lang schikaniert und körperlich misshandelt. Doch es ist höchst ungewiss, ob ihre Leiden und die traumatischen Erfahrungen anderer junger Heimbewohner vor Gericht als schwerwiegend genug angesehen werden, um der Haasenburg GmbH die von Bildungsministerin Martina Münch (SPD) entzogene Betriebsgenehmigung auch weiterhin zu verweigern. Wie berichtet haben die Heimbetreiber dagegen geklagt. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (OVG) will in Kürze darüber entscheiden.

Angesichts des anstehenden Gerichtsbeschlusses hat die Jugendhilfe-Expertin und Professorin für Sozialpädagogik an der Freien Universität Berlin (FU), Ulrike Urban-Stahl, im Gespräch mit den PNN darauf hingewiesen, „dass es unglaublich schwer ist, in Deutschland eine Gerichtsentscheidung für eine dauerhafte Heimschließung zu bekommen“. Obwohl auch der Haasenburg- Konflikt aus Sicht vieler Fachleute erneut die große Grauzone von illegalen körperlichen Übergriffen und entwürdigenden Strafen in den sogenannten geschlossenen Heimen aufzeigt. Entsprechend dringend müssten alternative Hilfsangebote für schwer erziehbare Jugendliche entwickelt und zusätzlich angeboten werden: beispielsweise therapeutische Wohngemeinschaften, meint Urban-Stahl.

Die Haasenburg GmbH will mit einem gerichtlichen Eilverfahren erreichen, dass sie ihre drei Jugendhilfeeinrichtungen vorläufig bis zur endgültigen Klärung des Rechtsstreits weiter betreiben darf. Ihre Chancen im Vor- und späteren Hauptverfahren stehen offenbar nicht schlecht. Denn die Erteilung einer Betriebserlaubnis für geschlossene Erziehungsheime ist nach Angaben der FU-Professorin an keine hohen Hürden gebunden. Mindeststandards müssten zwar erfüllt werden, aber „keine umfassende Qualitätssicherung und Transparenz“. Zu diesen höheren Anforderungen gehören unter anderem externe Supervisoren für das Team, die Tabus leichter durchbrechen können. Oder unabhängige Ansprechpartner, zu denen die Jugendlichen Vertrauen haben.

„Selbst bei offensichtlichen Kindeswohlgefährdungen werden Betriebserlaubnisse deshalb gerichtlich kaum zurückgenommen“, sagt Urban-Stahl. Wirtschaftliche Interessen desTräger und Personals würden gegengerechnet. Meist forderten Gerichte nur bessere Konzepte mit mehr Auflagen. Die Professorin verlangt stattdessen „klare, strengere Kriterien“ zur Erteilung einer Betriebserlaubnis.

Wie verschieden auch in Expertenkreisen Übergriffe und Misshandlungen gewichtet werden, zeigen die zwei Gutachten zur Haasenburg, die inzwischen vorliegen. Der Direktor der Kinder und Jugendpsychiatrie der Rostocker Universität, Frank Häßler, war im Auftrag der Haasenburg GmbH tätig. Er rechtfertigt wie berichtet die Heimpraxis, lobt „hohe Standards“, die von „verantwortungsvollem Personal“ beachtet worden seien. Der Berliner Psychologe und Leiter der vom Ministerium eingesetzten Untersuchungskommission Martin Hoffmann hält die Heime hingegen in seinem Ende 2013 veröffentlichten Gutachten in der bisherigen Form für ungeeignet. „Ich würde dort kein Kind oder Jugendlichen hinschicken“, widerspricht er dem Rostocker Kollegen, dessen Stellungnahme Anfang April erschien.

Frank Häßler kontert, „es mag Einzelfälle von Willkür gegeben haben“, dies treffe aber „womöglich nur auf ein Viertel oder ein Fünftel“ der untergebrachten jungen Menschen zu, von Repression könne man nicht reden. Für Hoffmann klingt das „schon ein bisschen zynisch“, denn „jede Misshandlung ist eine zu viel“. Bei zeitweise mehr als 50 eingewiesenen Jugendlichen sei ein Viertel ja auch nicht wenig.

Hoffmann hat für sein Gutachten in Hasenburg-Heimen hospitiert. Gegenüber den PNN bekräftigte er auf Anfrage seinen Vorwurf, dass „Grenzen zur Willkür in etlichen Fällen überschritten wurden“. Körperlicher Zwang sei als Anti-Aggressionsmaßnahme nur gesetzlich erlaubt, wenn ein Jugendlicher „dermaßen austickt, dass er sich selbst oder andere gefährdet“. Nur in diesem Falle dürften ihn die Betreuer beispielsweise auf den Rücken zwingen und die Arme verdrehen. „In den Heimen geschah dies aber auch als Strafe oder Provokation.“ Professionelle Deeskalationsstrategien wie bestimmte Formen von Gesprächsführung seien viel zu wenig angewendet worden.

Martin Hoffmann beruft sich auf „glaubwürdige Zeugen unter den Jugendlichen“ sowie auf befragte frühere Haasenburg-Mitarbeiter, die wegen der Zustände dort kündigten. Außerdem seien etliche Übergriffe nachweisbar, weil Anti-Aggressionsmaßnahmen den Jugendämtern gemeldet werden müssen. So hat er beispielsweise einen Fall entdeckt, bei dem ein chronisch asthmakranker Jugendlicher auf den Rücken geworfen wurde. „Das hätte einen lebensgefährlichen Asthmaanfall auslösen können.“

Dennoch hat die Kommission im Gegensatz zur Jugendministerin keine Schließung der Heime gefordert, sondern nur ein neues Konzept mit mehr Auflagen und besseren Kontrollmöglichkeiten, am besten unter einem neuen Träger. Hoffmann begründet das so: „Die Hälfte der Jugendlichen hat sich dort ja auch wohlgefühlt. Und es gab auch kompetente Mitarbeiter.“ Regina Münch hat dagegen jegliches Vertrauen verloren. Sie beharrt auf dem Entzug der Betriebserlaubnis – trotz des gerichtlichen Risikos und möglicher Schadensersatzforderungen.

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