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Gegenwart der Vergangenheit. Dieser Demonstrant begleitete 2009 die Sondierungsgespräche für eine rot-rote Koalition.

© dapd

Vergangenheitsdebatte: „Guck, wie du da rauskommst!“

Mit menschlichem Maß? Rainer Siebert wurde als 17-Jähriger von der Stasi umworben. Viel berichtete er nicht. Der FDP-Politiker wurde durch die halbherzige Aufklärung in Brandenburg zum „Grenzfall“ – schwer Belastete wie Heinz Vietze blieben unbehelligt

Stand:

Rainer Siebert war noch siebzehn im Sommer 1970, als ihm sein Berufsschuldirektor mitteilte, er habe sich zu einem Gespräch in der Objektdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit einzufinden. Siebert lebte damals im Wohnheim, aber als er bei der nächsten Gelegenheit seiner Mutter von der Begegnung erzählte, spürte er die panische Angst, die die Frau befiel und er erinnert sich ganz genau an ihren ersten Satz: „Junge, guck bloß, wie du da rauskommst.“ Für Siebert begann an diesem Tag eine Geschichte, die ihn bis heute nicht loslässt – eine Geschichte, die jetzt auch im Streit um den Umgang des Landes Brandenburg mit dem DDR-Erbe wieder eine Rolle spielt. Rainer Siebert wurde an diesem Tag zum „Grenzfall“ und wird es wohl ein Leben lang bleiben. Seine Geschichte ist das vielleicht beste Beispiel dafür, wie der fragwürdige Umgang mit der Vergangenheit im Land Brandenburg zum Skandal werden kann.

1991 wurde Siebert einer der zehn Abgeordneten, die der Brandenburger Landtag überprüft sehen wollte, nachdem erste Funde in den Stasi-Archiven bei allen zehn den Verdacht aufkommen ließ, sie hätten als Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit den schrankenlosen Machtanspruch der SED abgesichert.

Genau genommen waren sie zu elft, aber aus bislang ungeklärten Gründen verschwand mit Heinz Vietze von der damaligen PDS ausgerechnet der wichtigste der MfS-Mitarbeiter aus dem Blickfeld. Dabei war der Fall Vietze der allerklarste aller Verdachtsfälle. Der Mann hatte anderen natürlich vor allem als hochrangiger SED-Funktionär geschadet, er hatte allerdings zuvor auch der Stasi viele Informationen geliefert. Aber Vietze gab es plötzlich nicht mehr beim Überprüfungsverfahren für Abgeordnete. Er wurde nicht einmal zum Grenzfall. Dass Vietze vor seiner Zeit als SED-Funktionär spitzelte, wurde verschwiegen. Später gab er das Bonmot zu Besten, er habe keine Berichte geschrieben, er habe sie bekommen.

Sieberts Stasi-Kontakte waren ganz anderer Natur. Wenn er erzählt, wie er als noch heranwachsender Halbwaise in der Berufsschule und dann noch mal bei der NVA von den Geheimpolizei-Offizieren zum Gespräch zitiert wurde, fällt es schwer mitzuschreiben. Was geht das überhaupt jemandem an, wie ein so junger Mensch in solch einem Moment nicht sofort die Kraft hat, einfach aufzustehen und wieder zu gehen? Natürlich kann Siebert heute nicht sagen, ob er in diesen wenigen Gesprächen mit Stasi-Offizieren jemandem geschadet hat. Er weiß, dass er sich vielleicht auch anders verhalten hätte können. Wenn sein Vater noch gelebt hätte, dann vielleicht. Oder wenn sonst jemand da gewesen wäre. So aber wurde Siebert zum Grenzfall, zuerst 1991, jetzt zwanzig Jahre später wieder.

In dem umstrittenen Gutachten zur Eliten-Kontinuität im Nachwendebrandenburg, das der Enquetekommission des Landtags vorliegt, wird klar, dass er eine Ausnahme ist. Da werden „entlastende Faktoren“ bei Siebert festgestellt, die sich ansonsten bei den anderen Fällen nicht feststellen lassen. Da wird erwähnt, was die Offiziere dann enttäuscht aufschrieben, dass er „immer nicht richtig berichten“ wolle und „nichts Interessantes“ gesagt habe. Und es wird festgestellt, dass Sieberts mangelnde Bereitschaft nach drei Jahren im Jahr 1973 zum Abbruch der Kontakte führte.

Dennoch hätte auch bei strenger Anwendung der Kriterien des damaligen Landtags eine Empfehlung zur Mandatsniederlegung erfolgen können und im Gutachten wird beklagt, dass nicht genauer nachgeforscht wurde. Rainer Siebert landet stattdessen mit allen anderen im ungewissen Grau, obwohl bei allen anderen belasteten Abgeordneten viel, viel mehr im Ungewissen lag und zuweilen zunächst nur klar war, dass so ziemlich gar nichts klar war.

Wenn er heute davon erzählt, wie das nicht mal einstündige Gespräch mit den beiden Kirchenvertretern lief, die dem damaligen Parlament eine Empfehlung geben sollten, wie dann alle um ihn herum erleichtert reagierten, als es nur noch „Grenzfälle“ gab und keiner in Potsdam genauer nachfragte, wird klar, dass die Sache in Brandenburg mit einem Freispruch dritter Klasse endete, der noch nicht einmal ansatzweise all die offenen Fragen beantworten konnte, die beispielsweise Opfer der Unterdrückungsmaßnahmen der Staatssicherheit umher treiben.

Er selbst, sagt Siebert, habe dann versucht, Einsicht in jene Akten zu bekommen, die damals auf dem Tisch vor den Kirchenmännern gelegen hätten. Einfach sei dies nicht gewesen. Über das, was er dann sah und las, hat er vor allem mit seinen westdeutschen Parteichefs von der FDP geredet. Die waren damals nach eingehender Prüfung unter Einschaltung von Juristen der Überzeugung, dass er nicht etwa ein „Grenzfall“ sei, sondern einer, dem man angesichts der aufgefundenen Dokumente aus der Vergangenheit vertrauen konnte. Die Auseinandersetzung mit dem, was Siebert vor vielen Jahren getan hatte, fand aber jedenfalls in Brandenburg nicht statt. Hier blieb der Mann ein „Grenzfall“ wie manch anderer. Er war einer, dessen Name genannt worden war im Abschlussbericht, der wie ein Gnadenakt klang und in dem der Name des SED-Chefs und Stasi-Zuträgers Vietze ganz fehlte.

Die folgende Schlacht um die Stasi-Kontakte des damaligen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe hat Siebert einfach ausgesessen. „Was sollte ich auch sagen nach dieser Geschichte“, sagt er heute. Er hat sich seine Gedanken gemacht, ansonsten aber die Koalition mit Stolpes SPD gestützt und sich von den Ministern seiner Partei, erfahrene Politiker aus dem Westen, erklären lassen, dass es eben weitergehen müsse. Siebert erinnert sich lebhaft an Gespräche mit Parteifreunden, an den Streit in den eigenen Reihen um Stolpe, an so manchen, der angewidert auf die Vorgänge in Brandenburg reagierte. Sich als „Grenzfall“ dabei wirklich einzumischen, schien Siebert unangebracht.

Mit dem Verschwinden der FDP aus dem Landtag geriet auch Rainer Siebert aus dem Blickfeld. Er verdiente sein Geld anderweitig, strampelte sich ehrenamtlich für die Liberalen ab, die ihm bald darauf als Landesschatzmeister die Parteikasse anvertrauten. Andere „Grenzfälle“ machten Karrieren. Vor allem die der Linken. Eine wurde sogar Vizepräsidentin des Landtags und ein anderer war bis zu seinem Tod einer der wichtigsten Parlamentarier der Linken. Und Heinz Vietze, natürlich weiter Abgeordneter und einer der wichtigsten Männer seiner Bundespartei hinter den Chefs Gregor Gysi und Lothar Byski, konnte zu seinem 60. Geburtstag fast das ganze Landeskabinett begrüßen. Er war inzwischen ein ehrenwerter Mann geworden, der letzte Erste Sekretär der SED des DDR-Bezirks Potsdam.

Als die FDP zusammen mit den Grünen 2009 wieder in den Landtag kamen und Rot-Rot zu regieren anfing, als plötzlich in den Reihen der Linkspartei ein Stasi-Spitzel nach dem anderen auffällig wurde, als dann in der FDP ein einstiger SED-Genosse Fraktionsvorsitzender wurde, war Siebert immer noch Schatzmeister – ein paar Monate noch. Journalisten, auch die PNN, recherchierten die früheren „Grenzfälle“ und fanden auch die Akte Siebert. Die Parteispitze mit dem einstigen Genossen reagierte hochnervös. War der Mann eine Belastung? War es nicht besser, sich von ihm jetzt zu trennen, fast zwanzig Jahre nach der ersten Überprüfung? Keiner fragte richtig nach, es reichte, dass Siebert damals in einer Reihe gestanden hatte mit Gerlinde Stobrawa, der plötzlich umstrittenen Landtagsvizepräsidentin von der Linkspartei, über die es tatsächlich neue Aktenfunde gab. Es reichte dieser seltsame, irgendwie tatsächlich unerklärliche Freispruch von damals, der nichts geklärt hatte. Siebert wurde zum Bauernopfer für Männer, die sowieso unter enormem Druck standen. Die sich dafür zu rechtfertigen hatten, dass die FDP ausgerechnet einen SED-Altkader in eine Enquetekommission zur Aufarbeitung der SED-Hinterlassenschaften geschickt hatte. Siebert trat auf einem turbulenten Parteitag zurück und viele Delegierte waren entsetzt über den Umgang mit ihm. Denen, die damals das Sagen hatten, allen voran der Landesvorsitzende Heinz Lanfermann, hat es am Ende allerdings wenig genützt. Ihr Ruf war nachhaltig ruiniert. Sie sind heute nicht mehr das, was sie in der FDP mal waren.

Wenn Rainer Siebert berichtet von all diesen Irrungen und Wirrungen, drängen sich viele Fragen auf. Wäre es 1991 nicht besser gewesen, gar nicht erst nachzufragen? Hätte man das Vergessen denen zumuten können, die gelitten hatten unter den Machenschaften der Staatssicherheit und ihrer Spitzel? Und wenn man dann einen wirklichen Neuanfang, einen ohne die Spitzel wollte, warum hat man ihn dann so organisiert? Wer hat profitiert von einem Verfahren, bei dem am Ende fast alle irgendwie rauskamen und doch nichts geklärt war? Bei dem am Ende alle in einem Topf landeten: die großen und die kleinen, nur eben nicht der ganz große.

Eine Antwort ist dabei sonnenklar: Heinz Vietze hat das alles gut getan und Rainer Siebert hat es geschadet. Und aus Brandenburg hat es ein Land der vielen Fragezeichen gemacht.

Nach dem Ende der SED-Herrschaft erfüllte sich Rainer Siebert einen lang gehegten Wunsch. Er fuhr einmal quer durch die USA. Eine Reise auch auf den Spuren seines Vaters, der in Texas als Kriegsgefangener gelebt hatte und seinem Sohn wieder und wieder erzählte von einem Land, das ihm mit unvorstellbarer Offenheit und Freundlichkeit begegnet war. Ein Land, so ganz anders als dieses Deutschland der ängstlichen Vorsicht. Wenn Siebert von seinen Reisen in die USA berichtet, leuchten die Augen. Da ist er einen langen Moment ganz raus aus dieser Geschichte mit der Stasi, dem zweifelhaften Freispruch, der für ihn eben keiner wurde, und den Parteifreunden, die einfach nicht richtig fragen konnten. Da sitzt dann im Jahr 2011 ein Brandenburger, der erst über einen Ozean fliegen musste, um endlich frei zu sein von all dem, was längst geklärt hätte sein können, wenn man nur rechtzeitig Ernst gemacht hätte mit dem Erinnern und Versöhnen. Und es bleibt die Frage, warum sich dieses Brandenburg nicht ein wenig Trauer darüber erlaubt, dass wirklich nicht alles gut gegangen ist bei dem Versuch, eine Diktatur loszuwerden? Und es bleibt die Frage, was das menschliche Maß ist, mit dem in Brandenburg beim Umgang mit der Vergangenheit und beim Bewerten von Biografien gemessen werden sollte.

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