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Einzelfall-Dokumentation: Hans-Jürgen Scharfenberg (Linke)

Der Wortlaut des Berichts der unabhängigen Expertenkommission zur Überprüfung der Abgeordneten des brandenburgischen Landtags zum Fall.

Stand:

Hans-Jürgen Scharfenberg wurde 1954 in Annaberg-Buchholz geboren, ging dort zur
Schule und legte 1972 das Abitur ab. Danach leistete er seinen Grundwehrdienst in
der NVA. 1974 bis 1978 studierte er Innenpolitik/Staatswissenschaft an der Akademie
für Staats- und Rechtswissenschaften (ASR) in Potsdam-Babelsberg und erhielt den
Abschluss als Diplomstaatswissenschaftler. Nach seinem Studium blieb er an der
ASR als wissenschaftlicher Assistent, später Oberassistent am Lehrstuhl Staatsrecht
kapitalistischer Staaten. 1982 promovierte er zum Dr. rer. pol. mit einer Arbeit zum
Thema „Die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung als wichtiger Bestandteil der
ideologischen Manipulierung der BRD-Bürger“. 1986 bis 1989 war er als
hauptamtlicher stellvertretender Parteisekretär an der ASR tätig. Er war von 1974 bis
1989 Mitglied der SED.
Im November 1976 fand eine erste Kontaktaufnahme mit Herrn Dr. Hans-Jürgen
Scharfenberg durch einen Offizier der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Potsdam
des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in dessen Wohnung im
Ledigenwohnheim der ASR statt. In der Folgezeit sind 4 weitere Gespräche mit
Offizieren des MfS dokumentiert. Am 14. Juni 1978 verpflichtete sich Herr Dr. Hans-
Jürgen Scharfenberg schriftlich zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS. Er
unterzeichnete die handschriftliche Verpflichtungserklärung mit seinem Klarnamen.
Seinen Vornamen „Hans-Jürgen“ wählte er sich als Decknamen. Er wurde als
Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung und Durchdringung des
Verantwortungsbereiches (IMS) geführt.
Bei der Abgabe dieser Verpflichtung habe für ihn eine Rolle gespielt, dass er an der
ASR bleiben wollte. Außerdem wollte er einmal Reisekader werden.
Als inoffizieller Mitarbeiter berichtete Herr Dr. Hans-Jürgen Scharfenberg an das MfS
über Kollegen an der ASR, ihre politische Zuverlässigkeit, ihre familiären
Verhältnisse, ihren Charakter und ihre wissenschaftlichen Leistungen. Die
Gespräche fanden zum Teil in einer konspirativen Wohnung statt. Ab Februar 1982
wurde er vom Führungs-IM (FIM) „Peter Seiler“ geführt.
Beispielhaft berichtete Herr Dr. Hans-Jürgen Scharfenberg seinem Führungs-IM
ausweislich einer MfS-Unterlage am 17. August 1984 über einen Kollegen
Folgendes: „Er hängt ‚den Mantel nach dem Wind’, tritt in Parteiversammlungen und
bei anderen Gelegenheiten teilweise als ‚strammer Genosse auf, als Kämpfer für
unsere Sache’, ist aber bei öffentlichen Veranstaltungen sehr vorsichtig geworden,
insbesondere, was kritische Positionen betrifft.“
Herr Dr. Hans-Jürgen Scharfenberg berichtete auch über Menschen aus seinem
Wohngebiet, beispielsweise am 17. März 1982: „...äußerte [Name geschwärzt] in
großer Heftigkeit und Erregung folgende Gedanken: in der DDR wird es immer
schlechter, es gibt bald nichts mehr zu kaufen, wenn das so weiter geht, haben wir
bald Zustände wie in Polen, zur nächsten Wahl würde er nicht gehen. Der
Schwiegervater und seine Tochter hatten sich an der letzten Volkswahl nicht
beteiligt.“
Herr Dr. Hans-Jürgen Scharfenberg hat gegenüber der Kommission geäußert, er
habe die Gespräche mit dem MfS aus Überzeugung geführt und die
Zusammenarbeit als seine Pflicht angesehen, die er zwar nicht mit großer Freude
erfüllte, aber aus Identifikation mit dem Staat. Er sei davon ausgegangen, dass das
MfS als Sicherheitsapparat integrativer Bestandteil der ASR gewesen sei.
Herr Dr. Hans-Jürgen Scharfenberg lieferte über einen langen Zeitraum hinweg eine
bemerkenswert hohe Anzahl von Berichten an das MfS. Insgesamt liegen beim
Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) 55 Treffberichte der
Führungsoffiziere, 7 handschriftliche Berichte des IMS und ca. 100 mündliche, vom
Führungsoffizier aufgezeichnete Informationen vor, in welchen IM „Hans-Jürgen“ als
Quelle genannt wird.
Insgesamt erhielt Herr Dr. Hans-Jürgen Scharfenberg 5 Geldprämien /
Sachgeschenke im Wert von insgesamt 221,50 Mark vom MfS.
Herr Dr. Hans-Jürgen Scharfenberg war aber nicht bereit, sich gezielt Personen zu
nähern, um an Informationen für das MfS zu gelangen. Dies wird auch deutlich in
einer Gesamteinschätzung der Berichterstattung von Herrn Dr. Hans-Jürgen
Scharfenberg durch den Führungs-IM vom 20. September 1982. Darin äußert dieser
seine Zufriedenheit, aber auch Kritik an der Zusammenarbeit mit dem IM. Die
Übernahme von langfristigen, personengebundenen Aufträgen durch IM „Hans
Jürgen“ sei nicht zufriedenstellend. Wörtlich heißt es: „Den Auftrag der langfristigen
Entwicklung von Kontakten zu [Name geschwärzt] und Aufklärung des Genannten
hat er zwar übernommen, aber nach einer gewissen Zeit stagnierte er bei diesem
Auftrag, obwohl günstige Bedingungen zur Herstellung von Beziehungen zu [Name
geschwärzt] gegeben sind". Auch im Abschlussbericht des MfS vom 20. August 1986
wird noch einmal bestätigt: “Eine direkte Arbeit an Personen konnte mit dem IMS
nicht erreicht werden. Hier gab es bei ihm zu viele Vorbehalte, die ursächlich im
Charakterbild bei ihm zu suchen sind.“
In der Anhörung durch die Kommission führte Herr Dr. Hans-Jürgen Scharfenberg
aus, dass er sich bewusst sei, im Rahmen der Gespräche Informationen über
Personen weiter gegeben zu haben, die möglicherweise den Personen geschadet
hätten. Die Kontaktperson vom MfS sei ihm vertraut gewesen und daher habe er
eine sachliche Bewertung seiner Äußerungen vorausgesetzt. Die Erfahrung jetzt sei
eine andere. Er räumte die Gespräche mit dem MfS ein, er habe jedoch niemandem
schaden wollen. Das gehöre zu seinem Selbstverständnis. Auf die Nachfrage, ob ihm
bewusst gewesen sei, dass er mit der Erforschung der personengebundenen
Informationen und ihrer Weitergabe an das MfS nachrichtendienstlich tätig war,
antwortete Herr Dr. Hans-Jürgen Scharfenberg, das wäre durchaus sein
Selbstverständnis gewesen.
Seine IM-Tätigkeit endete mit der Amtsübernahme als hauptamtlicher
stellvertretender Parteisekretär der ASR im Jahr 1985. Das MfS hatte ihm mitgeteilt,
dass er wegen dieser Parteifunktion als inoffizieller Mitarbeiter ausscheiden müsse.
Der Automatismus, dass durch den Funktionswechsel die IM-Tätigkeit beendet
wurde, sei ihm nicht bewusst gewesen.
Zum Umgang mit seiner Vergangenheit nach 1990 führte Herr Dr. Hans-Jürgen
Scharfenberg aus: Er habe sich für den Verbleib in der PDS entschieden und 1990
für die Stadtverordnetenversammlung Potsdam (SVV) kandidiert. Sein Engagement
für die Stadt als Mitglied der SVV sei für ihn auch eine Art der Wiedergutmachung
gewesen. 1995 habe er sich vor der SVV Potsdam öffentlich zu seiner Vergangenheit
geäußert, davor nicht, weil es ihm schwer gefallen sei, sich der Auseinandersetzung
zu stellen. Erst 1995 im Zusammenhang mit seiner Überprüfung sei es zur
öffentlichen Diskussion gekommen. Die Mitglieder der damaligen
Überprüfungskommission seien mit seiner inoffiziellen Tätigkeit für das MfS sachlich
umgegangen. Heute sehe er seine Kooperation mit der Staatssicherheit als einen
Fehler an.
Auf die Frage, was denn schwerer auf ihm laste, der IM oder der Parteisekretär,
sagte Herr Dr. Hans-Jürgen Scharfenberg, seine inoffizielle Tätigkeit belaste ihn
mehr, da er sich als Parteisekretär immer der Diskussion gestellt habe und er auch in
der Lage gewesen sei, Fehler zuzugeben.

Zusammenfassung:
Herr Dr. Hans-Jürgen Scharfenberg war aufgrund einer handschriftlichen
Verpflichtung von 1978 bis 1985 Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung und
Durchdringung des Verantwortungsbereiches (IMS) des Ministeriums für
Staatssicherheit (MfS). Wegen der Amtsübernahme als hauptamtlicher
stellvertretender Parteisekretär schied er aus der inoffiziellen MfS-Mitarbeit aus.
Angeworben wurde er als 24-jähriger Student der Akademie für Staats- und
Rechtswissenschaften (ASR). Beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen
(BStU) liegen 55 Treffberichte der Führungsoffiziere, 7 handschriftliche Berichte des
IMS und ca. 100 mündliche, vom Führungsoffizier bzw. Führungs-IM aufgezeichnete
Informationen vor, in denen der IM „Hans-Jürgen“ als „Quelle“ ausgewiesen ist. Herr
Dr. Hans-Jürgen Scharfenberg berichtete über Kollegen an der ASR, (ihre politische
Zuverlässigkeit, familiären Verhältnisse, Charakter und wissenschaftlichen
Leistungen) sowie über Personen aus seinem Wohngebiet, Wahlverhalten und
Stimmungen. Er arbeitete für das MfS aus politischer Überzeugung und
Pflichtbewusstsein. Er berichtete, was er wusste, wehrte aber den Auftrag gezielter
Verbindungsaufnahme und Bespitzelung ab. Darüber zeigte sich das MfS
unzufrieden.
Seine IM-Tätigkeit machte er allerdings erst zu dem Zeitpunkt öffentlich, als sie
aufgrund der Überprüfung der Stadtverordnetenversammlung Potsdam nicht mehr zu
verschweigen war.

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