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Brandenburg: „Ich habe noch Lust auf’s Leben“
Ingeborg Rapoport aus Berlin erhielt am Dienstag ihre Doktorurkunde. Mit 102 Jahren ist sie die älteste Promovendin der Welt
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Berlin - Der orangefarbene Bezug des Sessels, in dem Ingeborg Rapoport Platz genommen hat, und ihr fliederfarbenes Poloshirt gehören zu den wenigen Farbtupfern im Raum. Das braun-grüne Sofa aus den 1950er Jahren, die Holzregale und die Bücher darin lassen ihr Wohnzimmer ansonsten eher wie ein DDR-Museum erscheinen. Auch der graue Linoleumboden ist noch da – und verleiht dem Raum die für die DDR so typische Duftnote.
Mitte Mai saß Ingeborg Rapoport hier, in ihrem Haus in Niederschönhausen, vor einer Prüfungskommission der Hamburger Universität, um ihre Doktorarbeit zu verteidigen. Ihre Doktorarbeit aus dem Jahr 1938! Im Alter von 102 Jahren! „Ich habe nur Knabbereien hingestellt, sonst aber nichts angeboten“, sagt Rapoport und streicht ihr kurzes weißes Haar zurück. „Ich wollte ja niemanden bestechen.“ Eineinhalb Stunden habe die Prüfung gedauert, und außer der Tatsache, dass die Kommission zu ihr nach Berlin gereist sei, habe es keine Zugeständnisse gegeben. „Das war keine pro-forma-Veranstaltung.“ Der Dekan der Hamburger Medizinischen Fakultät war begeistert: „Nicht nur unter Berücksichtigung ihres hohen Alters war sie einfach brillant. Wir waren beeindruckt von ihrer intellektuellen Wachheit und sprachlos über ihr Fachwissen – auch im Bereich moderner Medizin.“ Am Dienstag erhielt Rapoport in Hamburg ihre Promotionsurkunde mit der Gesamtnote „magna cum laude“, der zweitbesten Note.
Da Ingeborg Rapoports Mutter Jüdin war, wurde die junge Wissenschaftlerin 1938 in ihrer damaligen Heimatstadt Hamburg nicht zur mündlichen Promotionsprüfung zugelassen, nachdem sie zuvor ihre medizinische Doktorarbeit mit Forschungen zum Thema Diphtherie vorgelegt hatte. Rapoport verließ Deutschland, wurde in den USA doch noch Ärztin und ging 1952 in die DDR, wo sie eine der führenden Wissenschaftlerinnen im Bereich Kinderheilkunde wurde. Die alte Doktorarbeit spielte für sie längst keine Rolle mehr, doch als sie vor zwei Jahren den Dekan der Hamburger Uni kennenlernte, beschloss der, das Promotionsverfahren neu aufzurollen, um das frühere Unrecht wiedergutzumachen.
Und nun ist Ingeborg Rapoport die älteste Promovendin der Welt und berühmt. Das Wall Street Journal berichtete über sie, das Time Magazine, ein Reporter der spanischen Zeitung „El Pais“ stattete ihr einen Besuch in Niederschönhausen ab. Dabei war sie auch vorher keine Unbekannte. Über die „drei Leben“ der Frau, die 1912 als Tochter eines Kaufmanns in der deutschen Kolonie Kamerun zur Welt kam, wurde schon eine preisgekrönte Fernsehdokumentation gedreht. In der DDR war Ingeborg Rapoport sogar eine Art Institution, denn sie baute an der Charité die Abteilung für Säuglingsheilkunde auf. Dank ihrer Arbeit lag die Säuglingssterblichkeit in der DDR zeitweise unter der Westdeutschlands. „Darauf waren wir sehr stolz“, sagt sie heute.
Ingeborg Rapoport und ihr Mann, der Biochemiker Samuel Mitja Rapoport, den sie in den USA kennenlernte, waren schon im Exil bekennende Kommunisten. Um der Verfolgung in der McCarthy-Ära zu entgehen, kehrten sie Anfang der 1950er Jahre nach Europa zurück, zunächst nach Wien, schließlich in die DDR. Einige Wochen wohnte die Familie dort wie viele Rückkehrer in den Überresten des Hotel Adlon. „Wir lebten sehr provisorisch, hatten nicht einmal warmes Wasser“, erinnert sich Ingeborg Rapoport. Doch dann bekam die Familie mit den vier Kindern eines der letzten Häuser in einer sogenannten Intelligenzsiedlung in Niederschönhausen zugewiesen. Die DDR hatte zu dieser Zeit Einfamilienhäuser für die „schaffende Intelligenz“ bauen lassen, um Wissenschaftler und Künstler im Land zu halten.
Das Haus hat sich seither nur wenig verändert. In der Küche hängen noch die einfachen alten Holzschränke mit den Schiebetüren an der Wand, der Garderobenspiegel wird eingerahmt von kleinteiligen schwarzen und grünen Fliesen. Ingeborg Rapoport wohnt inzwischen allein in der Kuckhoffstraße. Ihr Mann starb vor elf Jahren, die Kinder, geboren in den Jahren 1947, 1948, 1949 und 1950, sind selbst schon im fortgeschrittenen Alter. Einer ihrer Söhne, Biochemiker wie sein Vater, ist heute Professor in Harvard. „Er wurde hier nach der Wende beruflich heruntergestuft, weil er in der DDR ehrenamtlicher Parteisekretär war“, erklärt Ingeborg Rapoport mit ein wenig Bitterkeit in der Stimme. Dass auch die zweite Generation ihrer Familien „zur Emigration gezwungen wurde“, wie sie sagt, sei schmerzlich.
Ingeborg Rapoport steht zur DDR. „Die DDR war kein Unrechtsstaat“, sagt sie. „Aber es ist nicht zu leugnen, dass die DDR auch Fehler gemacht hat.“ Beispielsweise sei es falsch gewesen, Kinder bürgerlicher Eltern zu benachteiligen. „Dagegen muss man aber die goldenen Seiten der DDR aufwiegen: das Bildungssystem, die Gesundheits- und Sozialpolitik.“ Mit dem wiedervereinigten Deutschland konnte sich Ingeborg Rapoport nie wirklich anfreunden. Abgekapselt hat sie sich aber nicht. „Ich habe noch Lust auf's Leben.“ Politik interessiert sie immer noch. Und sie geht wählen. „Sonst könnte ich mir ja nicht das Recht herausnehmen, Kritik zu üben.“ Ulrike Scheffer
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