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VERNACHLÄSSIGT: In der Not schotten sich Kinder ab und schützen die Eltern Von der Mutter verlassen – vier Kinder allein zu Hause

Zwölfjähriger Junge kümmerte sich in Berlin um seine drei kleineren Geschwister. Sie taten alles, um nicht aufzufallen. Ihr Schicksal ist offen

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Seit Sommer vergangenen Jahres lebten die vier Kinder ohne Aufsicht in einer Wohnung – und keiner meldete es. Ein Einzelfall ist das nicht. Doch Experten glauben: Oft ließe sich das verhindern. Allerdings müssen dabei auch Widerstände überwunden werden: Denn Eltern und Kinder bitten selten um Hilfe, und sie schotten sich ab und verhindern Besuche von Ämtern oder Freunden in der eigenen Wohnung. Ihre Kinder reagieren auch nicht mit Kritik auf die Notlage ihrer Eltern, sondern sind ihnen gegenüber „loyal, um das innere Bild guter Eltern aufrechtzuerhalten“, so der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Vivantes-Klinikum Berlin, Oliver Bilke. Dafür zahlen viele mit körperlichen Mangelerscheinungen und seelischen Schäden.

„Am Ende unserer Ermittlungen stellen wir meistens fest: Bei der Kita, in der Schule, beim Kinderarzt und Verwandten, fast überall hatte man etwas geahnt oder bemerkt“, sagt Gina Graichen, zuständige Kommissariatsleiterin für Fälle von „Verletzung der Fürsorge oder Erziehungspflicht“ in Berlin. Doch gemeldet würden diese Beobachtungen oft erst, „wenn alles zu spät ist“. In dem nun bekannt gewordenen Fall hätten nach Überzeugung der Kripo auch Nachbarn alarmiert sein müssen: Aus der Wohnung strömten starke Gerüche und die Insekten, die sich in den verschmutzten Räumen stark vermehrten, drangen in Nachbarwohnungen. Beim Kindernotdienst, dessen Telefone Tag und Nacht geschaltet sind, teilt man diese Einschätzung. Zumal die „Risikofaktoren“ bekannt sind, die statistisch häufiger zu einer Verletzung der Fürsorgepflicht führen können: Alkohol- oder Drogensucht, materielle Notlagen, psychische Krisen, ein isoliertes Leben, Erwerbslosigkeit und Gewalt in der Partnerschaft. „In diesen Fällen müssten die Mitarbeiter der Jugendämter Betroffene in ihren Haushalten besuchen, doch diese Zeit haben sie meistens nicht“, sagt Beate Köhn vom Kindernotdienst Berlin. Dass die Verwahrlosung in Haushalten ernst zu nehmen ist, zeigt die Verdoppelung der bekannt gewordenen Vernachlässigungsfälle von 255 im Jahr 2004 auf 582 in 2006. Deshalb beschloss der Berliner Senat im Februar ein neues Netzwerk zur frühzeitigen Prävention einzurichten: Jugendämter, Schulen, Gerichte, Polizei und Ärzte sollen enger zusammenarbeiten, „damit künftig kein Signal einer möglichen Verwahrlosung mehr übersehen wird“, so Bärbel Schubert, Sprecherin der Jugendverwaltung.ball

Im Briefkasten stapeln sich Briefe an die Mutter, auch einer vom Jugendamt ist darunter. Der Hausflur ist ordentlich, wenn auch etwas heruntergekommen. Die Wohnungstür der Familie im dritten Stock im Vorderhaus fällt auf, bunte Abdrücke von Kinderhänden sind über die Tür verteilt, eine Plastiksonnenblume steckt neben der Tür und ein Aufkleber „Alles wird gut“. Nichts weist darauf hin, dass hinter dieser Tür vier Kinder im Alter von 8, 9, 11 und 12 Jahren fast ein ganzes Jahr lang ohne Mutter lebten – in einer völlig vernachlässigten Wohnung.

Der Flurnachbar, ein junger Mann, erinnert sich , dass es oft Geschrei gab. Es sei wohl auch mal jemand vom Jugendamt dagewesen. Er kannte die Familie aber nicht näher und habe die Kinder nur selten alleine gesehen. In der Wohnung sei es ruhig gewesen, die Kinder hätten nicht um Hilfe gebeten. Er sei schockiert über das, was jetzt bekannt wurde. Auch ein Nachbar aus dem Seitenflügel kann nicht glauben, dass die Kinder alleine gelebt haben. Doch die Mutter war zu ihrem Freund gezogen.

Selbst für hartgesottene Ermittler ist dies „ein außergewöhnlicher Fall“ von Kindesvernachlässigung, sagte die zuständige Kommissariatsleiterin beim Landeskriminalamt Berlin, Gina Graichen. Nicht nur der „verheerende “ Zustand sei bestürzend, sondern auch die Tatsache, dass die vier Kinder so lange Zeit völlig auf sich alleine gestellt gewesen seien.

Als „ekelerregend“ bezeichneten Ermittler den Zustand der Vierzimmerwohnung. Meterlange Spinnweben zogen sich durch alle Räume. Im Kühlschrank befanden sich laut Polizei „eine undefinierbare, verfaulte Masse sowie lebende und tote Fliegen“, hieß es. Das schmutzige Geschirr stapelte sich in der Küche, die Toilette war mit Kot bedeckt. Auf dem Fußboden in der Wohnung befanden sich Müll, Essensreste und schmutzige Wäsche. Eines der Zimmer konnte kaum geöffnet werden, da sich hinter der Tür meterhoch Müll und Unrat stapelte. Als die Polizisten in die Wohnung kamen, war die Mutter, eine 46 Jahre alte, arbeitslose Deutsche, nicht zuhause. Gegen sie wird wegen Verletzung der Fürsorgepflicht ermittelt.

„Es sind noch Kinder. Da ist es schon schlimm, wenn die Mutter nur kurze Zeit weg ist“, sagte Graichen. Doch offenbar haben die vier Geschwister alles dafür getan, um nach außen hin nicht aufzufallen. Wahrscheinlich auch, um ihre Mutter zu schützen. „Die Mutter ist das einzige, was sie haben“, sagt die Hauptkommissarin. Der Vater soll schon lange nicht mehr in der Familie leben. Für die Ermittler sei es in erster Linie wichtig, dass die Kinder aus der verwahrlosten Wohnung befreit wurden und in Obhut des Jugendamtes sind. Gegen die Mutter wird ermittelt. „Dazu werden wir Nachbarn, Lehrer und andere Zeugen befragen“, sagte Graichen.

Offenbar wären die katastrophalen Verhältnisse gar nicht aufgedeckt worden, wenn der zwölfjährige Sohn bei einem Termin mit dem Jugendamt am Donnerstag nicht über den Zustand in der Vierzimmerwohnung berichtet hätte. Wie die Leiterin des Jugendamtes Pankow, Judith Pfennig sagte, habe es am Donnerstagvormittag einen gemeinsamen Termin mit der Mutter gegeben. Dieser sollte auf Wunsch der Mutter „an einem neutralen Ort“ stattfinden, sagte Pfennig. Deswegen seien die Sozialarbeiter in die Grundschule der Kinder gekommen. Doch die Mutter erschien nicht zum verabredeten Termin. „Der Junge hat dann immer mehr erzählt. Dann war klar, dass wir mit Hilfe der Polizei in die Wohnung müssen“, sagte Pfennig.

Doch warum sind die Sozialarbeiter nicht schon früher auf die Verwahrlosung aufmerksam geworden, obwohl die Familie schon seit 1998 betreut wurde? „Wenn die Frau uns keinen Zutritt zur Wohnung gewährt, können wir nichts machen“, sagte Pfennig. Außer, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. „Und dafür hatten wir bislang keine Anhaltspunkte“, sagte die Amtsleiterin. Die Kinder hätten „hochkompetent“ ein eigenes „Familiensystem aufgebaut“, um nach außen hin nicht aufzufallen.

Alle vier Geschwister hätten sich für die Mutter verantwortlich gefühlt. Die Verwahrlosung sei den Kindern äußerlich nicht anzusehen gewesen. „Die Kinder fühlen sich jetzt richtig schlecht, weil sie wissen, dass ihre Mutter nun Probleme bekommt“, sagte Pfennig.

Der zwölfjährige Sohn habe sich darum gekümmert, dass alle regelmäßig zur Schule gingen. „Die Kinder waren gut ernährt, gingen zur Schule und trugen ordentliche Kleidung“, sagte Pfennig.

Eine Kommissarin des zuständigen Dezernats beim Landeskriminalamtes berichtete habe den Kindern „in regelmäßigen Abständen Geld hinterlassen“. Nach Informationen dieser Zeitung hat die Mutter bis vor kurzem von Arbeitslosengeld II gelebt, doch das sei ihr wegen mangelnder Kooperation gestrichen worden. Wovon sie anschließend gelebt hat, ist unklar.

Derzeit versuchten die Jugendamtsmitarbeiter alles, um die Mutter zu erreichen, sagte Pfennig. Bis gestern Nachmittag war dem Jugendamt nicht bekannt, wo sich die Mutter aufhält. Sobald sie ausfindig gemacht worden ist, werde geprüft, was künftig mit den Kindern passiert. „Wir können nur hoffen, dass die Mutter kooperiert, damit es zu einer Familienzusammenführung kommt“, sagte Pfennig. Dies sei im Sinne des Jugendamtes. Sollte dies nicht der Fall sein, werde ein Sorgerechtsentzug beantragt. Darüber entscheidet dann ein Familiengericht – auch darüber, ob die Kinder auch ohne Mutter zusammenbleiben dürfen. Derzeit gebe es jedoch Anzeichen dafür, dass die Mutter zu einer Zusammenführung nicht bereit ist.

„In den Zuständen, wie sie jetzt herrschen, können die Kinder nicht leben“, so Jugendamtsleiterin Pfennig.

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