Brandenburg: Justiz rügt rigide Abschiebepraxis Brandenburg: Hafturteil gegen Tschetschenen aufgehoben. Flüchtlingsrat beklagt Verfahrenschaos
Oberhavel - Das Landgericht Neuruppin hat die rigide Abschiebepraxis der Ausländerbehörde des Landkreises Oberhavel kritisiert, der seit Jahren für seine harte Linie gegenüber Asylbewerbern auch in der Kritik der Landesregierung steht. Im konkreten Fall geht es um ein Ehepaar aus Tschetschenien, das im November 2013 bei einem Vorsprachetermin in der Behörde ohne Vorankündigung festgenommen wurde, über Nacht gefesselt und getrennt in Einzelzellen verbracht und dann in einer Hauruck-Aktion nach Polen abgeschoben wurde.
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Oberhavel - Das Landgericht Neuruppin hat die rigide Abschiebepraxis der Ausländerbehörde des Landkreises Oberhavel kritisiert, der seit Jahren für seine harte Linie gegenüber Asylbewerbern auch in der Kritik der Landesregierung steht. Im konkreten Fall geht es um ein Ehepaar aus Tschetschenien, das im November 2013 bei einem Vorsprachetermin in der Behörde ohne Vorankündigung festgenommen wurde, über Nacht gefesselt und getrennt in Einzelzellen verbracht und dann in einer Hauruck-Aktion nach Polen abgeschoben wurde.
Dass der schwer traumatisierte Tschetschene, der zuvor in den Oberhavel-Kliniken Oranienburg psychiatrisch behandelt wurde, nach Folter in seiner Heimat schwer traumatisiert und suizidgefährdet war, interessierte damals die Ausländerbehörde, aber auch die Polizei und Justiz – konkret das Amtsgericht Oranienburg – nicht. Kurzerhand wurde seine Reisefähigkeit von einem Amtsarzt festgestellt – obwohl alle ärtzlichen Gutachten dagegen sprachen und alle von den Problemen wussten.
Das Landgericht stellte fest, dass das Ehepaar durch das Amtsgericht Oranienburg und durch die Haft in seinen Rechten verletzt wurde. Bereits der Haftantrag der Ausländerbehörde war nach Ansicht des Landgerichts ohne jeden Bezug zu dem Einzelfall gestellt worden. Zudem habe er nicht mal den gesetzlichen Vorgaben entsprochen und war mit Leerformeln und Textbausteinen gespickt. Schließlich hatte das Amtsgericht den fehlerhaften Antrag bestätigt und rechtswidrig Haft angeordnet, stellte das Landgericht fest. Beide – Behörde und Amtsgericht – haben nach Ansicht des Landgerichts die hohen Hürden, die für eine Haftanordnung gelten, missachtet. Die Behörde hat zudem nicht genau ermittelt und war zu Unrecht davon ausgegangen, dass sich der Tschetschene bereits zuvor einer Abschiebung entziehen wollte – obwohl er im Krankenhaus lag.
Der Vorgang steht exemplarisch für die Überforderung der Behörden im Umgang mit Asylbewerbern im Einzelfall, aber auch mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen. Die Kommunen kommen mit dem Bau von Unterkünften kaum hinterher, die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber des Landes Brandenburg, kurz ZAST, arbeitet am Limit, oder wie es aus dem Innenministerium heißt: „Wir schrammen an der Kapazitätsgrenze entlang.“ Auch die Kommunen stellt die wachsende Zahl an Asylbewerbern vor große Herausforderungen, Unterkünfte bereit zu stellen. Man könne kaum so schnell nachbauen, wie die Zahlen steigen, heißt es aus der Landesregierung.
In Oberhavel schießt die Ausländerbehörde offenbar mit ihrer harten Abschiebepraxis über das Ziel hinaus, um wieder rasch Platz zu schaffen in den Flüchtlingsunterkünften. Im brandenburgischen Innenministerium wird betont, dass das Landgericht Neuruppin vor allem das Amtsgericht Neuruppin kritisiert habe und dies auch keine Sache des Ministeriums sei.
Simone Tetzlaff vom Flüchtlingsrat Brandenburg dagegen beklagt, dass auch die Landesregierung ihren Anteil daran hat. Vor allem, weil die Vorgaben des Innenministeriums den Ausländerbehörden der Kreise zu viel Spielraum lassen. Der Bund hatte bereits 2013 zur „Verfahrensoptimierung im Hinblick auf den starken Anstieg der Asylbewerberzahlen“ Maßnahmen „zur Verkürzung der Verfahrens- und Aufenthaltsdauer“ erarbeitet. Brandenburgs Innenministerium übernahm die Vorgaben in einem Erlass. Damit aber seien – wie in Brandenburg schon geschehen – sogar Auswüchse wie die Trennung ganzer Familien und deren einzelne Abschiebung möglich. Auch beim Umgang mit dem Gesundheitszustand von Flüchtlingen lässt der Erlass den Behörden nach Ansicht des Flüchtlingsrates zu viel Spielraum. Die Nichtregierungsorganisation spricht von Verfahrenschaos mit der Folge, dass Flüchtlingen mit „unverhältnismäßiger Härte in Haft genommen“ und ohne Ankündigung abgeschoben werden. Grund für den Erlass war auch, dass zu viele Tschetschenen bei angekündigter Abschiebung untergetaucht waren. 2013 konnten nur 20 bis 30 Prozent der in Brandenburg über Drittländer eingereisten Tschetschenen wieder abgeschoben werden.
Nach Ansicht des Flüchtlingsrates müsse wegen der Zustände in Oberhavel auch das Justizministerium tätig werden – weil das Amtsgericht Oranienburg offenbar seinen Prüfungsauftrag nicht wahrnehme und fahrlässige Anträge der Ausländerbehörde durchwinke, sagte Tetzlaff. Dass sich durch den Beschluss des Landgerichts Neuruppin etwas ändert, glaubt die kirchliche Flüchtlingsberaterin nicht. Beschlüsse des Amtsgerichts Oranienburg in Asyl- und Abschiebeverfahren würden häufiger vom Landgericht aufgehoben. In der Regel passiert nichts. Es handle sich um eine fatale Verbindung von Justiz und Behörden in Oberhavel. Und beide könnten sich auf unklare Vorgaben des Innenministeriums berufen.
Auch Familie I. hilft der Beschluss des Landgerichts nicht mehr. Nach drei Monaten Abschiebehaft in Polen wurden sie nach Russland abgeschoben. Tetzlaff hat gelegentlich Kontakt mit dem Paar. Inzwischen sei es in der Region um Tschetschenien, lebe nicht sicher und müsse ständig den Ort wechseln.
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